physiopraxis 2024; 22(06): 30-33
DOI: 10.1055/a-2298-9800
Therapie

Wo der Schwindel herkommt – Hilfestellung für eine schnelle Einordnung

Andreas Zwergal
,
Silvy Kellerer
,
Alexander Dassel
 

Akuter Schwindel kann benigne Ursachen haben, aber auch durch einen Schlaganfall ausgelöst werden. Wichtig ist es daher, mithilfe eines standardisierten diagnostischen Vorgehens zeitnah gefährliche Ursachen zu identifizieren.


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© SickleMoon/stock.adobe.com

Die wenigsten Therapeutinnen und Therapeuten werden in ihrer Ausbildung oder im Studium adäquat über mögliche Schwindelursachen und deren Behandlung unterrichtet. Selten erhalten sie konkrete Anweisungen zur zielführenden Differenzialdiagnostik und zum Ausschluss zentraler Ursachen. Dabei kann man durchaus häufig auf Patient*innen mit akutem Schwindel treffen. Hinsichtlich des therapeutischen Vorgehens ist es erforderlich, bei akutem Schwindel ein zerebrovaskuläres Ereignis sicher ausschließen zu können. Denn Schwindel ist ein wichtiges, zuweilen auch das einzige Symptom eines Schlaganfalls.

Dieser Artikel vermittelt praktische Fähigkeiten zur differenzialdiagnostischen Einordnung von akuten Schwindelursachen und illustriert deren Anwendung an zwei Fallbeispielen.

Fallbeispiele

  • Ein 62-jähriger Patient stellt sich nachmittags erstmalig in der Therapiepraxis vor. Er berichtet von plötzlichem nichtlageabhängigen Schwindel und Gleichgewichtsstörungen seit dem morgendlichen Erwachen. Er sei direkt zum Hausarzt gegangen, der ihm eine Heilmittelverordnung ausgestellt habe. Der Patient erzählt, dass sich die Umgebung um ihn herum dreht und er okzipital betonte Kopfschmerzen habe, die er so ähnlich bereits kennt. Tabletten hätten jedoch nicht wie sonst geholfen. Die anderen Symptome seien das erste Mal aufgetreten. Sein Vater sei in der Praxis bekannt, da er unter wiederkehrenden Schwindelattacken leide, die durch Physiotherapie gelindert würden. Nun möchte der Patient ebenfalls entsprechend behandelt werden.

  • In der orthopädischen Reha-Klinik erhält eine 66-Jährige standardmäßig therapeutische Behandlungen. Eines Tages gibt sie an, dass sie seit mehreren Stunden unter einem langsam progredienten Schwindel mit Übelkeit und Erbrechen leide. Weitere Begleitsymptome bestünden nicht. Der Schwindel verstärkt sich durch Augen- und Kopfbewegungen. Gehen falle ihr sehr schwer. Der Stationsarzt hat ein Antivertiginosum angeordnet, wodurch sich die Intensität etwas verringert habe. Blutdruck und Blutzuckerwerte seien normal. Am Folgetag sollen ein HNO- und ein neurologisches Konsil durchgeführt werden.


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AVS und AIS

Über 20 Prozent aller Menschen leiden im Laufe des Lebens mindestens einmal unter Schwindelsymptomen [1]. Schwindel, Gleichgewichts- und Gangstörungen gehören dabei zu den häufigsten Symptomen in der Akutversorgung [2]. Tritt Schwindel plötzlich mit Übelkeit/Erbrechen, einem Nystagmus und einer Gangunsicherheit auf, spricht man von einem akuten vestibulären Syndrom (AVS) [3]. Steht eine Stand- und Gangataxie ohne Nystagmus im Vordergrund, wird die Symptomatik als akutes Imbalance-Syndrom (AIS) bezeichnet. Meist ist ein akuter Schwindel auf eine benigne Ursache zurückzuführen: Der häufigste Grund ist ein gutartiger Lagerungsschwindel (BPPV). Es können jedoch auch eine orthostatische Hypotonie, ein einseitiger Gleichgewichtsausfall, eine vestibuläre Migräne oder ein Morbus Menière Ursachen der Symptome sein. In 4–15 % der Fälle liegt der Symptomatik ein akuter Schlaganfall zugrunde [4], [5], bei rund 11 % aller Betroffenen kann akuter Schwindel das einzige Symptom einer zentralen Läsion ischämischer Genese sein [6]. Meist ist der Hirnstamm oder das Kleinhirn betroffen [4], [7], [8].

Bei Verdacht auf Schlaganfall oder Hirnblutung (TIA) muss der Betroffene so schnell wie möglich als Notfall in die Notaufnahme gelangen. Ist die Ursache eine akute unilaterale Vestibulopathie (z. B. Neuritis vestibularis), sollte rasch eine fachärztliche Versorgung erfolgen. Bei einem BPPV lassen sich die Schwindelsymptome auch kausal mittels Befreiungsmanövern in der Physiotherapie lösen.

Die Differenzierung erscheint zunächst kompliziert, da sich die klinischen Symptome peripherer und zentraler Ursachen stark ähneln können, sodass Fehldiagnosen im Rahmen einer Akutversorgung recht häufig sind [9]. Wichtig zu betonen ist, dass die Frage nach der Schwindelqualität (Dreh- vs. Schwankschwindel) und der Schwindelintensität (milde vs. starke Symptomatik) keine Unterscheidung zwischen peripheren und zentralen Ursachen ermöglicht. Entgegen der weitverbreiteten Meinung ist dies diagnostisch nicht relevant. Die Fragen nach zeitlicher Dynamik (akuter Beginn), auslösendem Trigger, Begleitsymptomen und kardiovaskulärem Risiko sind hingegen bedeutend. Es stehen verschiedene diagnostische Indextests im Rahmen von Testalgorithmen zur Verfügung, mit denen sich das Risiko für eine zentrale Schwindelursache abschätzen lässt und eine gute Versorgungsqualität erreicht weden kann [10]–[13].


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Gängige Index-Scores

Der ABCD2-Score setzt sich aus den Kriterien Alter, Blutdruck, Clinical features (klinische Zeichen), Dauer der Symptome und Diabetes zusammen ([TAB]., S. 30). Mit ihm lässt sich ermitteln, wie hoch das Risiko ist, in den kommenden Tagen eine TIA oder einen Schlaganfall zu erleiden: bei 6–7 Punkten hoch, bei 4–5 Punkten mäßig und bei 0–3 Punkten gering [14]. Achtung: Auch wenn aufgrund des HINTS-Untersuchungsgangs der Verdacht auf eine periphere Ursache besteht (KIT positiv, Spontannystagmus vorhanden, jedoch keine vertikale Deviation), kann trotzdem eine zentrale Ursache vorliegen, worauf Werte ≥ 3 im ABCD2-Score hindeuten würden.

TAB. 1

ABCD2-Score zur Ermittlung des Schlaganfallrisikos

Faktor

Kriterium

Punkte

A (Alter)

< 60 Jahre

≥ 60 Jahre

0

1

B (Blutdruck)

< 140 mmHg systolisch und < 90 mmHg diastolisch

> 140 mmHg systolisch und > 90 mmHg diastolisch

0

1

C (Clinical features, Symptome)

sonstige Beschwerden

Sprachstörungen ohne einseitige Schwäche

einseitige Schwäche

0

1

2

D (Dauer der Symptome)

< 10 Minuten

10–59 Minuten

≥ 60 Minuten

0

1

2

D (Diabetes mellitus)

besteht nicht

besteht

0

1


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HINTS-Untersuchungsgang

Beachte: Bereits eines der drei Zeichen ist ausreichend für den Verdacht auf eine zentrale Störung.

Kopfimpulstest

Den Kopfimpultstest (KIT) beschrieben Halmagyi und Curthoys erstmals 1988. Er untersucht den vestibulookulären Reflex (VOR). Dieser dient der Blickstabilisierung bei hochfrequenten, beschleunigten Kopfbewegungen. Vestibuläre Reize aus den Bogengängen werden zentral mit den Augenmuskeln verschaltet. Die Blickstabilisierung erfolgt schnell, die Latenz des VOR beträgt entsprechend weniger als 10 ms [20]. Der oder die Betroffene sitzt dem Untersuchenden gegenüber und fixiert dessen Nase. Dann wird der Kopf schnell um circa 10–20° jeweils zu einer Seite bzw. aus der Seitbewegung ruckartig zurück in die Mitte rotiert ([ABB. 1]). Physiologisch bewegen sich die Augen der Patientin bzw. des Patienten mit gleicher Winkelgeschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung zur Kopfdrehung, um den Punkt weiter fixieren zu können. Bei peripheren und seltenen zentralen Störungen bewegen sich die Augen mit der Kopfbewegung mit und springen mit einer Rückstellsakkade zum Blickziel zurück. Der KIT wäre dann positiv, und eine Störung des VOR läge vor [21]. Dieselbe Untersuchung wird mittels Spezialgerät mit Videoaufzeichnung präziser und sensitiver. Der Video-Kopfimpulstest ist dem klassischen KIT überlegen, für die Akutdifferenzierung genügt der einfache KIT [22].

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ABB. 1 Peripher-vestibuläre Funktion mithilfe des Halmagyi-Kopfimpulstests prüfen: Der Kopf wird rasch gedreht, während die Patientin einen Punkt fixiert.

Akuter Schwindel mit Spontannystagmus, aber ohne VOR-Defizit im KIT (d. h. keine Rückstellsakkade) weist auf eine zentrale Ursache hin.

Nystagmus-Tests
Als weiterer Test wird mit und ohne Blickfixationsunterdrückung (mittels Spezialbrille, Frenzel- oder M-Brille) ein Nystagmus-Geschehen untersucht. Als Rucknystagmus wird ein Augenzittern bezeichnet, wobei die Nystagmusrichtung durch die schnelle Nystagmusphase definitiert wird. Ein Spontannystagmus kann seine Schädigung im peripher- oder zentral-vestibulären Bereich haben. Eine zentrale Schwindelursache liegt vor, wenn ein Nystagmus in Abhängigkeit der Blickposition die Richtung umdreht. Ein peripherer Spontannystagmus schwächt sich bei Blick in die Gegenrichtung der schnellen Nystagmusphase ab, dreht aber die Richtung nicht um [17]. Es gibt verschiedene Nystagmusmuster, die gut zu erkennen sind:

  • den Blickrichtungsnystagmus (BRN) – hier schlägt die schnelle Phase in Richtung eines exzentrischen Blickziels (Video unter www.bit.ly/Blickrichtungsnystagmus),

  • die rein vertikal schlagenden Fixationsnystagmen wie den Upbeat-Nystagmus (schlägt mit der schnellen Phase vertikal nach oben) und den Downbeat-Nystagmus (schlägt mit der schnellen Phase vertikal nach unten) (Video unter www.bit.ly/Downbeat_Nystagmus)

  • und isolierte torsionelle Nystagmen (Video unter www.bit.ly/torsionelle_Nystagmen).

Alternierender Cover-Test
Beim letzten Test des HINTS-Untersuchungsganges wird auf eine Vertikaldeviation der Augen (engl. Test of Skew) mithilfe des alternierenden Cover-Tests untersucht ([ABB. 2]). Die untersuchende Person deckt mehrmals abwechselnd ein Auge des Gegenübers ab. Dabei achtet sie darauf, ob auf dem jeweils aufgedeckten Auge eine Einstellbewegung von oben oder unten sichtbar ist. Die zentrale Vertikaldeviation ist Teil der Ocular-Tilt-Reaktion, bei der durch eine vestibuläre Tonusimbalance auch eine Schräghaltung des Kopfes, eine klinisch nicht sichtbare Verrollung der Augen und eine Verkippung der subjektiven visuellen Vertikalen (SVV) vorliegen können. Für die Differenzialdiagnostik ist dieser Test wichtig, um eine zentrale Ursache von einer peripheren Erkrankung zu unterscheiden. Bei zentralen Läsionen ist beim Aufdecken eine vertikale Augenbewegung bzw. ein vertikaler Blicksprung auf beiden Seiten (ein Auge von oben, das andere Auge von unten) erkennbar [21].

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ABB. 2 Alternierender Cover-Test zum Nachweis einer vertikalen Deviation Quelle ABB. 1 und 2: B. Woodward, LMU Klinikum München

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Algorithmus bei akutem Schwindel

Acht Frage-/Test-Items zur Krankengeschichte kombiniert mit klinischen Tests sind ausreichend, um eine zentrale Genese bei Schwindel zu ermitteln.

  • Zeigt sich anamnestisch oder aktuell klinisch eine Parese oder ein sensorisches Defizit im Gesichts- oder Extremitätenbereich? Mögliche Begleitsymptome wie Paresen und/oder Sensibilitätsstörungen können unter anderem die Sensitivität für einen Schlaganfall erhöhen [16]. Neben einer positiven Antwort könnten sich in der Untersuchung der Sensibilität eine Hyp-, Hyper-, Par- oder Dysästhesie präsentieren. Des Weiteren kann der Romberg-Test kombiniert mit dem Armvorhalteversuch positiv ausfallen (Arm sinkt ab und/oder Unterarm proniert).

  • Zeigt sich anamnestisch oder aktuell klinisch eine Ataxie der Extremitäten?
    Zur Diagnostik einer Extremitätenataxie können der Finger-Nase-Versuch oder der Fersen-Schienbein-Test durchgeführt werden.

  • Zeigt sich anamnestisch oder aktuell klinisch eine Sprach-/Sprechstörung?
    Störungen der Sprachproduktion oder des -verständnisses werden im Anamnesegespräch erkennbar. Relevant ist auch, ob Auffälligkeiten beim Redefluss auftreten und ob das Sprechen undeutlich oder nicht möglich ist.

  • Zeigt sich anamnestisch oder aktuell klinisch eine Sehstörung?
    Sehstörung z. B. in Form von Doppelbildern oder akutem Sehverlust.

  • Zeigt sich anamnestisch oder aktuell klinisch ein bislang qualitativ unbekannter Kopfschmerz?
    Auch für Patienten mit Migräne und häufig wiederkehrenden Kopfschmerzen sollten diese Kopfschmerzen eine bislang nicht gekannte Qualität aufweisen.

  • Zeigt sich ein auf eine zentrale Genese hindeutendes HINTS-Untersuchungsergebnis?
    Ein zentrales HINTS-Zeichen zeigt sich beispielsweise, wenn der akute Schwindel mit einem Spontannystagmus, einem negativen Kopfimpulstest, einem richtungswechselnden Nystagmus und/oder einer vertikalen Deviation der Augen einhergeht (HINTS, S. 31).

  • Zeigt sich ein zentrales Nystagmusmuster (z. B. gleichzeitiges Vorhandensein eines spontanen und Lagenystagmus)?
    Zu den zentralen Störungen zählen beispielsweise ein Blickrichtungsnystagmus (BRN), ein Upbeat-/Downbeat-Nystagmus und ein rein torsioneller Nystagmus [18]–[20] (HINTS, S. 31).

  • Zeigt sich eine gestörte Gehfähigkeit?
    Ein zuvor gangfähiger Patient ist nicht mehr in der Lage, sich eigenständig gehend fortzubewegen. Dieses klinische Bild wird als akutes Imbalance-Syndrom (AIS) bezeichnet und kann auch ohne Spontannystagmus vorkommen. Untersucht wird die posturale Stabilität durch den Romberg-Stehversuch und einfache/erschwerte Gangproben. Bei einer ausgeprägten Rumpfataxie kann bereits das aufrechte Sitzen schwerfallen. Eine deutliche und neu aufgetretene Gang- und Standataxie weist bis zum Ausschluss auf eine zentrale Schwindelursache hin.

Interpretation: Wird mindestens eine der acht Fragen mit „ja“ beantwortet, besteht ein hohes Risiko für eine akute zentrale Schwindelursache. Die Betroffenen müssen schnellstmöglich einer erweiterten Akutdiagnostik und -therapie in einer Notaufnahme zugeführt werden. Alle anderen müssen weiter untersucht werden (Frequenz und Dauer der Schwindelsymptome, spezifische Auslöser, Begleitsymptome und Nystagmus), um das vestibuläre Störungsbild zu kategorisieren und Therapiemaßnahmen abzuleiten.


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HINTS im Videoclip

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Einen Überblick über die HINTS-Zeichen geben die Videoclips unter www.thieme-connect.de/products/physiopraxis > „Ausgabe 6/24“. Noch schneller geht’s über den QR-Code.

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Beim TriAGe+-Score inkludiert der Untersuchende Trigger, ob Vorhofflimmern besteht (engl. Atrial Fibrillation), das Geschlecht und „+“-Kriterien, dazu zählen Blutdruckauffälligkeiten, Hirnstamm-/Kleinhirnzeichen, sonstige zentrale Zeichen wie Hemiparese, Aphasie sowie die Art des Schwindels und ob eine Schwindelvorgeschichte bekannt ist. TriAGe+-Werte ≥ 10 Punkte zeigen ein Risiko von > 50 % für einen Schlaganfall an [11].

Der CATCH2-Score ist ein weiterer diagnostischer Indextest, der Elemente aus dem HINTS-Untersuchungsgang (HINTS, S. 31), dem ABCD2- und TriAGe+-Score vereint und daher am sensitivsten ist [15]. Er bewertet das Vorhandensein zentraler klinischer Zeichen (Clinical features, 1 Punkt); Alter > 60 Jahre (1 Punkt); akutes Auftreten ohne schwindelspezifische Trigger (1 Punkt); Vertikaldeviation im Cover-Test (1 Punkt); unauffälliger Kopfimpulstest (engl.: Head Impulse Test HIT, 1 Punkt); fehlende Schwindelvorgeschichte (History, 1 Punkt). Ein CATCH2-Score von ≥ 4 Punkten weist mit einer diagnostischen Sicherheit von ca. 90 % auf einen Schlaganfall hin.


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Neuer Algorithmus leitet durch die Diagnostik

Zur Optimierung von Diagnostik und Therapie haben Filipp Filippopulos et al. 2022 einen diagnostischen Algorithmus für akuten Schwindel validiert, der zur Vermeidung von Fehldiagnosen und zur Unterscheidung von peripheren und zentralen Ursachen hilfreich ist [16]. Er umfasst Schlüsselfragen und einen klinischen Untersuchungsgang, um die sechs häufigsten vestibulären Erkrankungen zu detektieren. In der ersten Stufe des mehrstufigen Prozesses lassen sich zerebrovaskuläre Ereignisse aufdecken (ALGORITHMUS). Ist dies nicht der Fall, lassen sich in der weiterführenden Befundung dann die häufigsten vestibulären Störungen differentialdiagnostisch ermitteln.

Zur Erkennung zentraler Schwindelursachen wird im Algorithmus der HINTS-Untersuchungsgang mit der Beurteilung okulomotorischer Funktionen herangezogen [15] (HINTS, S. 31). Wichtig zu beachten ist, dass die HINTS-Regel nur bei Vorliegen eines Spontannystagmus diagnostisch sensitiv ist. Die Kombination aus einem unauffälligen Kopfimpulstest, einem richtungswechselnden Nystagmus sowie einer vertikalen Deviation weisen auf eine zentrale Ursache für den akuten Schwindel hin. Bereits eines der drei Zeichen ist dabei ausreichend für den Verdacht auf eine zentrale Störung. Wichtigster Parameter ist der unauffällige Kopfimpulstest. Kommen wir also auf unsere Fallbeispiele zurück:


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Fallbeispiele

  • Bei dem 62-jährigen Mann lässt sich keine der symptomorientierten Basisfragen eindeutig mit „ja“ beantworten. Wären die Kopfschmerzen von anderer Qualität, wäre dadurch bereits eine Frage positiv beantwortet worden und man müsste von einer zentralen Ursache ausgehen. Vor allem zeigen sich aber im Untersuchungsgang bereits in Ruhe ein Spontannystagmus, ein negativer KIT und eine sichtbare vertikale Augenbewegung beim Cover-Test. Es muss daher von einer zentralen Genese ausgegangen werden, und der Patient sollte so schnell wie möglich in die Notaufnahme.

  • Die 66-jähirge Frau zeigt anamnestisch ebenfalls kein zentrales Zeichen. In der klinischen Untersuchung aber liegt ein Spontannystagmus vor, der HINTS-Untersuchungsgang ergibt einen positiven KIT, keine Richtungsumkehr des Nystagmus und keine vertikale Einstellbewegung beim alternierenden Cover-Test. Der ABCD2-Score muss daher herangezogen werden. Dieser ergibt einen Summenwert von 2 (Alter > 60 Jahre und Symptome > 60 Minuten). Es liegt also wahrscheinlich keine zentrale Ursache vor. Die Befunde weisen auf eine akute unilaterale Vestibulopathie hin. Ein beispielhafter Befund, wie er bei dieser Patientin auftrat, zeigt das Video unter folgendem Link: https://bit.ly/unilaterale_Vestibulopathie. Die Patientin sollte fachärztlich medikamentös eingestellt werden, damit die Symptome abklingen, und therapeutisch sollte in den folgenden Tagen mit einer Vestibulären Rehabilitationstherapie (VRT) begonnen werden.

Fazit für alle therapeutischen Behandlungen ist also: Bevor Physiotherapeut*innen bei akutem Schwindel mit der Therapie beginnen, müssen sie regelhaft eine zentrale Ursache ausschließen.

Silvy Kellerer, Andreas Zwergal und Alexander Dassel


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Silvy Kellerer MSc

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MSc, ist Physiotherapeutin, sektorale Heilpraktikerin Physiotherapie, Fachtherapeutin für Schwindel & Gleichgewichtsstörungen (FSGS) und Expertin für vestibuläre Rehabilitationstherapie. Sie arbeitet am Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum der LMU München.

Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Zwergal

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ist Professor für Schwindel und Gleichgewichtsstörungen, Facharzt für Neurologie, Leiter des Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrums (DSGZ) und der Neurologischen Poliklinik, LMU Klinikum München sowie Koordinator des Europäischen Forschungsnetzwerks DIZZYNET.

Alexander Dassel

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ist Physiotherapeut, sektoraler Heilpraktiker Physiotherapie, PNF- und Bobath-Therapeut und Dozent an der Hochschule Fresenius.
  • Literaturverzeichnis

  • 1 Hackenberg B, OBrien K, Döge J. et al Vertigo and its burden of disease-Results from a population-based cohort study. Laryngoscope Investig Otolaryngol 2023; 08: 1624-1630
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  • 11 Kuroda R, Nakada T, Ojima T. et al The TriAGe+ Score for Vertigo or Dizziness: A Diagnostic Model for Stroke in the Emergency Department. J Stroke Cerebrovasc Dis 2017; 26: 1144-1153
  • 12 Edlow JA, Gurley KL, Newman-Toker DE. A New Diagnostic Approach to the Adult Patient with Acute Dizziness. J Emerg Med 2018; 54: 469-483
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  • 14 Johnston SC, Rothwell PM, Nguyen-Huynh MN. et al Validation and refinement of scores to predict very early stroke risk after transient ischaemic attack. Lancet 2007; 369: 283-292
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  • 17 Zwergal A, Filippopulos F, Huppert D. et al Akutes zentrales vestibuläres Syndrom. Nervenheilkunde 2023; 42: 21-29
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  • 19 Kerber KA, Meurer WJ, Brown DL. et al Stroke risk stratification in acute dizziness presentations: A prospective imaging-based study. Neurology 2015; 85: 1869-1878
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  • 21 Navi BB, Kamel H, Shah MP. et al Application of the ABCD2 score to identify cerebrovascular causes of dizziness in the emergency department. Stroke 2012; 43: 1484-1489
  • 22 Froment Tilikete C. Is the bedside head impulse test useful in emergency decision making for nonexpert routine clinical practice?. Eur J Neurol 2021; 28: 1437-1438

Publication History

Article published online:
13 June 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literaturverzeichnis

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MSc, ist Physiotherapeutin, sektorale Heilpraktikerin Physiotherapie, Fachtherapeutin für Schwindel & Gleichgewichtsstörungen (FSGS) und Expertin für vestibuläre Rehabilitationstherapie. Sie arbeitet am Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum der LMU München.
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ist Professor für Schwindel und Gleichgewichtsstörungen, Facharzt für Neurologie, Leiter des Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrums (DSGZ) und der Neurologischen Poliklinik, LMU Klinikum München sowie Koordinator des Europäischen Forschungsnetzwerks DIZZYNET.
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ist Physiotherapeut, sektoraler Heilpraktiker Physiotherapie, PNF- und Bobath-Therapeut und Dozent an der Hochschule Fresenius.
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ABB. 1 Peripher-vestibuläre Funktion mithilfe des Halmagyi-Kopfimpulstests prüfen: Der Kopf wird rasch gedreht, während die Patientin einen Punkt fixiert.
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ABB. 2 Alternierender Cover-Test zum Nachweis einer vertikalen Deviation Quelle ABB. 1 und 2: B. Woodward, LMU Klinikum München
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