Schlüsselwörter
Notfall - HNO - Reform - Stellungnahme - Fachgesellschaft
Keywords
Emergency - ENT - Reform - Statement - German ENT Society
Einführung
Die Bundesgesundheitspolitik hat viele Reformnotwendigkeiten identifiziert. Eine davon betrifft die Notfallversorgung, die traditionell in die Leistungsbereiche Rettungsdienst, vertragsärztliche ambulante Notfallversorgung inkl. Versorgung durch Belegabteilungen und die ambulante sowie stationäre Versorgung von Notfällen durch Krankenhäuser aufgeteilt ist.
Beginnend im Jahr 2018 sowie novelliert im Jahr 2020 veröffentlichte der Gemeinsame Bundesausschuss Regeln zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern [1]. Hiermit wird eine Struktur für die stationäre 24/7-Notfallversorgung mit einer Basisnotfallversorgung (Stufe 1), einer erweiterten Notfallversorgung (Stufe 2) und einer umfassenden Notfallversorgung (Stufe 3) beschrieben. Die Stufung formulierte bereits in der 2018er-Fassung eine organisatorisch unabhängige Leitungsstruktur der Notaufnahme und orientierte sich in der Einteilung an Art und Anzahl von Fachabteilungen, personeller Ausstattung, Intensivkapazitäten, medizinisch-technischer Ausstattung und Strukturen sowie Prozessen der Notfallaufnahme. Die Aufnahme soll überwiegend in einer Zentralen Notaufnahme erfolgen, Patienten sollen innerhalb von 10 Minuten bezüglich ihrer Behandlungspriorität eingeschätzt werden und eine fachärztliche Präsenz innerhalb von 30 Minuten gewährleistet sein. Die Aufnahme eines intubierten Patienten auf eine Intensivstation soll dabei innerhalb von höchstens 60 Minuten nach Krankenhausaufnahme erfolgen. In Summe sind die geforderten Standards als hoch und neuartig einzustufen. Zudem wird in einem Referentenentwurf die Einführung von Leistungsgruppen direkt an eine vorhandene Notfallstruktur erlösseitig gekoppelt. Eine Vorhaltung einer HNO-Fachabteilung ist in diesem System nicht obligat, gehört jedoch zu einer benannten relevanten Notfalldisziplin. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und die Deutsche Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) empfahlen personelle Qualifikationen für die vorgesehenen interdisziplinären Notfallzentren [2].
Unter dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn entstand bis Januar 2020 ein Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung [3]. Dieser fokussierte wegen stark gestiegener Inanspruchnahme eher auf die präklinische Notfallversorgung durch Rettungsdienste, die vertragsärztliche Notfallversorgung und die Notfallambulanzen stationärer Einrichtungen. Für eine bedarfsgerechte und ressourcenschonende Notfallversorgung werden eine qualitätsgesicherte Ersteinschätzung und ein integrierender Ansatz von Rettungsdienst, ambulanter und stationäre Notfallversorgung als wichtig erachtet. Hierzu sollen ein Gemeinsames Notfallleitsystem (GNL) und Integrierte Notfallzentren (INZ) etabliert werden. Unter anderen nahmen die Bundesärztekammer [4], die Deutsche Krankenhausgesellschaft [5] und die Kassenärztliche Bundesvereinigung [6] dazu ausführlich Stellung. Die Deutsche Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie positionierte sich auch dazu unter fachspezifischen Aspekten [7]. Dieser Referentenentwurf wurde in den aufkommenden Problemen der Corona-Pandemie in der Legislaturperiode nicht fortentwickelt.
Im Jahr 2022 befasste sich die Bertelsmann-Stiftung ebenfalls mit dem Thema der Notfallversorgung in Deutschland, rief ein Expertenpanel zusammen, dessen Ergebnisse in einer Stellungnahme veröffentlicht wurden [8]
[9].
Am 13.02.2023 gab die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums eine Stellungnahme zur Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland – Integrierte Notfallzentren (INZ) und Integrierte Leitstellen (ILS) heraus, in der Patientenzuweisungen auf Notfallstrukturen, Ersteinschätzungsverfahren, Fragen telemedizinischer Beratung sowie Integrierte Notfallzentren für Erwachsene und Kinder detailliert vorgeschlagen werden [10]
[11]. Ergänzend wurde im September 2023 von der Regierungskommission auch die Frage der Einbindung der Rettungsdienste bearbeitet und mitgeteilt [12].
Im Sommer 2023 veröffentlichte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Erstfassung der Richtlinie zur Ersteinschätzung des Versorgungsbedarfs in der Notfallversorgung (Ersteinschätzungsrichtlinie). Das Ersteinschätzungsverfahren soll Dringlichkeit und Zuweisung zu einer Versorgungsebene darstellen und durch ein digitales Assistenzsystem (Ersteinschätzungsinstrument), welches validiert und als Medizinprodukt geführt wird, unterstützt werden. Eine ärztliche Kompetenz muss nicht regelhaft direkt beschäftigt werden. Das Bundesministerium für Gesundheit erhob im September Bedenken gegen die Ersteinschätzungsrichtlinie, sodass diese bis dato nicht in Kraft getreten ist [13]. Beim Innovationsfonds des G-BA wurde im Januar 2024 mitgeteilt, dass ein webbasiertes Ersteinschätzungsinstrument erfolgreich erprobt werden konnte [14]. Ein solches Ersteinschätzungsinstrument soll in einem Projekt des Innovationsfonds in praxi mit Universitätskliniken, Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenkassen und anderen als Konsortialpartner erprobt werden [15].
Im Herbst 2023 urteilte das Bundessozialgericht im Falle eines Zahnarztes, dass bei Notdiensttätigkeit für eine Kassenzahnärztliche Vereinigung nicht automatisch eine selbstständige Tätigkeit vorliege. Durch eine daraus möglicherweise folgende Sozialversicherungspflicht entstand und besteht eine erhebliche Unruhe in diesen Personalstrukturen, sodass einige Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) bereits organisatorische Konsequenzen gezogen haben [16]
[17].
Im Januar 2024 wurde vom Bundesgesundheitsministerium ein Eckpunktepapier zur Reform der Notfallversorgung vorgelegt [18]. Als Ziel wird eine verbesserte Patientensteuerung durch Ausbau und Stärkung der Terminservicestellen und deren Vernetzung mit den Rettungsleitstellen, eine Stärkung der bundesweit einheitlichen notdienstlichen Akutversorgung der KVen durch Konkretisierung des Sicherstellungsauftrages und eine Einrichtung von INZ und Integrierten Kinder-Notfallzentren (KINZ) als sektorübergreifende Behandlungsstrukturen vorgesehen [18]. Hierzu wurde bereits von einigen Verbänden kritisch kommentiert [19]. So plädiert der Spitzenverband Fachärzte e.V. (SpiFa) in einem Brief an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) für eine Leitung von INZ durch die KV und nicht durch die Krankenhäuser, da mitunter eine fachlich nicht gerechtfertigte Rekrutierung von Patienten für den stationären Sektor befürchtet wird. Gegen solche Fehlanreize spricht wiederum eine Studie an 190 Patienten aus Berlin, die darstellt, dass Notaufnahmen ökonomisch wenig ertragreich sind, längere Liegezeiten bedingen und die Versorgung elektiv aufgenommener Patienten beeinträchtigen [20]. Weiterhin sieht der SpiFa die frühzeitige Besetzung von INZ durch Vertragsärzte kritisch, da diese in der genuinen ambulanten Versorgung in Praxen nicht ausreichend zur Verfügung stehen könnten. Zudem wird angeregt, den Leistungsanspruch der Patienten einzuschränken und auf INZ zu beschränken, um Bypass-Phänomene in andere Notfallstrukturen zu verhindern. Schließlich wird sich dezidiert für eine KI-gestützte Patientensteuerung durch Stärkung der Terminservicestellen ausgesprochen.
Spezifika der Notfallversorgung in der HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie
Spezifika der Notfallversorgung in der HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie
Krankheitsbilder des Fachgebietes der Hals-Nasen-Ohren (HNO)-Heilkunde sind in der Notfallversorgung häufig (bspw. Otitis, Sinusitis, Pharyngitis, Epistaxis) und z.T. lebensbedrohlich (Blutungen, Luftnot) und müssen einer spezifischen Therapie durch fachkundiges Personal zugeleitet werden [20]
[21]
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[23]
[24]. Zu differenzieren sind verschiedene Dringlichkeitsstufen des Notfalls, bspw. solche mit sofortiger Behandlungsnotwendigkeit (bspw. Luftnot, starke Blutung) oder innerhalb von Stunden (u.a. entzündliche Komplikationen) oder auch innerhalb weniger Tage (z.B. Tumor, Hörstörung = Eilfall).
In den letzten Jahren ist eine stetige und zunehmende Inanspruchnahme von Notfallstrukturen auch im Fachbereich der HNO-Heilkunde festzustellen. Insbesondere in den Klinik-Notfallambulanzen ist es zu einer deutlichen Fallzahlsteigerung gekommen. Es besteht Konsens, dass ein relevanter Anteil der Patienten nicht in einer Klinik-Notfallambulanz akut behandelt werden muss, sondern entweder in KV-Notfallstrukturen versorgt werden kann oder nach entsprechender Triage einen Termin in einer nachgeordneten Versorgungsstruktur zur weiteren Abklärung erhält [21]
[23]
[24]
[25]
[26]
[27].
Ein drastischer Rückgang an Fallzahlen in den Notfallambulanzen der HNO-Heilkunde, aber auch anderer Fächer, erfolgte im Zuge der Corona-Pandemie und der Lockdown-Maßnahmen. Dieser Rückgang hat sich jedoch nach der Pandemie wieder ausgeglichen [28]
[29]
[30]
[31]
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[33]
[34]
[35].
In der ambulanten Notfallversorgung wird aus Gründen der vorzuhaltenden Ressourcen bisweilen die Frage gestellt, ob ein HNO-ärztlicher Notfalldienst fachspezifisch notwendig ist oder ob diese Aufgaben nicht durch Ärzte anderer Fachrichtungen erledigt werden könnten. Andererseits wird diese Frage für Notdienste in der Pädiatrie und der Ophthalmologie kaum gestellt. Hierzu muss bemerkt werden, dass die Notdiensttätigkeiten im HNO-Bereich mit Blutungen der oberen Schluck-Atemwege, massiven Entzündungen im Luftweg und Rachen, der Traumatologie im Gesichts- und Halsbereich, Halsabszessen und bedrohlichen Luftnotzuständen bei Schwellungen dramatisch und lebenswichtig sein können. Andererseits ist die entsprechende studentische Ausbildung in den Curricula (z.B. NKLM) immer weiter zuungunsten HNO-fachlicher Wissens- und Kompetenzvermittlung reduziert worden. Eine Handlungskompetenz für HNO-ärztliche Notfälle ist höchst selten anzutreffen und wird unseres Wissens in Kursen der Notfallmedizin eher marginal thematisiert. Der Effekt der Kompetenzvermittlung wurde in einer Studie aus UK vermittelt [36], und eine Einbindung der HNO-Heilkunde in Zusatzweiterbildungscurricula erscheint definitiv sinnvoll.
Bei der Behandlung von Kindern in Notfallsituationen nehmen Fremdkörper in Gehörgang, Nase, Hypopharynx, oberem Ösophagus und den unteren Atemwegen einen wichtigen Raum ein, in dem HNO-Ärzte oftmals wichtige Notfallkompetenzen nicht nur im stationären Sektor, sondern auch in der ambulanten Versorgung stellen [25]
[37]
[38]. Eine sichere Entfernung von Ohrfremdkörpern bei Kindern durch Nicht-HNO-Ärzte wird allein aus Irland beschrieben [39]. Auch bedürfen kindliche Blutungsnotfälle einer schnellen Klärung und Zuweisung in kompetente und spezialisierte Notfallstrukturen [40].
Aus Beobachtungen ist folgender Effekt bekannt: Wenn eine HNO-ärztliche Beratung oder Einschätzung eines Notfalls rein strukturell nicht erfolgen kann, kommt es häufig zu nicht sachgerechten Weiterleitungen eines Notfalls in Strukturen, die eine schnelle und zielführende Lösung nicht ermöglichen [27]
[41]. In einer Publikation aus UK konnte plausibilisiert werden, dass es sinnvoll und ressourcenschonend ist, früh HNO-Sachverstand im Notfallgeschehen zu nutzen [42]
[43]. Eine Kompetenz allein durch Leitlinien oder Handlungsanweisungen zu ersetzen, ist fragwürdig [44]
[45]. Ein Training von HNO-Kompetenz für Pflegekräfte wurde in UK als effektiv für das Notfallmanagement angesehen, projiziert aber nicht auf deutsche Verhältnisse [46].
Bei notfallmäßigen Schwindelerkrankungen ist HNO-ärztliche Kompetenz richtungsgebend, um die Differenzialdiagnose peripheren und zentralen Schwindels mit Neurologen zu stellen [47]
[48].
Aus den genannten Gründen ist die Vorhaltung einer HNO-spezifischen Fachkompetenz für die allgemeine Notfallversorgung essenziell, in bestimmten Fällen sogar lebensrettend, und lässt sich durch unterschiedliche Maßnahmen realisieren.
Problemstellungen und Lösungsgedanken
Problemstellungen und Lösungsgedanken
Nachfolgend werden einzelne Problemfelder beleuchtet und mögliche Lösungsvorschläge aus Sicht der Wissenschaftlichen Fachgesellschaft und des fachspezifischen Berufsverbandes vorgebracht.
Problem I
Teilweise werden bestimmte Krankheitssymptome von der Bevölkerung inadäquat eingeschätzt, assoziiert mit dem Wunsch, diese sofort abklären zu lassen [49].
Lösungsvorschlag
Eine Schulung der Bevölkerung zu mehr Gesundheitskompetenz ist dringend erforderlich – nicht jedes Symptom bedingt eine sofortige Vorstellung in Klinik oder Praxis, eine bedingte Selbsthilfe muss erwartet werden können. Frühe und niederschwellige Gesundheitsaufklärung in der Schule und dem öffentlichen Raum unter Berücksichtigung verschiedener Medien wie auch verschiedener Sprachen begleitet durch Politik und Fachgesellschaften. Vor der Inanspruchnahme einer Notfallstruktur muss eine strukturierte und verbindliche Ersteinschätzung des Falls mithilfe von medizinischem Fachpersonal unter Zuhilfenahme von EDV-Systemen gestellt werden. Diese Einschätzung leitet den Patienten in sachgerechte Strukturen.
Problem II
Die Reduktion oder gar Auflösung von HNO-spezifischen ambulanten und stationären Notfallstrukturen könnte zu einer inadäquaten Patientenversorgung führen und ist auch der Bedeutung des Fachs nicht zuträglich.
Lösungsvorschlag
Eine ambulante und stationäre Notfallstruktur für das Fach HNO soll möglichst erhalten bzw. flächendeckend geschaffen werden. Neben den vertrags- und belegärztlichen Versorgungsebenen müssen, auch unter Berücksichtigung der stattfindenden Reform, in den ambulanten und stationären Strukturen der Krankenhäuser HNO-spezifische Notfallsysteme vorgehalten werden. Hierfür müssen die Größe der zusammengefassten KV-Notfallbezirke und die Dichte der Krankenhäuser auch für die Patienten und deren Notfälle in der Erreichbarkeit realistisch bleiben. In großflächiger Versorgung sollte telefonische oder telemedizinische HNO-Beratung in Zusammenarbeit mit Zentren etabliert und finanziert werden.
Problem III
Es ist zu wenig HNO-ärztliches Fachpersonal vorhanden, um in Flächenbereichen mit geringer Einwohnerdichte einen HNO-Notdienst zu organisieren.
Lösungsvorschlag
Ambulante oder stationäre Notfallzentren in solchen Bereichen (z.B. Level-In-Krankenhäuser) ohne HNO-Repräsentanz sollten an eine telemedizinische HNO-Fachberatung eines größeren Krankenhauses in der Region angebunden werden. Dieses Haus wäre dann auch für die evtl. notwendige Weiterbehandlung auszuwählen.
Problem IV
In Notfallambulanzen der Kliniken findet ein ungeregelter Zustrom von Patienten statt. Ein Teil dieser Patienten bedarf entweder keiner unmittelbaren Notfallhilfe oder könnte auch ohne die spezifischen Möglichkeiten eines Krankenhauses behandelt werden [50].
Lösungsvorschlag
Die Erhebung einer Gebühr für eine Notfallbehandlung (Hürdenbildung) hat in den 2000er-Jahren zu nur fraglicher Verhaltensänderung der Patienten geführt und wurde eingestellt. Sie stellte damals einen erheblichen zusätzlichen bürokratischen Aufwand dar, der weder von den Praxen noch von den Krankenhäusern im Sinne von Bürokratieabbau erbracht werden sollte. Eine Wiederaufnahme einer solchen Regelung erscheint in einer einfachen Wiedereinführung der damaligen Maßnahme wenig zielführend. Dennoch erscheint in der Wahrnehmung verschiedener politischer Parteien die Etablierung einer sozialverträglich gestalteten Selbstbeteiligung bei gleichzeitig geringer Administration erstrebenswert. So gibt es Beispiele ausländischer Modelle (z.B. Schweiz, Frankreich), bei denen relevante finanzielle Hürden (u.a. prozentualer Selbstbehalt pro Jahr) bei der Wahrnehmung von ambulanten und klinischen Notfallstrukturen eingeführt wurden und mitverantwortlich dafür sein dürften, dass eine im Vergleich zu Deutschland deutlich reduzierte Arztkontaktfrequenz besteht.
Die Regierungskommission hat Empfehlungen zur Reformierung der Notfallversorgung vorgelegt. Durch die Einrichtung von Integrierten Leitstellen (ILS) mit Zusammenführung der bereits genutzten Notfallnummern (112 und 116117) sowie einer telefonischen/telemedizinischen Ersteinschätzung mittels softwaregestütztem Ersteinschätzungsinstrument könnte ein adäquater Filter eingebaut werden. Bei Programmierung der entsprechenden Software muss HNO-Sachverstand einfließen, um Fehlsteuerungen von Patienten zu vermeiden – hier liegt inzwischen eine HNO-ärztliche Machbarkeitsstudie vor [51]. In Integrierten Notfallzentren (INZ) könnte eine zentrale Ersteinschätzungsstelle etabliert werden, gemeinsam betrieben von Krankenhaus und KV-Notdienstpraxis. Hierdurch könnte eine objektiv sachgerechte Leitung der Patienten in 3 Gruppen erfolgen. Die Patienten werden dem regulären vertragsärztlichen Regeldienst, der vertragsärztlichen Notfallversorgung oder der Notfallversorgung durch Krankenhäuser verbindlich zugeleitet. Dieser Ablauf einer Ersteinschätzung wurde in einer Richtlinie des G-BA entworfen, wird aber derzeit vom Bundesgesundheitsministerium nicht freigegeben.
Eine entsprechende Zuordnung muss nötigenfalls auch in einer Notfalleinrichtung persönlich und für den Patienten verbindlich erfolgen. Die Einordnung der Patienten in die 3 Gruppen erfolgt durch nichtärztliches Personal anhand von validierten Algorithmen, wobei ärztliche Beratung kurzfristig hinzugezogen werden kann. Die Kooperation zwischen vertragsärztlichen Strukturen und Krankenhausstrukturen in der Notfallversorgung muss digital sehr effizient vernetzt sein. So sind Doppelerfassungen, -untersuchungen und -einschätzungen im Notfall-Netzwerk transparent und können vermieden werden. Eine ungewünschte mehrfache Inanspruchnahme wird erkennbar und kann unterbunden werden.
Problem V
Die Überlastung der HNO-Klinik-Notfallambulanzen durch Fälle, die nicht mit Mitteln des Krankenhauses ambulant oder stationär behandelt werden müssen, führen dazu, dass Dienstärzte massiv Kapazitäten für die eigentliche stationäre Notfallbetreuung vorhandener Patienten verlieren. Hier ist es wichtig, für allfällige Notfälle personelle Kapazitäten kurzfristig bereitzuhalten. Mitunter musste deshalb in der Vergangenheit die Dienstmannschaft personell verstärkt werden, was nicht durch eine ausreichende Vergütung (Ambulanz- oder Notfallpauschale) gegenfinanziert ist. Gesundheitsökonomisch ist es nicht sinnvoll, personell und/oder apparativ überqualifizierte Notfallstrukturen für einfach zu behandelnde Patienten in Anspruch zu nehmen.
Lösungsvorschlag
Eine Zuweisung in eine HNO-Notfallambulanz einer Klinik erfolgt nur, wenn ein Patient entweder telefonisch oder persönlich durch zuständiges Fachpersonal (durch eine Leitstelle, durch eine KV-Notfallpraxis, an einem „gemeinsamen Tresen“ s.o.) dafür qualifiziert wird. Die Besatzung von Notdienst-Rettungsfahrzeugen kann eigenständig oder nach telemedizinischer Konsultation (z.B. mit einem HNO-Dienstarzt) vertragsärztliche oder am Krankenhaus befindliche Notfallhilfen anfahren. Trotz Zugangsrestriktionen müssen für identifizierbare echte Notfälle schnelle Wege der Versorgung möglich sein. Ein Patient mit ärztlicher stationärer Einweisung muss keine Ersteinschätzung für den Zugang durchlaufen.
Problem VI
Nach ambulanten Operationen entstehen gelegentlich kritische Notfallsituationen, die einer sofortigen Notfallversorgung bedürfen.
Lösungsvorschlag
Bei Durchführung ambulanter Operationen ist eine unmittelbare (48h) Nachsorge in Form von Beratung und/oder Behandlung zu gewährleisten. Die Notfallhilfe muss organisatorisch, örtlich und zeitlich realistisch erreichbar sein, wie es auch im AOP-Vertrag ausgeführt wird [52]. Die Patienten müssen die Notfallhilfe problemlos erreichen und finden können, die Notfallhilfe muss entsprechend personell besetzt werden. Kommt der Patient geplant oder ungeplant in eine neue ärztliche Betreuung, sollten dem übernehmenden Arzt die Aktenunterlagen des Patienten (bspw. aktueller Arztbrief und OP-Bericht) zur Verfügung stehen. Leitstellen müssen in solchen Fällen den Patienten primär an seinen ambulanten Operateur verweisen. In hochdringlichen Fällen werden Leitstelle oder Notarzt natürlich den davon unabhängigen schnellsten und zielführenden Rettungsweg betreiben. Kooperationsverträge mit Dritten für die Notfallhilfe müssen im Sinne realer Qualitätssicherung eine tätige Beteiligung des ambulanten Operateurs verbindlich beinhalten. Wird in einer Struktur eines Krankenhauses in Funktion eines Honorararztes operiert, so ist ebenfalls eine Beteiligung des Operateurs an der 24/7-Versorgung der Patienten wünschenswert.
Problem VII
Die Notfallbelastung hat insbesondere in den Kliniken deutlich zugenommen [53] und stellt u.a. eine Herausforderung für die Dienstplanung dar. Eine aktuelles BSG-Urteil zu den „Pool-Ärzten“ hat die Situation weiter verschärft.
Lösungsvorschlag
Eine Steuerung von Notfallpatienten in Klinik und Praxis muss erfolgen. Die KVen und ihre Vertragsärzte erfüllen zwar ihren ambulanten Sicherstellungsauftrag, jedoch hat sich durch das Urteil des BSG zum „Pool-Arzt“ die Situation deutlich verschlechtert, da viele Vertragsärzte eine Notfalltätigkeit an andere Ärzte delegieren. Einzelne KVen müssen aktuell ihre Notfallstrukturen reduzieren, was wiederum zu einer Zunahme der Patientenströme in die Klinik-Notfallambulanzen führen wird. Nicht davon betroffen sind fachbezogene Notdienste, die allerdings nicht flächendeckend vorhanden und innerhalb der Ärzteschaft auch unterschiedlich geregelt sind. Die Politik wurde durch die Medientätigkeit der Ärzteverbände aktiviert, jedoch sind Lösungen nicht vor Vorlage der Urteilsbegründung des Bundessozialgerichts (s.o.) zu erwarten.
Somit hilft nur ein suffizienter Filter (ILS, INZ) unter Integration einer HNO-Fachkompetenz, damit die differenzialdiagnostische Kompetenz und adäquate Zuleitung in die geeignete Versorgungsstufe nicht verloren gehen. In Abhängigkeit von der Frequenz der Notfälle (und der Belastung der stationären Versorgung) kann es notwendig sein, dass eine (temporäre) Anpassung der Dienstmodelle (Dienststufe bis hin zum Schichtdienst) erforderlich ist.
Problem VIII
Es bedarf einer ausreichenden Anzahl an Terminen im ambulanten und stationären Sektor für Notfallpatienten, wobei deren ausreichende Finanzierung gesichert sein muss.
Lösungsvorschlag
In Abhängigkeit von statistisch zu erhebenden Erfahrungswerten der jeweiligen Region wäre die Vorhaltung ausreichender Kapazitäten im ambulanten und stationären Sektor (z.B. Poliklinik) für Not- und Eilfälle zielführend. Eine adäquate Vergütung muss diese Maßnahme flankieren. Bedauerlicherweise wurde die Neupatientenregelung des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) zurückgenommen, sodass ein vertragsärztlicher Anreiz, Notfall-/Neupatienten kurzfristig zu behandeln, weggefallen ist. Eine Wiederaufnahme dieser Maßnahme und somit deren Endbudgetierung wären ein möglicher Lösungsansatz.
Problem IX
Durch Schaffung zentraler (Filter-)Strukturen in der Notfallversorgung könnte es zu einem Verlust der notwendigen differenzialdiagnostischen Kompetenz und inadäquaten Behandlung der Patienten kommen.
Lösungsvorschlag
Die korrekte Einordung von HNO-Symptomen gelingt dem Triage-Personal nur durch ein adäquates Ausbildungscurriculum, welches gemeinsam mit der Wissenschaftlichen Fachgesellschaft und dem Berufsverband entwickelt werden müsste. Entsprechende Kurse könnten u.a. durch die Deutschen Akademie für HNO-Heilkunde oder durch entsprechende Akkreditierungsprozesse angeboten werden. Auch bedarf es einer zwingenden Integration der gängigen ambulant und stationär zu versorgenden HNO-Notfälle in die Zusatzweiterbildung „Notfallmedizin“ und wichtiger „Klinische Akut- und Notfallmedizin“. Schließlich muss das Fachwissen der HNO-Fachärzte bei telemedizinischen Beratungen sowie den Vorstellungen im ambulanten und stationären Sektor auch bei einer Restrukturierung der Notfallversorgung weiter vorgehalten werden. Allen Beteiligten ist jedoch bewusst, dass die Maßnahmen der telemedizinischen Beratung die Qualität der direkten Untersuchung nicht ersetzen werden und somit immer eine Hilfslösung darstellen.
Fazit
Die überfällige Reform der Notfallstrukturen bedarf einer breiten Abstimmung mit den relevanten Fachgesellschaften und Berufsverbänden und scheint auch innerhalb der HNO-Heilkunde in einer gezielten Filterung im Sinne der Ersteinschätzung und Triage zu bestehen, wobei eine fachspezifische Kompetenz vorgehalten werden muss. Eine solche kann bei den geplanten zentralen Notfallstrukturen (ILS/INZ) durch HNO-spezifische Weiterbildung des triagierenden Fachpersonals bezüglich der Leitsymptome erlangt werden, wie auch durch Vorhaltung telemedizinischer Beratungsoptionen, ggf. unter Einfluss von fachspezifisch programmierter KI. Diese können den direkten Kontakt mit einem HNO-Arzt nicht ersetzen und stellen lediglich überbrückende Hilfsmittel dar. Die Weitervermittlung an eine HNO-fachärztliche Vorstellung erfolgt in Abhängigkeit der Dringlichkeit und des Schweregrads per Termin oder sofort durch Integration der nächsten Versorgungsstufe. Der Notdienst der stationären Versorger bleibt schwerwiegenden Krankheitsbildern vorbehalten, die einer sofortigen, mitunter operativen oder anderweitig interventionellen Behandlung bedürfen.
Die Akzeptanz einer umfassenden Notfallreform wird nur gelingen, wenn neben politischen Institutionen auch die relevanten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenvertretungen im Vorfeld eingebunden und an deren Entwicklung beteiligt werden.
Die Wissenschaftliche Fachgesellschaft und der Berufsverband der HNO-Heilkunde stehen für den notwendigen weiterführenden Dialog mit der Gesundheitspolitik auch in dieser Hinsicht bereit.