CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2024; 86(07): 523-530
DOI: 10.1055/a-2308-7319
Originalarbeit

Personbezogene und Umweltfaktoren in sozialmedizinischen orthopädischen Gutachten

Personal and Environmental Contextual Factors in Socio-Medical Orthopedic Evaluation Reports
Judith Gartmann
1   Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
,
Christoph Egen
1   Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
,
Christian Sturm
1   Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
,
Andrea Bökel
1   Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
› Author Affiliations
Funding Information Deutsche Rentenversicherung Bund — Förderkennzeichen 0441/40 – 28 – 00 – 14
 

Zusammenfassung

Einleitung Die personbezogenen und Umweltfaktoren der ICF- Kontextfaktoren sind als Einflussfaktoren auf körperliche und psychische Gesundheit, und auch die (berufliche) Teilhabe zu verstehen. Bislang ist nicht geklärt, inwiefern diese Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung entsprechende Berücksichtigung finden. Die umfangreichere Berücksichtigung der ICF-Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung könnte die Zuweisung zu Erwerbsminderungsrente und rehabilitativen Maßnahmen individueller und gezielter machen. In dieser Studie soll die Häufigkeit der ICF-Kontextfaktoren in sozialmedizinischen Gutachten ermittelt werden.

Methodik Durchgeführt wurde eine Häufigkeitsanalyse der ICF- Kontextfaktoren in sozialmedizinischen Gutachten bei muskuloskelettalen Erkrankungen. Mehrfach genannte Kontextfaktoren wurden ein einziges Mal im Gutachten kodiert. In einem Häufigkeitsranking wurden die einzelnen umwelt- und personbezogenen Faktoren in die Kategorien „häufig“, „mittel“ und „selten“ eingeteilt.

Ergebnisse 215 sozialmedizinische Gutachten mit muskuloskelettalen Diagnosen aus dem Jahr 2017 bildeten den Gegenstand der retrospektiven Untersuchung. Alle Gutachten wurden auf das Auftreten von personenbezogenen und Umweltfaktoren analysiert. Es wurden vor allem personbezogene Faktoren nachgewiesen, welche Auskunft über allgemeine Merkmale zur Person oder den allgemeinen Gesundheitszustand geben. Knapp die Hälfte der Umweltfaktoren wurde selten identifiziert.

Schlussfolgerung Viele ICF-Kontextfaktoren werden zuverlässig in den analysierten Gutachten erfasst. Die Bedeutung dieser Faktoren auf die Rückkehr in das Erwerbsleben ist bekannt. Überraschend war das Fehlen oder geringe Vorhandensein von ICF-Kontextfaktoren aus den Kapiteln Einstellungen (i4), Gewohnheiten (i4) und Unterstützung & Beziehung (e3), die auch im Kontext zum Erleben der Arbeitswelt der begutachteten Person stehen. Die Relevanz der häufig und selten identifizierten ICF- Kontextfaktoren für die sozialmedizinische Begutachtung bei muskuloskelettal-erkrankten Rentenantragstellenden muss hinterfragt werden.


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Abstract

Introduction The personal and environmental contextual factors of the ICF describe not only physical and mental health but also (occupational) participation. So far, the extent to which these contextual factors are taken into account in the socio-medical evaluation has not been clarified. Contextual factors can guide allocation to disability pension or rehabilitative interventions in an individualized and targeted manner. The aim of this study was to determine the frequency of ICF contextual factors in socio-medical evaluation.

Methodology A frequency analysis of contextual factors in socio-medical reports for musculoskeletal disorders was performed. Contextual factors mentioned several times were coded once in the report. In the frequency ranking, each environmental and personal factor was categorized as “frequent,” “moderate,” and “rare.”

Results 215 socio-medical reports with musculoskeletal diagnoses starting from 2017 were retrospectively analyzed. All socio medical reports were analyzed for the occurence of personal contextual and environmental factors. In particular, personal factors were identified, which provide information about general personal characteristics or the general state of health. Almost half of the environmental factors were rarely identified.

Conclusion Many ICF contextual factors are constantly recorded in the analyzed reports. The important influence of these factors on return to work is well known. Thus, the absence or low presence of the ICF contextual factors from the chapters Attitudes (i4), Basic Skills (i4) and Support & Relationships (e3), which are also contextual to the assessed person’s experience of the world of work, was surprising. The relevance of the frequently and rarely identified contextual factors for the socio-medical evaluation of musculoskeletal disability pension applicants must be questioned.


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Hintergrund

Die von der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) definierten Kontextfaktoren sind Faktoren, die in unterschiedlichster Weise Einfluss auf den Menschen, sowohl auf seine körperliche wie psychische Gesundheit als auch auf die Teilhabe am Arbeitsleben nehmen [1]. Während die Umweltfaktoren der ICF bereits definiert und beschrieben sind, gab es für den Bereich der personbezogenen Faktoren lange keine offizielle Klassifizierung, da diese länderspezifisch ist und daher von jedem Land, vor dem Hintergrund der eigenen Kultur, entwickelt werden muss. Die Arbeitsgruppe um Grotkamp und Cibis haben sich dieser Aufgabe angenommen und eine Systematik personbezogener Faktoren für Deutschland entwickelt [2].

Die Kontextfaktoren der ICF beschreiben, passend zum biopsychosozialen Modell, sowohl einen hemmenden als auch einen fördernden Einfluss auf den Gesundheitszustand eines Menschen. So beeinflussen person- und umweltbezogene Kontextfaktoren nicht nur Aktivitäten, sondern auch die (berufliche) Teilhabe. Diese Faktoren spiegeln sich auch im Diagnostische Kriterien-Katalog berufsbezogener Personenmerkmale, Version 2 (DIK-2) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wider [3]. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit Einflussfaktoren im Bereich des Arbeitslebens [4] [5] [6]. Sie zeigen, dass soziale Unterstützung von Familie, Kolleg:innen und Vorgesetzten, persönliche Einstellungen und Optimismus eine wichtige Funktion in Bezug auf die individuelle Arbeitsfähigkeit haben [7] [6] [8] [9].

Bisher ist ungeklärt, inwiefern diese Kontextfaktoren als mögliche Förderfaktoren oder Barrieren hinsichtlich der Leistungsfähigkeit in der sozialmedizinischen Begutachtung Berücksichtigung finden. Die Berücksichtigung von Kontextfaktoren der ICF in der sozialmedizinischen Begutachtung könnte die Zuweisung zu Erwerbsminderungsrente oder rehabilitativen Maßnahmen individueller und gezielter gestalten. Sie kann für eine ressourcenorientierte individualisierte Maßnahmenplanung für die Rückkehr ins Erwerbsleben genutzt werden [10].

Bereits 2004 wurden im Abschlussbericht der Kommission zur Weiterentwicklung der Sozialmedizin in der gesetzlichen Rentenversicherung (SOMEKO) standardisierte Kriterien und Prozesse für die sozialmedizinische Begutachtung gefordert [11]. Daraus folgt, dass die Standardisierung von ärztlichen Gutachten und Berücksichtigung der ICF in Sozialrecht und Leitlinien zur sozialmedizinischen Begutachtung als notwendig erachtet wird [12] [13] [14]. Eine Studie von Kirschneck et al. zeigt in den Analysen von sozialmedizinischen Gutachten bei lumbalen Rückenschmerzen und generalisiertem Schmerzsyndrom, dass einige Umweltfaktoren der ICF häufig identifiziert wurden, z. B. Produkte und Substanzen für den persönlichen Gebrauch (e110) und andere wiederum selten gefunden wurden, z. B. Individuelle Einstellungen von Freunden (e420) [12] [15].

Die vorliegende Studie „Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung bei Erwerbsminderungsrente (KomBi-EMR)“ verfolgt das Ziel die Bedeutung und das Vorkommen der ICF-Kontextfaktoren in sozialmedizinischen, orthopädischen Gutachten zu untersuchen. Diese Studie im Mixed-Methods-Design besteht aus einer Online-Delphi-Befragung zur Relevanz der ICF-Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung auf EMR unter Expert:innen des gesamten Spektrums des Gesundheitswesens [16], einer Gutachtenanalyse, die sich auf personbezogene und Umweltfaktoren der ICF bezieht, und einer abschließenden Fokusgruppe zu Kontextfaktoren und Begutachtung auf EMR unter Gesundheitsexpert:innen. Im Gegensatz zu der Studie von Kirschneck et al. [12] [15], in der sozialmedizinische Gutachten bei lumbalen Rückenschmerzen und generalisiertem Schmerzsyndrom auf die gesamten ICF-Kategorien untersucht wurden, analysiert diese Studie – sowohl quantitativ als auch qualitativ – ausschließlich die Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung bei Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (M00-M99 gemäß ICD-10).


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Ziel/ Fragestellung

Dieser Artikel stellt die Ergebnisse der Gutachtenanalyse aus der Studie KomBi-EMR vor. Es soll ermittelt werden, welche Kontextfaktoren der ICF und wie häufig diese in den sozialmedizinischen Gutachten genannt bzw. berücksichtigt werden.


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Methodik

Studiendesign

Zur Beantwortung der Fragestellung wurde eine retrospektive Häufigkeitsanalyse der Kontextfaktoren in sozialmedizinischen Gutachten bei muskuloskelettalen Erkrankungen durchgeführt.


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Stichprobe

Es handelte sich um sozialmedizinische Gutachten, die im Jahr 2017 aufgrund eines Antrags auf Erwerbsminderungsrente bei primär muskuloskelettaler Erkrankung (ICD-10-Codes: M00-M99) erstellt wurden. Die Zufallsstichprobe lag bei 150 Gutachten und wurde aus dem Bestand mehrerer Rentenversicherungsträger gezogen. Ausgeschlossen wurden Gutachten mit einem Leistungsvermögen von 3 – 6 Stunden. Die Gutachten wurden durch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) retrospektiv aus vorliegenden Gutachten aus dem sogenannten Peer-Review-Verfahren gezogen.


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Datenaufbereitung

Nachdem die von der DRV anonymisierten Gutachten vorlagen, wurden diese in die Analysesoftware MAXQDA eingepflegt. Zur Identifikation der umwelt- und personbezogenen Kontextfaktoren wurde ein deskriptiver Kodebaum in der Analysesoftware erstellt, der alle Kodes und die dazugehörigen Memos enthält, die es den Untersucherinnen ermöglichten jederzeit während des Kodiervorganges den Kode sowie die dazugehörige Beschreibung im Memo nachzulesen. Es wurden 62 personbezogene Faktoren aus der Klassifikation von Grotkamp et al. (2020) herangezogen [2]. Für die Umweltfaktoren wurden 41 Faktoren der ICF-Core-Sets für Muskuloskeletale Erkrankungen, Rehabilitation und Umwelt herangezogen [17]. Der Faktor „Zusatzfaktoren“ ist für jedes Kapitel als Faktor angelegt, und fasst die jeweiligen Faktoren eines jeden Kapitels „anders bezeichnet“ und „nicht näher bezeichnet“ zusammen oder Faktoren, welche durch die genutzten ICF-Core-Sets nicht abgedeckt wurden.


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Datenanalyse

Die Gutachtenanalyse wurde von 3 Untersucherinnen durchgeführt. Zwei Untersucherinnen hatten aufgrund des beruflichen physiotherapeutischen Hintegrunds Erfahrung in der theoretischen und praktischen Anwendung der ICF. Eine der beiden Wissenschaftlerinnen hatte Vorwissen zur sozialmedizinischen Begutachtung durch frühere Forschungsprojekte. Die dritte Untersucherin absolvierte ein Freiwilliges Wissenschaftliche Jahr (FWJ) und war unerfahren im Bereich der ICF. Sie wurde vorab geschult.

Zunächst begann ein gemeinsames Kodiertraining bei dem 8 Gutachten gemeinsam analysiert, entstandene Fragen diskutiert und Kodierrichtlinien festgelegt wurden. Auf diese Weise wurden spezifische Beispiele für die einzelnen Faktoren definiert. Dabei wurde jeder Kontextfaktor nur einmal im Gutachten kodiert. Tauchte dieser Faktor ein weiteres Mal im selben Gutachten auf, wurde er folglich nicht erneut kodiert.

Es folgte daraufhin das selbstständige Kodieren mit anschließendem Abgleich der Ergebnisse. Es wurden zufällig drei Gutachten ausgewählt und von jeder Untersucherin unabhängig voneinander bearbeitet. Anschließend wurden die Kodierungen gemeinsam verglichen und besprochen. Auf eine Berechnung der Interkodereliabilität sollte bewusst verzichtet werden, da das Prinzip dieser Analyse das Erfassen des einmaligen Auftretens eines jeden Codes war. So kann es sein, dass jede Untersucherin ein anderes Segment im Gutachten den einzelnen Codes zugeordnet hat, als die anderen Untersucherinnen. Beispiel: „Herr X. geht täglich spazieren. […] An zwei Tagen die Woche nimmt er am Rehasport teil.“ Untersucherin 1 kodiert „geht täglich spazieren“ als Bewegungsgewohnheiten (i456) während Untersucherin 2 den Abschnitt „An zwei Tagen die Woche nimmt er am Rehasport teil“ zu den Bewegungsgewohnheiten (i456) kodiert. Beide entsprechen dem gleichen ICF-Code.

Im dritten Schritt der Gutachtenanalyse wurden alle Gutachten aufgeteilt, sodass jede Untersucherin eine bestimmte Anzahl an Gutachten analysierte (AE 80, JG 90, AB 45). Daneben wurde eine zusätzliche Kategorie geschaffen, der Textsegmente zugefügt werden konnten, die nicht auf Anhieb sicher zuzuordnen waren. So fiel z. B. die Abgrenzung zwischen Produkte und Technologien zur Kommunikation (e125) und Produkte und Technologien zum persönlichen Gebrauch im täglichen Leben (e115) auf den ersten Blick nicht immer leicht, da z. B. Hörgerät und Brille sowohl Hilfsmittel als auch kommunikationsunterstützend sein können. Nach Abschluss der Analyse aller Gutachten wurde diese zusätzliche Kategorie gemeinsam besprochen und korrigiert. Daraufhin wurde eine Revision der Gutachtenanalyse beschlossen, die durch JG durchgeführt wurde. In einem vorletzten Abschnitt wurden alle Gutachten auf vernachlässigte Faktoren mit Hilfe einer Stichwortsuche über die Suchfunktion im Programm gescreent. Die Stichwortsuche, z. B. zum Faktor Dienste, Systeme, Handlungsgrundsätze des Kommunikationswesens (e535) erfolgte mit Begriffen wie „Telefon“, „Internet“, „Computer“, „PC“, „Kommunikation“, „Post“ und „E-Mail“. Im letzten Schritt wurde die Liste aller Codes und kodierten Segmente durchgesehen und die doppelten Kodierungen eines Faktors im selben Gutachten entfernt, um die abschließende statistische Analyse durchzuführen.


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Definition der Häufigkeit

Im Häufigkeitsranking wurden die einzelnen umwelt- und personbezogenen Faktoren in die Kategorien „häufig“, „mittel“ und „selten“ eingeteilt. Es wurden pragmatische Cut-offs festgelegt: häufig vorkommende Faktoren sollten in über 100 Gutachten (≥46,5%) und seltene Faktoren in weniger als 10 Gutachten (≤4,6%) vorkommen. Daraus sollten anschließend die prozentualen Anteile abgeleitet werden.


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Ergebnisse

Insgesamt wurden 215 sozialmedizinische Gutachten mit Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (M00-M99 nach ICD-10) aus dem Jahr 2017 retrospektiv untersucht.

Die ICF-Kontextfaktoren wurden in den analysierten Gutachten umfassend nachgewiesen. Besonders häufig wurden Kontextfaktoren mit Zugehörigkeit zu den Kapiteln Physische Faktoren (i2), Lebenslage (i5) und Produkte & Technologien (e1) identifiziert. Ein Häufigkeitsranking der Kapitel der identifizierten Kontextfaktoren ist [Tab. 1] zu entnehmen.

Tab. 1 Gesamtzahl der identifizierten ICF-Kontextfaktoren je Kapitel.

Kapitel

Anzahl

Allgemeine Merkmale einer Person (i1)

427

Physische Faktoren (i2)

974

Mentale Funktionen (i3)

504

Einstellungen (i4 Teil 1)

167

Handlungskompetenzen (i4 Teil 2)

222

Gewohnheiten (i4 Teil 3)

443

Lebenslage (i5)

887

Produkte & Technologien (e1)

617

Natürliche & vom Menschen veränderte Umwelt (e2)

231

Unterstützung & Beziehungen (e3)

87

Einstellungen (e4)

51

Dienste, Systeme, Handlungsgrundsätze (e5)

383

Jedes Gutachten wurde auf 62 personbezogene Faktoren analysiert. Von diesen 62 personbezogenen Faktoren wurden 17 häufig, also in mehr als 100 Gutachten, identifiziert. Dazu zählen z. B. soziodemografische Daten wie kalendarisches Alter (i110) und biologisches Geschlecht (i120) aus dem Kapitel Allgemeine Merkmale einer Person (i1). Sie wurden in über 80% der Gutachten gefunden. Aus dem Kapitel Lebenslage (i5) waren Bildungsstatus (i550) mit 88,84%, Familiärer Status (i510) mit 86,05% und Beschäftigungsstatus (i520) mit 83,26% vertreten. Weitere Faktoren, die sich in den Gutachten häufig zeigten sind in [Tab. 2] dargestellt.

Tab. 2 Übersicht der in Gutachten häufig identifizierten personbezogenen ICF-Kontextfaktoren.

Kapitel

Faktor

%

Lebenslage (i5)

Bildungsstatus (i550)

88,84

Lebenslage (i5)

Familiärer Status (i510)

86,05

Allgemeine Merkmale einer Person (i1)

Kalendarisches Alter (i110)

85,58

Physische Faktoren (i2)

Körpermaße/-form/-zusammensetzung (i210)

85,12

Lebenslage (i5)

Beschäftigungsstatus (i520)

83,26

Physische Faktoren (i2)

Zusatzfaktoren (Zi2.1)

80,47

Physische Faktoren (i2)

Faktoren des Herz-, Kreislauf- und Atmungssystems (i221)

78,14

Allgemeine Merkmale einer Person (i1)

Biologisches Geschlecht (i120)

77,67

Gewohnheiten (i4 Teil 3)

beim Konsum von Genussmitteln (i453)

74,42

Physische Faktoren (i2)

Faktoren des Stoffwechsels (i222)

71,63

Physische Faktoren (i2)

Bewegungsbezogene Faktoren (i220)

71,16

Physische Faktoren (i2)

Faktoren der Sinnesorgane (i223)

66,51

Lebenslage (i5)

Wirtschaftlicher Status (i525)

55,81

Handlungskompetenzen (i4 Teil 2)

Zusatzfaktoren (Zi4.T2.1)

53,49

Mentale Funktionen (i3)

Emotionalität (i315)

51,16

Lebenslage (i5)

Wohnsituation (i515)

50,23

Mentale Funktionen (i3)

Mnestische Faktoren (i360)

50,23

In den analysierten Gutachten gab es 18 personbezogene Faktoren, die selten gefunden wurden, d. h. sie kamen in weniger als 10 von 215 Gutachten vor. Hervorzuheben sind dabei aus dem Kapitel Einstellungen (i4 Teil 1) die Einstellungen zur Unterstützung durch andere Personen (i418) mit 3%, Einstellungen zur Bildung (i421) sowie aus dem Kapitel Handlungskompetenzen (i4 Teil 2) Medienkompetenz (i442) und Methodenkompetenz (i433) jeweils mit<1%. Weitere weniger berücksichtigte Faktoren aus den analysierten Gutachten sind in [Tab. 3] dargestellt. Die personbezogenen Faktoren, welche in den Gutachten mit einer mittleren Häufigkeit gefunden wurden, können im Supplement nachgelesen werden.

Tab. 3 Übersicht der in den Gutachten selten identifizierten personbezogenen ICF-Kontextfaktoren.

Kapitel

Faktor

%

Mentale Funktionen (i3)

Optimismus (i340)

3,72

Einstellungen (i4 Teil 1)

zur Unterstützung durch andere Personen (i418)

3,26

Lebenslage (i5)

Gesellschaftlicher Status (i530)

3,26

Gewohnheiten (i4 Teil 3)

Hygienegewohnheiten (i468)

2,79

Gewohnheiten (i4 Teil 3)

im Umgang mit Geld und materiellen Gütern (i471)

2,33

Einstellungen (i4 Teil 1)

Zusatzfaktoren (Zi4.T1.1)

1,86

Gewohnheiten (i4 Teil 3)

Sexualgewohnheiten (i462)

1,40

Mentale Funktionen (i3)

Selbstvertrauen (i335)

1,40

Handlungskompetenzen (i4 Teil 2)

Medienkompetenz (i442)

0,93

Allgemeine Merkmale einer Person (i1)

Soziales Geschlecht (Gender) (i122)

0,47

Allgemeine Merkmale einer Person (i1)

Psychosoziales Alter (i112)

0,47

Einstellungen (i4 Teil 1)

zur Bildung (i421)

0,47

Einstellungen (i4 Teil 1)

Weltanschauung (i410)

0,47

Handlungskompetenzen (i4 Teil 2)

Methodenkompetenz (i433)

0,47

Allgemeine Merkmale einer Person (i1)

Zusatzfaktoren (Zi1.1)

0,00

Einstellungen (i4 Teil 1)

zu Interventionen und technischen Hilfen (i419)

0,00

Gewohnheiten (i4 Teil 3)

Kommunikationsgewohnheiten (i465)

0,00

Lebenslage (i5)

Rechtlicher Status (i527)

0,00

Jedes der 215 Gutachten wurde auf 41 Umweltfaktoren untersucht. Es wurden 5 Umweltfaktoren häufig gefunden. Diese können in [Tab. 4] eingesehen werden. Umweltfaktoren, die mit einer mittleren Häufigkeit vertreten waren, finden sich im Supplement.

Tab. 4 Übersicht der in den Gutachten häufig identifizierten ICF- Umweltfaktoren.

Kapitel

Faktor

%

Produkte & Technologien (e1)

Produkte & Substanzen zum persönlichen Verbrauch (e110)

84,19

Produkte & Technologien (e1)

zum persönlichen Gebrauch im täglichen Leben (e115)

80,47

Dienste, Systeme, Handlungsgrundsätze (e5)

des Gesundheitswesens (e580)

78,14

Produkte & Technologien (e1)

zur persönlichen Mobilität drinnen/draußen (e120)

53,02

Produkte & Technologien (e1)

zur Kommunikation (e125)

51,16

Knapp die Hälfte der 41 umweltbezogenen Faktoren wurden in den analysierten Gutachten selten identifiziert. Dabei handelt es sich überwiegend um Faktoren der Kapitel Unterstützung & Beziehungen (e3) und Einstellungen (e4). Aus beiden Kapiteln wurden die Faktoren Freunde (e320/e420), Autoritätspersonen (e330/ e430) und Bekannte, Seinesgleichen, Kollegen, Nachbarn, Gemeinde (e325/ e425) selten in den analysierten Gutachten gefunden. [Tab. 5] stellt die selten identifizierten Umweltfaktoren dar.

Tab. 5 Übersicht der in den Gutachten selten identifizierten ICF- Umweltfaktoren.

Kapitel

Faktor

%

Einstellungen (e4)

von Fachleuten der Gesundheitsberufe (e450)

4,65

Unterstützung & Beziehungen (e3)

Bekannte, Seinesgleichen, Kollegen, Nachbarn, Gemeinde (e325)

3,26

Unterstützung & Beziehungen (e3)

Zusatzfaktoren (Ze3.1)

2,79

Unterstützung & Beziehungen (e3)

Freunde (e320)

2,79

Einstellungen (e4)

des engsten Familienkreises (e410)

1,86

Einstellungen (e4)

von anderen Fachleuten (e455)

1,40

Produkte & Technologien (e1)

von öffentlichen Gebäuden (e150)

1,40

Unterstützung & Beziehungen (e3)

Fachleute der Gesundheitsberufe (e355)

1,40

Unterstützung & Beziehungen (e3)

Andere Fachleute (e360)

1,40

Natürliche & vom Menschen veränderte Umwelt (e2)

Licht (e240)

0,93

Unterstützung & Beziehungen (e3)

Autoritätspersonen (e330)

0,93

Dienste, Systeme, Handlungsgrundsätze (e5)

der allgemeinen sozialen Unterstützung (e575)

0,47

Dienste, Systeme, Handlungsgrundsätze (e5)

Zusatzfaktoren (Ze5.1)

0,00

Dienste, Systeme, Handlungsgrundsätze (e5)

des Kommunikationswesens (e535)

0,00

Einstellungen (e4)

Gesellschaftliche Einstellungen (e460)

0,00

Einstellungen (e4)

Zusatzfaktoren (Ze4.1)

0,00

Einstellungen (e4)

von Bekannten, Seinesgleichen, Kollegen, Nachbarn, Gemeinde (e425)

0,00

Einstellungen (e4)

von Autoritätspersonen (e430)

0,00

Einstellungen (e4)

von persönlichen Hilfs-/Pflegepersonen (e440)

0,00

Einstellungen (e4)

von Freunden (e420)

0,00

Produkte & Technologien (e1)

Zusatzfaktoren (Ze1.1)

0,00

Unterstützung & Beziehungen (e3)

persönliche Hilfs-/Pflegepersonen (e340)

0,00


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Diskussion

In den analysierten Gutachten fanden sich Extreme bezüglich der Häufigkeit der Kontextfaktoren. Es gab viele personbezogene und wenige Umweltfaktoren mit häufigem Vorkommen in den sozialmedizinischen Gutachten. Im Gegensatz dazu gab es Kontextfaktoren der ICF, die in den Gutachten selten gefunden wurden.

Dabei scheint es nicht verwunderlich, dass personbezogene Faktoren wie kalendarisches Alter (i110) und biologisches Geschlecht (i120), im Rahmen einer sozialmedizinischen Begutachtung besonders häufig genannt werden. Ähnliche Studien bestätigen, dass diese personbezogene Faktoren Basisinformationen zur Identifikation von Personen darstellen, die im medizinischen Kontext selbstverständlich erfragt werden [14]. Auch geben die häufig erfragten Faktoren aus den Kapiteln Allgemeine Merkmale einer Person (i1) und Physische Faktoren (i2) Aufschluss über den Gesundheitsstatus einer Person. In diesem Zusammenhang werden auch Faktoren aus dem Kapitel Produkte & Technologien (e1) erfragt. Dazu gehören z. B. Medikamente und Hilfsmittel.

Auffällig war das Fehlen oder geringe Vorhandensein von Kontextfaktoren aus den Kapiteln Einstellungen (i4), Gewohnheiten (i4), Unterstützung & Beziehung (e3) und Einstellungen (e4), welche auch im Kontext zum Erleben der Arbeitswelt der begutachteten Person stehen.

Die Ursachen für die selten vorkommenden Kontextfaktoren in den analysierten Gutachten sind nicht bekannt. Es lässt sich vermuten, dass das Bewusstsein für die Bedeutung der Kontextfaktoren im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung nicht präsent ist oder der Zeitfaktor eine wesentliche Rolle spielt. Begutachtende Ärzt:innen haben eine sehr umfangreiche Tätigkeit, die erhebliche Zeit in Anspruch nimmt. Gegebenenfalls spielt auch eine fehlende Standardisierung der verschiedenen Rentenversicherungsträger der sozialmedizinischen Gutachten eine Rolle, da die analysierten Gutachten aus Sicht der analysierenden Wissenschaftler:innen in Umfang und Inhalt sehr variierten, was bereits 2008 von Kirschneck et al. festgestellt wurde [12]. Schwegler et al. (2014) bestätigen Ähnliches für die Schweiz [14]. Zur Erhöhung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit der sozialmedizinischen Begutachtungen und Leistungsentscheidungen wird die Nutzung wissenschaftlich validierter, berufsbezogener Assessments empfohlen [11].

Die Bedeutung der selten gefundenen ICF-Kontextfaktoren Einstellungen zur Bildung (i421), Einstellungen zu Intervention und technischen Hilfen (i419) sowie die Einstellungen zur Unterstützung durch andere Personen (i418) scheint auf den ersten Blick zusammenzuhängen. So müssen sich Menschen weiterbilden, um auf dem Arbeitsmarkt mitzuhalten [18]. Durch Bildung und Kommunikation gepaart mit Selbstvertrauen und Optimismus können Handlungskompetenzen entwickelt werden, welche Gesunderhaltung, Rehabilitationsprozesse und am Ende auch das Erwerbsleben ermöglichen. Themen wie Interdisziplinarität und Teamwork sind etablierte Merkmale moderner Arbeit [19]. Deshalb kann die individuelle Einstellung einer zu begutachtenden Person zur Unterstützung durch andere Personen den Teilhabeerfolg im Berufsalltag beeinflussen. Gleiches gilt für die Einstellung zu Interventionen und technischen Hilfen der begutachteten Person, da die Technisierung und Digitalisierung in vielen Berufen Einzug hält [18]. Gleichzeitig muss in Erwägung gezogen werden, dass diese personbezogenen Kontextfaktoren auch auf individuelle rehabilitative Prozesse hemmend und fördernd wirken können.

Die Ergebnisse decken sich in Teilen mit den Ergebnissen der parallel zur Untersuchung durchgeführten Delphi-Befragung im Rahmen des Projektes Kombi-EMR zu Kontextfaktoren unter Expert:innen für sozialmedizinische Begutachtung. So haben auch die Expert:innen im Konsens Faktoren wie Bildungsstatus (i550), Beschäftigungsstatus (i520), Produkte &Technologien zur persönlichen Mobilität drinnen/ draußen (e120) als sehr relevant für die sozialmedizinische Begutachtung eingeschätzt. Auch zeigt sich eine Übereinstimmung bezüglich des Kontextfaktors Sexualgewohnheiten (i462), der in wenigen Gutachten gefunden wurde und unter Expert:innen als kaum relevant konsensuiert wurde. Im Gegensatz dazu wurden Faktoren wie Einstellungen des engsten Familienkreises (e410) oder Produkte & Technologien von öffentlichen Gebäuden (e150) in wenigen Gutachten gefunden.

Die Ergebnisse der Gutachtenanalyse zeigen Parallelen zu den Studienergebnissen von Kirschneck et al. [12] [15], welche Extreme bezüglich der Häufigkeit von Umweltfaktoren in ihren analysierten sozialmedizinischen Gutachten dokumentieren.

Den wichtigen Einfluss personbezogener Faktoren auf die Rückkehr in das Erwerbsleben bestätigen mehrere Studien. Neben persönlichen Einstellungen zu Arbeit und Rückkehr in die Arbeitswelt ist auch das persönliche soziale Umfeld ein nicht zu vernachlässigender Aspekt [6] [7] [20] [21]. Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstbewusstsein und Optimismus, die in den analysierten Gutachten wenig dokumentiert waren, bestimmen die Teilhabe am Erwerbsleben [7] [8] [20] [22]. Zum Lernen und Arbeiten benötigt es zusätzlich auch Handlungskompetenzen wie Methoden- und Medienkompetenz, die in den personbezogenen Kontextfaktoren der ICF verankert sind und in den analysierten Gutachten selten auftauchten [2] [18] [23].

Einige Studien weisen darauf hin, dass ein alleiniges Symptommanagement für ein erfolgreiches Return-to-Work (RTW) nicht ausreicht: Motivation, Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein, Optimismus, die wahrgenommene Gesundheit sowie soziale Unterstützung sind Einflussfaktoren mit Bezug zu Arbeit und RTW, die auch im biopsychosozialen Modell wiederzufinden sind [6] [7] [8] [9] [20] [24] [25] [26]. Dennoch sehen EMR-Berentete mit muskuloskelettalen Beschwerden ihre RTW-Fähigkeiten und -Möglichkeiten als gering an [27]. Lippke et al. (2019) empfehlen teilhabe-assoziierte Perspektiven als Ansatz für ein erfolgreiches RTW bei teilweiser EMR, um die RTW-Bestreben zu erhöhen [22]. Ebenso befürworten Lippke et al. (2019) eine adäquatere Betreuung bei unzureichender Gesundheit, um Betroffenen ein RTW zu ermöglichen. Arbeitsspezifische Fähigkeiten können in der Medizinisch Beruflich-orientierten Rehabilitation trainiert werden [22] [28].

Aus methodischer Sicht könnte das Kodiervorgehen bei einer wiederholten Analyse der Gutachten angepasst werden. Eine Kodierregel würde lauten, dass ein Code dann zugeordnet werden sollte, wenn er das erste Mal in einem Gutachten auftritt. Das würde auch das Berechnen einer Interkoderreliabilität ermöglichen. Um Fehler zu vermeiden, sollten mindestens im ersten Durchgang alle Gutachten durch jeden wissenschaftlichen Mitarbeitenden analysiert werden. Auch eine höhere Anzahl an sozialmedizinischen Gutachten könnte die Fehleranfälligkeit reduzieren.


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Zusammenfassung

Zusammenfassend ist festzustellen, dass viele Kontextfaktoren der ICF zuverlässig in den analysierten Gutachten erfasst werden. Ebenso wurden Faktoren als selten identifiziert, die für Außenstehende eine hohe Relevanz bei der Begutachtung auf EMR haben könnten, z. B. die Einstellung zur Bildung (i421). Die Relevanz und praktische Anwendbarkeit der häufig und selten identifizierten Kontextfaktoren für die sozialmedizinische Begutachtung bei muskuloskelettal-erkrankten Rentenantragstellenden muss weiter analysiert werden, da diese Kontextfaktoren Begutachtende dabei unterstützen ein umfassenderes Bild der Begutachteten zu gewinnen.

Um die gewonnenen Ergebnisse besser zu verstehen, wird über die Anwendbarkeit der umfangreichen Kontextfaktoren im Sinne von Förderfaktoren, Barrieren und Methoden in der sozialmedizinischen Begutachtung mit involvierten Expert:innen im Rahmen einer Fokusgruppe diskutiert werden. So könnten beispielsweise standardisierte Arbeitshilfen, wie die der Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation, Checklisten oder Assessments zu den Kontextfaktoren, möglicherweise auch in digitaler Form, Anwendung finden [14] [29] [30] [31] [32]. Ein gezieltes Erfassen person- und umweltbezogener Faktoren sowie ein strukturierter, individualisierter Decision-making-Prozess könnten eine ressourcenorientierte Zuweisung hinsichtlich individualisierter Maßnahmenplanung zum RTW ermöglichen [3] [9] [29].


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Herzlichster Dank geht an Frau Silke Freihoff für die Projektvorbereitungen und Frau Annika Helene Eilhardt für die tatkräftige Unterstützung im Projekt. Außerdem danken wir Frau Dr. Juliane Briest vielmals für die Entwicklung der Projektidee und die Einwerbung der Drittmittel. Wir bedanken uns bei allen teilnehmenden Expertinnen und Experten sowie dem wissenschaftlichen Team der Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin für die wertvolle Unterstützung.

Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Judith Gartmann, MSc
Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Physikalische und Rehabilitative Medizin
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Article published online:
16 July 2024

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