CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2024; 84(07): 629-634
DOI: 10.1055/a-2320-5843
GebFra Science
Review

Wertigkeit des sFlt-1/PlGF-Quotienten in bestimmten Kollektiven – was gibt es zu beachten?

Artikel in mehreren Sprachen: English | deutsch
1   Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde, Universitätsklinikum rechts der Isar, Technische Universität München, München, Germany (Ringgold ID: RIN27190)
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Stefan Verlohren
2   Klinik für Geburtsmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
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3   Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Jena, Jena, Germany
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Dietmar Schlembach
4   Klinik für Geburtsmedizin, Klinikum Neukölln, Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH, Berlin, Germany (Ringgold ID: RIN27157)
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Holger Stepan
5   Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Germany (Ringgold ID: RIN39066)
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Bettina Kuschel
1   Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde, Universitätsklinikum rechts der Isar, Technische Universität München, München, Germany (Ringgold ID: RIN27190)
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Anne Karge
1   Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde, Universitätsklinikum rechts der Isar, Technische Universität München, München, Germany (Ringgold ID: RIN27190)
,
Ulrich Pecks
6   Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, Universitätsklinikum Würzburg, Würzburg, Germany (Ringgold ID: RIN27207)
› Institutsangaben
 

Zusammenfassung

Der sFlt-1/PlGF-Quotient hat sich bezogen auf den diagnostischen Algorithmus und die Prognoseabschätzung der Präeklampsie (PE) im klinischen Alltag etabliert. Mütterliche und gestationsbedingte Komorbiditäten können die Performance des sFlt-1/PlGF-Quotienten und seiner Bestandteile beeinflussen und erfordern ein entsprechendes Wissen über mögliche Fallstricke. Ziel dieser Arbeit ist es, eine aktuelle, narrative Literaturübersicht im Kontext der diagnostischen und prädiktiven Performance des sFlt-1/PlGF-Quotienten in speziellen Patientinnenkollektiven zu geben. Zu potenziellen Störfaktoren der klinischen Interpretier- und Anwendbarkeit des sFlt-1/PlGF-Quotienten zählen hier u. a. eine chronische Nierenerkrankung, Zwillingsschwangerschaften und eine mütterliche Adipositas. Dabei kommt es auf Basis von pathophysiologischen Mechanismen zu unterschiedlichen Konzentrationen von sFlt-1 und/oder PlGF im Blut der Mutter, wodurch eine Übertragung der gängigen Cut-off-Werte fehleranfällig sein kann. Inwieweit bei diesen Patientinnengruppen eine Anpassung der Cut-off-Werte erfolgen sollte, kann nur in großen prospektiven Kohortenstudien geklärt werden. Dies gilt sowohl für die Frage der Diagnose als auch Prognose.


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Einleitung

Der sFlt-1-Quotient (sFlt-1: (soluble fms-like tyrosine kinase 1)/PlGF [placental growth factor]) hat sich für den diagnostischen Algorithmus hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen (HES) in der klinischen Routine bewährt [1].

Die pathophysiologische Konsequenz einer angiogenen Imbalance (zugunsten von sFlt-1 und zulasten von PlGF – ausgedrückt durch einen erhöhten sFlt-1/PlGF-Quotienten) ist die endotheliale Dysfunktion. Das dadurch bedingte Leakage der Gefäße mit konsekutivem intravasalem Volumenmangel und Minderperfusion der Organe wie Niere, Leber oder Plazenta führt zu den bekannten Präeklampsie-(PE-)Symptomen [2]. An dieser Stelle erscheint es wichtig zu betonen, dass sFlt-1 und/oder PlGF auch außerhalb der Schwangerschaft bei Endothelerkrankungen erhöht bzw. erniedrigt sein können [3] [4] [5] [6] [7]. Entsprechende Cut-off-Werte des sFlt-1/PlGF-Quotienten für die Risikoabschätzung einer PE und den Grad der plazentaren Dysfunktion, aber auch für die Prädiktion eines ungünstigen neonatalen bzw. maternalen Outcomes und assoziierten kurzen Intervalls bis zur Entbindung sind mit hohem Evidenzgrad publiziert [8] [9] [10] [11] [12] ([Tab. 1]).

Tab. 1 Übersicht etablierter Cut-off-Werte [8] [10] für die sFlt-1/PlGF-Ratio und deren Bestandteile in der Referenzkohorte sowie pathophysiologische Besonderheiten bei spezifischen maternalen bzw. gestationsbedingten Komorbiditäten.

Referenzkohorte [8] [10]

chronische Nierenerkrankung [13] [14]

Adipositas [15] [16]

Zwillingsschwangerschaften [17]

AMO = adverses maternales Outcome; APO = adverses perinatales Outcome; GFR = glomeruläre Filtrationsrate; MTUD = mittleres Zeitintervall bis zur Entbindung

sFlt-1

stabil in 1. und 2. Trimenon, Anstieg im 3. Trimenon

sFlt-1-Verlauf wie in Referenzkohorte

signifikant niedrigere sFlt-1-Werte bei BMI > 30

sFlt-1-Anstieg im 3. Trimenon ausgeprägter im Vergleich zu Einlingsschwangerschaften

PIGF

kontinuierlicher Anstieg mit Abfall ab der 34. SSW

grundsätzlich höhere PIGF-Werte

ähnlicher PIGF-Verlauf

ähnlicher PIGF-Verlauf

sFlt-1/PIGF

fallende Werte bis zum 3. Trimenon, dann Anstieg des Quotienten

niedrige GFR korreliert mit reduzierter Aussagekraft des Quotienten

Quotient signifikant niedriger im 3. Trimenon bei BMI > 30

Quotient höher > 29+0 SSW

mögliche Ursache für Veränderung

PIGF wird renal eliminiert, Akkumulation von PlGF bei reduzierter GFR

erhöhtes Plasmavolumen

TNF-α hemmt die endogene sFlt-1-Produktion

höhere plazentare Masse

sFlt-1/PIGF

< 38

PE innerhalb der nächsten 4 Wochen unwahrscheinlich

Ein Quotient < 38 kann eine PE nicht sicher ausschließen

Datenlage unklar

etablierte Cut-offs > 29+0 SSW nicht übertragbar

38–85 bzw. 110

Entwicklung einer PE im Verlauf möglich, Kontrolle innerhalb von 7 Tagen empfohlen

> 85 bzw. 110

PE sehr wahrscheinlich

PE sehr wahrscheinlich

PIGF < 100

plazentare Dysfunktion wahrscheinlich

Wert > 100 schließt eine plazentare Dysfunktion nicht aus

MTUD

Quotient > 655: Entbindung innerhalb 48 h bzw. 7 Tagen wahrscheinlich

PIGF > 150 schließt eine Entbindung innerhalb der nächsten 14 Tage mit hoher Wahrscheinlichkeit aus

Datenlage unklar

Quotient < 38: Entbindung innerhalb von 2 Wochen unwahrscheinlich

APO/AMO

Quotient < 38: unwahrscheinlich

Quotient > 655: wahrscheinlich

Datenlage unklar

Quotient < 38 schließt ein APO nicht sicher aus

Quotient < 38 schließt ein APO nicht sicher aus


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Übersicht

Im Folgenden soll der Einsatz des sFlt-1/PlGF-Quotienten und seiner Bestandteile in speziellen Patientinnenkollektiven näher beleuchtet werden. Hier geht es insbesondere um die PE-Diagnosestellung, aber auch den prädiktiven Wert der angiogenen Faktoren hinsichtlich eines adversen perinatalen Outcomes (APO).


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Chronische Nierenerkrankung

Die Prävalenz der PE bei Frauen mit chronischer Nierenerkrankung (CKD) kann bis zu 40 % betragen [18] [19], bei Frauen mit fortgeschrittenen CKD-Stadien sogar bis zu 70 % [19] [20] [21]. Das überlappende klinische Erscheinungsbild beider Pathologien mit meist vorbestehender Hypertonie und Proteinurie im CKD-Kollektiv kann eine kausale Differenzierung erschweren [22]. Darüber hinaus können Erkrankungen mit renaler Dysfunktion wie ein systemischer Lupus erythematodes (SLE), die thrombozytopenische Purpura (TTP) oder das atypische hämolytisch-urämische Syndrom (aHUS) erstmals in der Schwangerschaft auftreten bzw. exazerbieren, was die Unterscheidung plazentabedingter Komplikationen ebenso schwierig macht wie die Vorhersage des Schwangerschaftsoutcomes [23] [24]. Rolfo et al. konnten zeigen, dass trotz überlappender Merkmale (Hypertonie und Proteinurie) eine gute Differenzierung zwischen PE und CKD mittels sFlt-1/PlGF-Quotienten möglich ist. In ihrer prospektiven Kohortenstudie wiesen Patientinnen mit CKD (n = 23) im Vergleich zu Patientinnen ohne CKD (n = 34), aber mit PE (basierend auf den Diagnosekriterien Hypertonie und Proteinurie > 20+0 SSW) signifikant niedrigere sFlt-1/PlGF-Werte auf (4,00 [Interquartilbereich {IQR}, 0,51–136,59] vs. 435,79 [IQR, 160,90–1153,53]; p < 0,001) [13]. Auch ließ sich kürzlich – korrelierend zum Grad der antiangiogenen Dysbalance auf Basis des sFlt-1/PlGF-Quotienten – eine höhere APO-Rate sowie ein kürzeres mittleres Zeitintervall bis zur Entbindung im CKD-Kollektiv (n = 171) beobachten [25]. Der Nutzen des sFlt-1/PlGF-Quotienten zur PE-Diagnostik im CKD-Kollektiv wird entsprechend in der S2k-Leitlinie „Nierenerkrankungen und Schwangerschaft“ betont [26]: „PlGF und sFlt-1 sollten als zusätzliche diagnostische Parameter herangezogen werden, wenn bei Patientinnen mit CKD eine Präeklampsie vermutet wird.“ Pathophysiologische Besonderheiten im Umsatz von PlGF bei CKD-Patientinnen sollten beachtet werden, da sich hier Fallstricke ergeben können. Außerhalb der Schwangerschaft konnten eine erhöhte PlGF-Produktion und eine erniedrigte sFlt- 1-Konzentration im CKD-Kollektiv nachgewiesen werden [27] [28]. PlGF wird renal filtriert und über den Urin ausgeschieden [29]. Eine progrediente Einschränkung der Nierenfunktion im Schwangerschaftsverlauf kann somit zu höheren PlGF-Spiegeln durch die reduzierte renale Clearance führen. In der „Normalpopulation“ ist ein PlGF < 100 pg/ml suspekt bzw. mit einem höheren Risiko für eine plazentagebundene Komplikation assoziiert. Um die gleiche Sensitivität und Spezifität zu erreichen, wird empfohlen, diesen Schwellenwert bei Frauen mit CKD höher zu setzen [14]. Wiles et al. empfehlen daher eine intensivierte Überwachung bei CKD-Patientinnen mit einem PlGF-Serumwert < 150 pg/ml in > 20+0 SSW, wobei zu beachten ist, dass der PE-Vorhersagewert mit zunehmender Nierenfunktionseinschränkung abnimmt [14].


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Adipositas

Die Adipositas ist ähnlich wie der präexistente Diabetes mellitus ein Risikofaktor für die Entwicklung einer PE und, wie die PE selbst, durch ein proinflammatorisches Mikromilieu gekennzeichnet [30] [31]. Die PROGNOSIS-Studie, die gestationsalterspezifische Cut-off-Werte für die sFlt-1/PlGF-Ratio evaluierte und etablierte, unterschied nicht zwischen adipösen (BMI > 30 kg/m2) und normgewichtigen (BMI < 25 kg/m2) Frauen auf Basis des BMI [32] und untersuchte daher auch nicht, inwieweit unterschiedliche Grenzwerte für adipöse Schwangere notwendig sind oder nicht [8]. Zera et al. konnten eine inverse Korrelation von sFlt-1 und dem mütterlichen BMI beobachten, d. h. je höher der BMI, desto niedriger sFlt-1 [15]. In einer kürzlich publizierten prospektiven Observationsstudie (n = 1450 PE vs. n = 1065 Kontrollen) konnte gezeigt werden, dass Frauen mit PE und bestehender Adipositas im 2. und 3. Trimenon signifikant niedrigere sFlt-1-Konzentrationen im Vergleich zu übergewichtigen (BMI 25–30 kg/m2) und normgewichtigen PE-Patientinnen aufwiesen. Der sFlt-1/PlGF-Quotient wies hingegen keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen auf [16]. Mögliche Erklärungsansätze der erniedrigten sFlt-1-Level bei adipösen PE-Patientinnen sind das generell erhöhte Plasmavolumen sowie eine höhere Masse an extrazellulärer Matrix mit Heparinsulfat-Proteoglykanen, die sFlt-1 zersetzen können [33] [34]. Auch TNF-α (TNF-α: Tumornekrosefaktor α) kann eine Rolle spielen, ein proinflammatorischer Faktor, der bei adipösen Frauen erhöht ist und die endogene sFlt-1-Expression im Fettgewebe reduziert [35]. Zwar scheint der BMI sFlt-1 zu beeinflussen, allerdings existieren bis dato keine Studien, die alternative Grenzwerte mit ausreichender Evidenz erarbeitet haben. Der sFlt-1/PlGF-Quotient sollte und kann auch bei adipösen Schwangeren im Rahmen der PE-Diagnostik angewandt werden. Vorsicht ist jedoch geboten, wenn es um die Einschätzung eines möglichen APO auf Basis der Ratio geht. Hier konnte in einer retrospektiven Analyse gezeigt werden, dass trotz eines sFlt-1/PlGF-Quotienten < 38 im adipösen PE-Kollektiv mit einem APO gerechnet werden muss [36].


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Zwillingsschwangerschaften

Die PE-Inzidenz ist bei Zwillingsschwangerschaften 2-mal höher als bei Einlingsschwangerschaften [37]. Bei Zwillingsschwangerschaften liefert der sFlt-1/PlGF-Quotient nachweislich prognostische und diagnostische Informationen [38] [39], wenngleich die Rolle der Chorionizität für die Testgenauigkeit noch nicht abschließend geklärt ist [1]. Dröge et al. konnten zeigen, dass Konzentrationsunterschiede von sFlt-1 und PlGF zwischen Einlings- und Zwillingsschwangerschaften vorliegen, wobei höhere Werte für sFlt-1 und PlGF im Zwillingskollektiv beobachtet werden konnten [40]. Kürzlich wurden gestationsalterabhängige Referenzwerte für unauffällige Zwillingsschwangerschaften (n = 269) veröffentlicht [17]: Die Daten zeigen, dass der sFlt-1/PlGF-Quotient bei Frauen mit Zwillings- und Einlingsschwangerschaften bis zur 29+0 SSW ähnlich sind. Nach 29+0 SSW konnten jedoch bei Zwillingsschwangerschaften deutlich höhere sFlt-1/PlGF-Levels (bedingt durch einen signifikanten Anstieg von sFlt-1) beobachtet werden, weswegen die Anwendung der Ratio > 29+0 SSW weniger diskriminierend für die PE bei Zwillingsschwangerschaften zu sein scheint und die Ergebnisse entsprechend mit Vorsicht interpretiert werden sollten [1]. Als möglicher Erklärungsansatz der höheren sFlt-1/PlGF-Konzentrationen bei Zwillingen wird die größere plazentare Masse diskutiert [41]. Retrospektive Studien mit kleinen Fallzahlen zeigten zwar eine klare Korrelation der Höhe der Ratio mit einem verkürzten Intervall bis zur Entbindung [39] [42], lieferten jedoch keinen diagnostischen Mehrwert der sFlt-1/PlGF-Ratio bezogen auf die APO-Prädiktion [39] [42] [43].


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Chronische und Gestationshypertonie

Patientinnen mit PE haben im Vergleich zu Patientinnen mit chronischer oder Gestationshypertonie einen signifikant erhöhten sFlt-1/PlGF-Quotienten [44]. Dabei spricht man allgemein von einer „angiogenen PE“, wenn der sFlt-1/PlGF-Quotient > 85 in < 34+0 SSW bzw. > 110 in ≥ 34+0 SSW ist [45]. Die chronische Hypertonie (und Gestationshypertonie) sind per se nicht mit erhöhten sFlt-1/PlGF-Leveln verbunden und die sichere Abgrenzung zur Pfropf-PE ist damit gegeben [46]. Binder et al. konnten zeigen, dass bei Schwangeren mit chronischer Hypertonie und Verdacht auf Pfropf-PE die Hinzunahme des sFlt-1/PlGF-Quotienten zu den herkömmlichen Diagnosekriterien, die von der International Society for the Study of Hypertension in Pregnancy (ISSHP) vorgeschlagen werden [47], die Detektionsrate eines adversen perinatalen und maternalen Outcomes (AMO) signifikant verbessert [48]. Angiogene Marker können demnach auch bei der chronischen Hypertonie in der Schwangerschaft und Gestationshypertonie routinemäßig zum Einsatz kommen.


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Schwangerschaftsassoziierte Leberkomplikationen

Die akute Schwangerschaftsfettleber (AFLP) und das HELLP-Syndrom stellen seltene Leberkomplikationen in der Schwangerschaft dar mit assoziierter hoher maternofetaler Morbidität und Mortalität. Abgesehen von den klinischen Merkmalen zeigen sich häufig ähnliche Laborkonstellationen wie Thrombozytopenie, Hämolyse und insbesondere erhöhte Leberenzyme [49]. Allerdings ist die Abgrenzung des HELLP-Syndroms vom AFLP mitunter schwierig, insbesondere dann, wenn keine zusätzliche Hypertension bzw. PE vorliegt. Bei der AFLP ist der Serumspiegel von sFlt-1 (im Vergleich zum HELLP-Syndrom) drastisch erhöht [50] [51] [52] [53]. Ein sFlt-1-Wert > 31100 pg/ml scheint ein zusätzlicher Parameter neben den Swansea-Kriterien zu sein, um die Aufmerksamkeit auf die AFLP zu lenken. Im Gegensatz dazu erscheinen die PlGF-Serumspiegel nur beim HELLP-Syndrom erniedrigt. Dies passt zur charakteristischen plazentaren Dysfunktion beim HELLP-Syndrom (und der normalen Plazentafunktion bei der AFLP) und unterstreicht damit die unterschiedlichen Entitäten beider Pathologien [53]. Erhöhte sFlt-1-Serumspiegel wurden auch außerhalb der Schwangerschaft bei chronischen Lebererkrankungen beobachtet [54]. Untersuchungen am Mausmodell zur Rolle von sFlt-1 bei Leberfunktionseinschränkungen [55] [56] legen nahe, dass hohe sFlt-1-Serumspiegel bei Patienten mit AFLP nicht nur ein Epiphänomen, sondern ein wesentlicher Auslöser dieser Erkrankung sind [53]. Bezogen auf das HELLP-Syndrom erscheint der sFlt-1/PlGF-Quotient in der seltenen Konstellation eines isolierten HELLP-Syndroms (ohne PE) deutlich niedriger zu sein [57].


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Rheumatische Erkrankungen

Patientinnen mit rheumatoiden Erkrankungen wie dem systemischen Lupus erythematodes (SLE), dem Sjögren-Syndrom, der systemischen Sklerose, der Dermatomyositis oder rheumatoiden Arthritis haben ein erhöhtes Risiko für eine PE [58]. Die Differenzialdiagnosen PE und HELLP-Syndrom zu Schüben einer Lupusnephritis, einer Vaskulitis oder einer renalen Krise im Rahmen einer Systemsklerose können oftmals schwierig sein. Zur Differenzialdiagnose der PE kann mithilfe des sFlt1/PlGF-Quotienten ein sicherer Hinweis auf eine plazentare Beteiligung gewonnen werden [59]. In einer prospektiven multizentrischen Beobachtungsstudie konnte bei Patientinnen mit SLE und/oder Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom gezeigt werden, dass der sFlt1/PlGF-Quotient im 2. Trimenon (neben anderen Faktoren wie bspw. der Notwendigkeit von Antihypertensiva) einer der stärksten Prädiktoren für ein APO ist [60]. Die Sektion „Maternale Erkrankungen in der Schwangerschaft“ der Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe und Pränatalmedizin (AGG) betont deshalb in ihrem Positionspapier zum „Management von rheumatischen Erkrankungen in Schwangerschaft und Stillzeit“: „Mittels […] Bestimmung des sFlt1/PlGF- Quotienten im 2. und 3. Trimenon kann man differenzialdiagnostisch eine plazentare Beteiligung prognostisch umschreiben“ [59].


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Differenzialdiagnose bei thrombotischer Mikroangiopathie/thrombotisch-thrombozytopenischer Purpura

Erkrankungen aus dem Formenkreis der thrombotischen Mikroangiopathie wie das aHUS und die TTP können sich in Schwangerschaft und Wochenbett manifestieren und ein klinisches Bild entwickeln, das sich mit geburtsmedizinischen Erkrankungen wie schwerer PE und (postpartalem) HELLP-Syndrom überschneidet. Da die möglichen therapeutischen Optionen sehr unterschiedlich sind, sind Biomarker wünschenswert, die differenzieren oder anzeigen können, ob das primäre pathogenetische Problem eine plazentare Dysfunktion ist. In einer Arbeit aus dem Jahr 2023 wurde untersucht, inwieweit bei Patienten mit TTP der sFlt1/PlGF-Quotient verändert ist. Es konnte gezeigt werden, dass sowohl bei angeborener als auch erworbener Form der TTP der sFlt1/PlGF-Quotient bei einem relevanten Anteil der Patientinnen, aber nicht bei allen erhöht war (27,3%–52,2%). Bezüglich des Outcomes dieser Schwangerschaften (mütterliches und fetales Überleben) zeigte sich bei TTP kein Unterschied zwischen den Fällen mit normalem und pathologischem angiogenen Status. In Anerkennung der Tatsache, dass sich TMA und plazentare Dysfunktion auch in Kombination bzw. sich gegenseitig beeinflussend entwickeln können, lassen hier die angiogenen Marker keine eindeutige Differenzierung bezüglich des „Primums“ zu und haben keinen prognostischen Aussagewert bezüglich des Outcomes bei TTP [61].


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Schlussfolgerung

Mütterliche und gestationsbedingte Komorbiditäten können potenzielle Störfaktoren der klinischen Interpretier- und Anwendbarkeit des sFlt-1/PlGF-Quotienten und ihrer Bestandteile sein. Aktuelle Arbeiten deuten darauf hin, dass Schwangere mit Komorbiditäten möglicherweise generell eine PE mit milderem Anstieg des sFlt-1/PlGF-Quotienten entwickeln als Schwangere ohne Komorbiditäten. Eine mögliche Begründung hierfür ist eine präexistente endotheliale Dysfunktion, die unter Umständen die Schwelle für eine antiangiogene Imbalance senken kann [62]. Prospektive Studien mit großer Fallzahl sollten klären, inwieweit eine Anpassung etablierter Cut-off-Werte sowohl was die PE-Diagnosestellung als auch die APO-Prädiktion betrifft, in bestimmten Kollektiven sinnvoll erscheint.


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Conflict of Interest

HS: lectures and consultancy work for Sanofi, Alexion, Roche Diagnostics and Norgine. SV: Speaker fees: Thermo Fisher Scientific, Roche Diagnostics, Comanche Biopharma, Alexion Advisory Board: Siemens, Beckman Coulter, Comanche Biopharma.


Correspondence

PD Dr. Oliver Graupner
Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde, Universitätsklinikum rechts der Isar, Technische Universität München
Ismaninger Str. 22
81675 München
Germany   

Publikationsverlauf

Eingereicht: 07. März 2024

Angenommen nach Revision: 05. Mai 2024

Artikel online veröffentlicht:
09. Juli 2024

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