Schlüsselwörter Bewegung - körperliche Aktivität - Sport - Therapie - Gesundheit - Versorgung
Keywords physical activity - sport - health - therapie - health care
Einleitung
Das vorliegende DNVF Memorandum „Ziele und Methoden bewegungsbezogener
Versorgungsforschung“ richtet sich in erster Linie an Wissenschaftler*innen
und Versorgende, wissenschaftliche Fachgesellschaften, Forschungseinrichtungen,
Stiftungen und Forschungsförderer, Gesundheitsministerien sowie Patient*innen und
deren Organisationen. Es bezieht sich ausschließlich auf Erwachsene und stellt
Grundlagen der bewegungsbezogenen Versorgungsforschung und zugehörige Methoden vor.
Das Memorandum beschreibt somit eine solide Basis für weitere Forschungsaktivitäten
in diesem Bereich und soll dazu beitragen die interdisziplinäre Zusammenarbeit
weiter zu optimieren.
Die Relevanz von körperlicher Aktivität und körperlichem Training in
Gesundheitsförderung, Prävention, Therapie und Rehabilitation gilt aufgrund der
vielfach belegten positiven Gesundheitswirkungen als unbestritten [1 ]
[2 ]
[3 ]
[4 ]
[5 ]
[6 ]. Daher sind diesbezügliche
Interventionen in verschiedenen Versorgungsformen und unterschiedlichen Kontexten
der Gesundheitsversorgung fest verankert. Vor diesem Hintergrund ergeben sich
vielfältige Fragestellungen und Herausforderungen für die Versorgungsforschung im
Spektrum zwischen einer vertieften Erforschung der Wirkungen bewegungsbezogener
Interventionen in der Versorgungspraxis („effectiveness“) und der Untersuchung der
Möglichkeiten, Förderfaktoren und Hindernisse bewegungsbezogener Maßnahmen im Sinne
der Implementierungsforschung. Für eine systematische Weiterentwicklung der
bewegungsbezogenen Versorgung, z. B. auf Basis der Ermittlung von Unter- und
Fehlversorgung (ggf. auch Überversorgung), mit Blick auf die (Kosten-)Effektivität,
sowie als Querschnittsthema im Rahmen unterschiedlicher Versorgungsbereiche, ist
eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Methoden bewegungsbezogener
Versorgungsforschung notwendig. Denn obwohl überzeugende Evidenz zu den
Gesundheitseffekten von Bewegung vorliegt und zahlreiche Versorgungsangebote im
Versorgungssystem implementiert sind, steht die bewegungsbezogene
Versorgungsforschung derzeit noch am Anfang.
Übergeordnetes Ziel dieses Memorandums ist die Beschreibung adäquater Methoden sowie
begrifflicher und konzeptioneller Grundlagen der bewegungsbezogenen
Versorgungsforschung. Neben der Darstellung konzeptionell-fachlicher Grundlagen im
Bereich der Sport- und Bewegungswissenschaft geht es dabei insbesondere um die
Auseinandersetzung mit Potenzialen und Herausforderungen verschiedener qualitativer
und quantitativer Studiendesigns, Studienarten und Operationalisierungsansätzen
sowie der Implementierungsforschung. Das Memorandum will damit eine solide Basis für
weitere Forschungsaktivitäten in diesem Bereich legen und ein
disziplinübergreifendes Verständnis der Methoden der bewegungsbezogenen
Versorgungsforschung schaffen, um in interdisziplinären Forschungsansätzen eine
angemessene Methodik und Operationalisierung zu bewegungsbezogenen
(Teil-)Fragestellungen der Versorgungsforschung auszuwählen und dadurch bestehende
Forschungslücken zu schließen. Dazu werden im ersten Schritt grundlegende
fachspezifische Begrifflichkeiten eingeführt und ein Überblick zu Maßnahmen der
Bewegungsversorgung in verschiedenen Kontexten des deutschen Gesundheitssystems
gegeben. Davon ausgehend werden aktuelle Fragestellungen und Forschungsbedarfe
herausgearbeitet und Studienarten und Methoden sowie relevante Zielparameter und
Erhebungsinstrumente der bewegungsbezogenen Versorgungsforschung vorgestellt.
Begriffe
Als Grundlage für ein einheitliches Verständnis werden zunächst zentrale Begriffe und
Konzepte für den Themenbereich Bewegung bzw. körperliche Aktivität und Sport
definiert.
Die Begriffe körperliche Aktivität (engl. physical activity ) und
Bewegung (engl. movement ) werden innerhalb dieses Memorandums
synonym verwendet. Sie beinhalten im Sinne der Definition von Caspersen et al.
(1985) jegliche durch Skelettmuskulatur erzeugte Bewegung des eigenen Körpers und
der Gliedmaßen, die zu einem Anstieg des Energieverbrauchs über den
Ruheenergieverbrauch führt [7 ].
Bewegung umfasst damit das gesamte Spektrum körperlicher Aktivitäten in der
Freizeit, im beruflichen Kontext, bei der aktiven Fortbewegung oder bei der Haus-
und Gartenarbeit sowie sportliche Aktivitäten und körperliches Training [8 ]. Körperliches Training (engl.
exercise ) ist eine Subkategorie körperlicher Aktivität, die geplant,
strukturiert und wiederholt primär mit dem Ziel der Verbesserung körperlicher
Funktionen und/oder körperlicher Fitness durchgeführt wird [9 ]. Hierzu zählt z. B. ein
funktionserhaltendes oder ressourcenerweiterndes Kraft- oder Ausdauertraining mit
zugehöriger Kontrolle relevanter Parameter der Trainingsgestaltung. Als
gesundheitsförderliche körperliche Aktivität (engl. health enhancing
physical activity ; hepa) gilt jede Form körperlicher Aktivität, die die
Gesundheit verbessert und dabei möglichst wenig unerwünschte Nebeneffekte hat [10 ]. Charakterisiert wird
gesundheitswirksame Bewegung insbesondere durch deren Art, die Intensität, die Dauer
und deren Häufigkeit. Diese Charakteristika werden auch innerhalb von
Bewegungsempfehlungen genutzt, um eine Bewegungsdosis zu definieren, mit
der gemäß verfügbarer Evidenz Gesundheitseffekte erwartet werden können. Als
gesundheitsförderliche wöchentliche Mindestdosis für Erwachsene gelten 150 Minuten
aerobe körperliche Aktivität in mindestens moderater Intensität (beispielsweise
zügiges Gehen) oder alternativ 75 Minuten in höherer Intensität (beispielsweise
zügiges Laufen/Joggen) oder entsprechende Kombinationen von beiden. Zusätzlich
sollten zwei Mal in der Woche die großen Muskelgruppen gekräftigt werden [11 ]
[12 ]. Von körperlicher Inaktivität
bzw. Bewegungsmangel wird gesprochen, wenn das empfohlene Maß an
körperlicher Aktivität in den jeweiligen Kontexten und Lebenswelten nicht erreicht
wird. Sedentäres Verhalten beschreibt sitzende oder liegende Tätigkeiten und
sollte laut den Bewegungsempfehlungen möglichst reduziert bzw. möglichst häufig
durch Aktivität unterbrochen werden.
Bewegungsförderung umfasst gezielte Maßnahmen, um das Bewegungsverhalten von
Menschen zu verbessern. Zu den Maßnahmen der Bewegungsförderung gehören sowohl
individuumsbezogene Ansätze, die sich auf die einzelnen Menschen beziehen, als
insbesondere auch populationsbezogene Ansätze, die ganze Bevölkerungsgruppen im
Fokus haben [12 ]. Es wird zwischen
verhaltensbasierten Ansätzen, die das individuelle Bewegungsverhalten einer Person
adressieren, und verhältnisbasierten Ansätzen, die die Lebensumwelt (Setting) als
Interventionsansatz fokussieren, unterschieden.
Unter Bewegungsversorgung verstehen die Autor*innen alle Versorgungsansätze in
der Gesundheits- und Krankenversorgung, die Bewegung als Intervention und/oder die
Beeinflussung des körperlichen Aktivitätsverhaltens sowie Körperfunktionen zum
Gegenstand haben. Bewegungsversorgung ist somit weder indikationsspezifisch noch auf
einzelne Versorgungsbereiche bzw. -sektoren begrenzt. Vielmehr findet sie über den
gesamten Versorgungsprozess statt und kann somit als Querschnittsthema verstanden
werden. Gesundheitsförderliche körperliche Aktivitäten und körperliches Training
stehen im Mittelpunkt der Bewegungsversorgung und können sowohl Intervention als
auch Outcome sein. Bewegungsversorgungsforschung setzt sich damit auseinander, wie
man die physischen und psychischen Körperfunktionen von Menschen erhalten bzw.
verbessern kann, um das zum Erhalt oder der Verbesserung von Aktivität und Teilhabe
notwendige Bewegungsverhalten zu ermöglichen. Zudem kann
Bewegungsversorgungsforschung auch Bewegungsversorgungsstrukturen und -prozesse
sowie Eigenschaften von Nutzer*innen und Versorgenden fokussieren. Dazu gehören
z. B. die Determinanten für das Bewegungsverhalten von Personen und deren
Versorgungsbedarfe oder die Ressourcen und spezifischen Charakteristika der
Leistungserbringer.
Bewegungstherapie ist eine zentrale Intervention der Bewegungsversorgung und
definiert als eine ärztlich indizierte und verordnete Bewegungs- und
Trainingsintervention, die von Therapeut*innen geplant und dosiert, gemeinsam mit
dem Arzt bzw. der Ärztin kontrolliert und mit den Patient*innen alleine oder in der
Gruppe durchgeführt wird [13 ]. Hierzu
gehören v. a. die Sport-/Bewegungstherapie, die Physiotherapie sowie teilweise die
Ergotherapie und Rekreationstherapie (Freizeitangebote, die der Stärkung sozialer
und psychosozialer Fähigkeiten dienen).
Ergänzend zu diesen grundlegenden Begrifflichkeiten im Kontext der
Bewegungsversorgung und Bewegungsversorgungsforschung, findet sich im Online-Anhang
ein ausführlicheres Glossar als Zusatzmaterial.
Versorgungskontexte und ergänzende Leistungen
Versorgungskontexte und ergänzende Leistungen
Bewegungsangebote sind in unterschiedlicher Gewichtung Bestandteil der
Versorgungskontexte Prävention und Gesundheitsförderung, Krankenbehandlung,
Rehabilitation und Nachsorge, Pflege und Palliation.
Grundsätzlich orientieren sich bewegungsbezogene Maßnahmen dabei am biopsychosozialen
Modell, welches Grundlage der ICF (International Classification of Functioning,
Disability and Health) ist [14 ]. Sie
zielen auf die Verbesserung der Gesundheit, die Krankheitsbewältigung, die
körperliche Funktionsfähigkeit insgesamt und damit die selbstbestimmte Teilhabe ab.
Unterschiede zeigen sich je nach Versorgungskontext und Zielgruppe in der
inhaltlichen Ausrichtung auf die einzelnen ICF-Komponenten der Körperstrukturen und
-funktionen, der Aktivitäten oder der Partizipation [15 ]
[16 ].
Bewegungsangebote sind das größte Handlungsfeld der Individualprävention und
settingbezogenen Leistungen (z. B. betriebliche Gesundheitsförderung) in der
Primärprävention nach §20 SGB V [17 ] sowie der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Deutschen
Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und basieren konzeptionell auf dem Konzept
der sechs Kernziele des Gesundheitssports [18 ]
[19 ]
[20 ]. Dabei werden Gesundheits-,
Verhaltens- und Verhältniswirkung über sechs Kernziele adressiert: 1) Stärkung
physischer Gesundheitsressourcen, 2) Stärkung psychosozialer Gesundheitsressourcen,
3) Verminderung von Risikofaktoren, 4) Bewältigung von Beschwerden und Missbefinden,
5) Aufbau bzw. Bindung an gesundheitssportliche Aktivität und 6) Verbesserung der
Bewegungsverhältnisse.
Leistungen der Sekundärprävention, z. B. der Deutschen Rentenversicherung Bund,
basieren auf dem Grundprinzip des Vorrangs der Prävention vor Rehabilitation zur
Vermeidung von Behinderung und chronischen Erkrankungen. Zielgruppe sind
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mit ersten gesundheitlichen
Beeinträchtigungen ohne Krankheitswert, aber mit möglicher Gefährdung der ausgeübten
Beschäftigung. Daraus ergeben sich als übergeordnete Ziele die Vermeidung von
Gesundheitsstörungen bzw. Krankheiten und damit eines konkreten
Rehabilitationsbedarfs und die Sicherung einer dauerhaften Beschäftigungsfähigkeit.
Im Gegensatz zum unimodalen Ansatz in der Primärprävention, erfolgt die
bewegungsbezogene Versorgung im Rahmen von sekundärpräventiven Angeboten
handlungsfeldübergreifend und multimodal. Für diesen Rahmen liegt derzeit keine
explizite Theoriebasierung bewegungsbezogener Angebote vor.
In der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung sind bewegungsbezogene
Angebote fest verankert (§ 39 SGB V) und werden von diversen Leistungserbringern
(Therapieberufe, Pflege u. a.) erbracht. So sind beispielsweise bewegungsbezogene
Maßnahmen der Physiotherapie und vereinzelt der Sport-/Bewegungstherapie in den
Kapiteln „Nicht operative therapeutische Maßnahmen“ und „Ergänzende Maßnahmen“ des
Operationen- und Prozedurenschlüssels (OPS) zu finden. Sport-/Bewegungstherapie
kommt dabei vornehmlich in der multimodalen Komplexbehandlung (z. B.
Schmerztherapie) und bei psychischen Erkrankungen zum Einsatz sowie in der Onkologie
zunehmend als Adjuvans in der akuten therapeutischen Behandlung [21 ].
Ärzt*innen können Bewegung auch als Heilmittel verordnen. Bewegungsbezogene
Leistungen werden dabei meist im Rahmen der Physiotherapie als Maßnahmen der
Bewegungstherapie (§ 19 Heilmittel-Richtlinie), aber auch im Rahmen der
Ergotherapie, erbracht und können dabei als Einzel- oder Gruppen-Übungsbehandlungen
umgesetzt werden. Physiotherapeutische Maßnahmen sind an der ICF- ausgerichtet,
wobei bewegungstherapeutische Leistungen laut Heilmittel-Richtlinie primär die Ebene
der Körperfunktionen und -strukturen adressieren. Im Jahr 2020 wurden beispielsweise
für die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) 36,5 Millionen
physiotherapeutische Leistungen mit über 250 Millionen Behandlungssitzungen
abgerechnet [17 ]. Für die ambulante
Versorgung wird aktuell in einem Modellvorhaben gemäß §§ 63 Abs. 2, 64 SGB V der
Ansatz überprüft, dass niedergelassene Ärzt*innen Personen mit nicht-übertragbaren
Erkrankungen (bsp. Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Adipositas
oder Hüft-/Kniegelenksarthrose) Bewegungsanbietern für eine individuelle
Intervention zur Bewegungsförderung zuweisen [22 ]
[23 ].
Einen besonders großen Stellenwert haben Bewegungsangebote in der medizinischen
Rehabilitation einschl. der Anschlussrehabilitation. Diese richten sich an
die Zielgruppe der Personen mit drohenden oder bereits manifesten gesundheitlich
bedingten Beeinträchtigungen der Teilhabe (SGB IX). Die Angebote in diesem
Versorgungskontext basieren auf dem Konzept der Bewegungstherapie. Über alle
Indikationen hinweg können 60,8% aller therapeutischen Leistungen in der
medizinischen Rehabilitation der Bewegungstherapie zugeordnet werden [24 ]. Bewegungstherapeutische Maßnahmen
verfolgen dabei einen mehrdimensionalen Ansatz und beeinflussen physische,
psychische und soziale Funktionen und Ressourcen der Rehabilitand*innen. In der
beruflichen Rehabilitation spielen Bewegungsangebote insgesamt eine untergeordnete
Rolle, kommen aber im Bereich des Assessments zum Tragen.
Darüber hinaus sind zahlreiche ergänzende Leistungen der Bewegungsversorgung
zu nennen. Dabei kann zwischen Nachsorgeangeboten „im engeren Sinne“, d. h.
Angeboten der Kostenträger, und Nachsorgeangeboten „im weiteren Sinne“, z. B. von
Krankenkassen, Volkshochschulen oder anderen Anbietern, unterschieden werden. Von
der Deutschen Rentenversicherung werden bewegungsbezogene Versorgungsleistungen
insbesondere in der multimodalen Intensivierten Rehabilitationsnachsorge IRENA und
der unimodalen Trainingstherapeutischen Reha-Nachsorge (T-RENA) angeboten.
Konzeptioneller Ansatz der T-RENA ist dabei die Wiederherstellung der körperlichen
Leistungsfähigkeit nach der Rehabilitation durch Muskelaufbautraining, medizinische
Trainingstherapie oder Krafttraining an medizinischen Geräten [25 ].
Auch Rehabilitationssport und Funktionstraining gehören zu den ergänzenden Leistungen
zur Rehabilitation. Die Rahmenvereinbarung Rehabilitationssport und
Funktionstraining nach § 64 SGB IX formuliert als Ziele, die funktionale Gesundheit,
die gesellschaftliche, soziale und berufliche Teilhabe sowie die Hilfe zur
Selbsthilfe. Konzeptionell findet Rehabilitationssport in Gruppen statt. Inhaltliche
Ziele liegen in der Verbesserung von Ausdauer, Kraft, Koordination und Flexibilität
sowie der Stärkung des Selbstbewusstseins [26 ]. Funktionstraining umfasst bewegungstherapeutische Übungen, Maßnahmen
zum Erhalt und zur Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit und -funktion (Gelenkschutz)
und die Einübung des Gebrauchs technischer Hilfen (Bsp. Gehstützen) bzw. von
Gebrauchsgegenständen in der Gruppe. Für ärztlich verordneten Rehabilitationssport
und Funktionstraining wurden laut der trägerübergreifenden Ausgabenstatistik der
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation im Jahr 2019 über 290 Millionen Euro
verausgabt [27 ].
Im Bereich der Pflege haben Bewegungsangebote in den letzten Jahren stark an
Bedeutung gewonnen. Seit dem Jahr 2015 ist das Setting der stationären Altenpflege
auch Bestandteil des Präventionsgesetzes und relevante Inhalte der
Bewegungsförderung sind im Leitfaden „Prävention in stationären Pflegeeinrichtungen
nach § 5 SGB XI“ in den verschiedenen Handlungsfeldern adressiert (u. a. körperliche
Aktivität, Stärkung kognitiver Ressourcen und psychosozialer Gesundheit) [20 ]. Ziele der Bewegungsinterventionen
mit Pflegenden integrieren den Erhalt körperlicher und kognitiver Ressourcen und
fördern die Bindung an körperliche Aktivität z. B. über Multikomponentenprogramme
[28 ]
[29 ], Interventionen unterschiedlicher
Dauer in „Bewegungswelten“ [30 ] oder
Maßnahmen zur Erhöhung des Mobilitätsradius, um Aktivitäten und Interaktionen mit
der sozial und physisch erlebten Umwelt zu fördern [31 ]. Einen Überblick über die einzelnen
Sektoren, Leistungen, Leistungserbringer sowie Kostenträger der Bewegungsversorgung
gibt [Abb. 1 ].
Abb. 1 Übersicht bewegungsbezogener Leistungen und Maßnahmen sowie
Leistungserbringer und Kostenträger in den jeweiligen Sektoren der
Bewegungsversorgung (eigene Darstellung in Anlehnung an BMG 2022)[2 ]
[32 ]
Über die Versorgungskontexte hinweg gelten auch digitale Angebote in der
bewegungsbezogenen Versorgung zunehmend als vielversprechend, um medizinische,
therapeutische und pflegerische Versorgungsprozesse, teils sektorübergreifend, zu
unterstützen. Für einzelne Versorgungsbereiche (Prävention, Rehabilitation und
Pflege) sind dazu konkrete Anforderungen und Versorgungsformate definiert. So sollen
beispielsweise Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) Patient*innen dabei
unterstützen, einen selbstbestimmten, gesundheitsförderlichen und körperlich aktiven
Lebensstil zu führen [33 ], wobei
derzeit nur ein geringer Anteil der Bewegungsversorgung zuzuordnen ist (Stand
08/2023). Im Bereich der Prävention kommen Informations- und
Kommunikationstechnologie-basierte Selbstlernprogramme (IKT-Kurse) zum Einsatz [20 ]. Darüber hinaus können inzwischen
auch digitale Präventions- und Gesundheitsförderungsangebote als App,
Internet-Intervention oder im Hybridformat, z. T. abrechnungsfähig, eingesetzt
werden. Insgesamt steht die Entwicklung digitaler bewegungsbezogener
Versorgungsangebote allerdings trotz der Erfahrungen aus der Corona-Pandemie noch am
Anfang.
Bewegungsbezogene Versorgung zielt nicht nur auf die Verbesserung von
Körperfunktionen und dadurch Ermöglichung von Aktivitäten oder die Verbesserung der
Gesundheit, sondern ist in ihren konkreten Organisationsformen unmittelbar selbst
eine Realisierung von Teilhabe. Sie ist deshalb nicht nur im Hinblick auf ihre
Wirkungen und Wirksamkeit in einem instrumentellen Verständnis im Hinblick auf
Gesundheitserhaltung und Krankheitsbewältigung zu untersuchen, sondern auch in ihrer
unmittelbaren Bedeutung für die soziale Teilhabe von Bevölkerungsgruppen einschl.
der Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen. Um dies zu erreichen,
ist beim Zugang als auch bei der Durchführung stets auf Barrierefreiheit und einen
diskriminierungsfreien, umfassend inklusiven Zugang zu achten (vgl. u. a. Art 26 und
30 UN-Behindertenrechtskonvention).
Fragestellungen und Forschungsbedarfe bewegungsbezogener
Versorgungsforschung
Fragestellungen und Forschungsbedarfe bewegungsbezogener
Versorgungsforschung
Wenngleich bislang keine fachübergreifend konsentierte Forschungsagenda für die
Bewegungsversorgungsforschung in Deutschland existiert, gibt es hilfreiche
Publikationen auf dem Weg dorthin [34 ]
[35 ]
[36 ]
[37 ]
[38 ]
[39 ]
[40 ]
[41 ]
[42 ].
Fragestellungen der Bewegungsversorgungsforschung lassen sich in vier übergeordnete
Bereiche einteilen, welche nachfolgend exemplarisch ausgeführt werden. Konkrete
Fragestellungen lassen sich den zitierten Literaturstellen und nachfolgenden
Kapiteln entnehmen:
Wirksamkeitsevaluation und Verbesserung von Bewegungsversorgung:
Patientennutzen analysieren und steigern
Implementieren und Disseminieren/Scaling-Up bestmöglicher
Bewegungsversorgung
Beschreibung und Analyse von Bewegungsversorgung
Ermöglichung, Verbesserung und Priorisierung von
Bewegungsversorgungsforschung
Ad 1) Wirksamkeitsevaluation und Verbesserung von Bewegungsversorgung: Nutzen für
Patient*innen analysieren und steigern
Fragestellungen beziehen sich sowohl auf Wirkungen bewegungsbezogener Interventionen
auf Bewegungsverhaltens- und Gesundheitsoutcomes auf individueller Ebene als auch
auf die Veränderung/Entwicklung der Rahmenbedingungen für Bewegungsförderung. Gemäß
der Effective Practice and Organisation of Care (EPOC) Taxonomy [43 ] können hierbei neben der Erbringung
der eigentlichen Versorgung auch Fragen der Barrierefreiheit und Inklusion sowie der
finanziellen Ausgestaltung und der Steuerung fokussiert werden. Beispielhaft zu
nennen sind Analysen folgender Phänomene, und patientenorientierter bzw.
gesundheitsökonomischer Wirkungen folgender Maßnahmen:
Effekte bewegungsbezogener Interventionen auf Gesundheitsoutcomes inkl.
Dosis-Wirkungsbeziehungen [44 ]
[45 ]
Effekte von Interventionen zur Verbesserung der leitliniengerechten
ärztlichen Bedarfserhebung und Verschreibung sowie der therapeutischen
Planung, Durchführung, Dokumentation und Evaluation von Bewegungsversorgung.
Dazu gehören bspw. die Unterstützung von Therapeut*innen und Patient*innen
durch elektronische Informations-/Kommunikationstechnologien, Qualifizierung
und Edukation (bzw. Akademisierung) oder die Installation von Systemen der
spezifischen Anreizsetzung [22 ]
Effekte von kontextspezifischen Interventionen zur Reduktion von Risiken und
Nebenwirkungen angeleiteter und selbständiger Bewegungsversorgung, bspw.
durch geeignete Screening-Instrumente [46 ]
Effekte von Interventionen zur Erhöhung der Inanspruchnahme bei
unterversorgten Populationen oder in komplexen Versorgungssituationen (z. B.
multimorbid erkrankte Menschen), bspw. die Reduktion von Zugangsbarrieren
(Barrierefreiheit) oder die Einführung von Edukationsmodulen und
Patienteninformationen
Effekte von Maßnahmen zur Verbesserung organisationaler „Bewegungskapazität“
(capacity building) und Bewegungsverhältnisse [47 ]
[48 ]
Nutzen verbesserter Handlungsspielräume für Bewegungstherapeut*innen, bspw.
durch direct access [49 ]
Ad 2) Implementierung, Dissemination und Scaling-Up bestmöglicher
Bewegungsversorgung
Der zweite Fragenkomplex zielt auf die systematische Überführung und Nutzbarmachung
von wirksamkeitsgeprüften Bewegungsinterventionen in die Versorgungspraxis (vgl.
auch Studienarten im nachfolgenden Kapitel). Als Bezugsrahmen für die
Implementierung, aber auch für Dissemination und Scaling-Up, kann aus einer
Perspektive der Implementierungswissenschaft das Consolidated Framework for
Implementation Research (CFIR) genutzt werden [50 ]. Eine eher sozialwissenschaftliche
Perspektive im Sinne kommunaler bzw. sozialraumbezogener Gesundheitsförderung
spiegelt sich in einer Framework-Synthese von Weber et al. aus dem Jahr 2022 für das
Scaling-Up wider [51 ]. Als
Gegenstandsbereiche zu dieser übergeordneten Fragestellung lassen sich exemplarisch
ableiten:
Wissenschaftliche Begleitung der Vorbereitung und Durchführung von
Implementierung, Dissemination und Scaling-Up adäquater Bewegungsversorgung,
darunter:
Monitoring und Benchmarking von Leistungen der Bewegungsversorgung
Anreizsetzung für die ärztlich initiierte Bewegungsförderung bei
unterversorgten Populationen, Entwicklung sektor- und
disziplinübergreifender Versorgungsketten
Verbreitung leicht zugänglicher, qualitativ hochwertiger und elektronisch
im Prozess nutzbarer Materialien im Sinne besserer Manualisierung [52 ]
Analyse förderlicher und hemmender Faktoren für Implementierung und
Scaling-Up der (krankheitsspezifischen) Bewegungsförderung unter
Berücksichtigung relevanter Domänen (CFIR) [22 ]
Potenziale der Akademisierung der Gesundheitsberufe, neuer
Fort-/Weiterbildungskonzepte, verbesserter transprofessioneller
Zusammenarbeit, oder besserer Einbindung von Patient*innen (Shared Decision
Making)
Identifikation von Zugangsbarrieren für vulnerable Personengruppen (z. B. mit
chronischer Krankheit, Behinderung, Pflege- oder schwierigen
Erziehungsaufgaben, Migrationshintergrund oder sozialer Benachteiligung)
Ad 3) Beschreibung und Analyse von Bewegungsversorgung
Entsprechende Fragestellungen fokussieren auf Bewegungsversorgungsleistungen bzw.
zugrundeliegende Akteurs- und Kontexteigenschaften, Strukturen und Prozesse. Aus den
Darstellungen und Analysen sollten sich absehbar spezifische Optimierungspotenziale
oder -bedarfe ableiten lassen. Insbesondere geht es um die Gestaltung der
Leistungserbringung: Wie, wann, wo, von wem, und mit welcher technologischen
Unterstützung wird Bewegungsversorgung erbracht und koordiniert? Themen sind
beispielsweise folgende Aspekte/Phänomene:
Bedarfe, Bedürfnisse, Erwartungen, Ziele und Ressourcen von Patient*innen in
der Bewegungsversorgung sowie Situation, Bedarfe und Wünsche von
Versorgenden [53 ]
Indikations- und zielgruppenspezifische Bewegungsverordnungspraxis und
Inanspruchnahme, Bewegungsangebote und Versorgungspfade bzw. -brüche
inklusive Wartezeiten, Zugangsbarrieren und den Zugang unterstützende
Faktoren, soziale und ökonomische Determinanten der Inanspruchnahme [54 ]
Bedarfsgerechtigkeit, Umfang, Kontinuität, Barrierefreiheit,
Patientenorientierung und Struktur-/Prozessqualität (inter)disziplinärer
Bewegungsversorgung für unterschiedliche Krankheitsbilder,
Versorgungssettings, oder Regionen [55 ]
[56 ]
[57 ]
Bewegungsversorgungsstrukturen inklusive politischer Vorgaben und sich ergebender
Anreize und Handlungsmöglichkeiten zur Förderung körperlicher Aktivität
innerhalb der Sozialversicherungssysteme (z. B. GKV, DRV, DGUV)
Ad 4) Ermöglichung, Verbesserung und Priorisierung von
Bewegungsversorgungsforschung
Themen des vierten Forschungsbereichs zielen darauf ab, methodische Optionen zu
erweitern, methodische Standards zu etablieren und eine Forschungsagenda bzw.
-priorisierung herbeizuführen. Zu nennen sind hier beispielhaft die folgenden
Themen:
Entwicklung standardisierter Instrumente für Dokumentation und Monitoring der
Inhalte und Qualität von Sport-/Bewegungstherapie und Physiotherapie im
Versorgungskontext
Entwicklung und Konsentierung spezifischer Standards für Erhebungen und
Konsentierung von Core Outcome Sets für Studien und Klinik [58 ]
Einigung und konsequente Anwendung von Reporting Standards, bspw. das
Exercise Reporting Template (CERT) [59 ]
Entwicklung von Registersystemen zur Verzahnung von bewegungsbezogener
Forschung, Leitlinien (LL) und Versorgung, bspw. um die LL-Umsetzung etc.
darstellen zu können
Partizipative Identifikation und Konsentierung versorgungsrelevanter
Themenfelder und Forschungsfragen mit Bewegungsversorgenden und
Betroffenen
Systematische Analyse der Schwerpunkte bisher für den deutschen
Versorgungsbereich publizierter bewegungsbezogener Versorgungsforschung im
Abgleich mit Forschungsprioritäten [60 ]
Studienarten und Methoden in der bewegungsbezogenen Versorgungsforschung
Studienarten und Methoden in der bewegungsbezogenen Versorgungsforschung
Für die Bearbeitung der vorgestellten übergeordneten Fragestellungen und
exemplarischen Gegenstandsbereiche bewegungsbezogener Versorgungsforschung lässt
sich über die Sektoren der Gesundheitsversorgung eine Einteilung in vier
Studienarten (nachfolgend als A-D bezeichnet) vornehmen. Auch wenn diese Einteilung
nicht durchgängig trennscharf ist, ermöglicht sie grundsätzlich eine orientierende
Übersicht der eingesetzten Studienarten, Studiendesigns und jeweiligen Methoden bzw.
Methodologien[1 ] der
Bewegungsversorgungsforschung. Bei den nachfolgend beschriebenen Studienarten gilt
es dabei grundsätzlich, quantitative und qualitative Methoden in Bezug auf die
jeweilige Forschungsfrage, angemessen anzuwenden und ggf. zu kombinieren (mixed
methods).
A) Studien zu Wirkungen bewegungsbezogener Interventionen auf
Gesundheitsoutcomes auf individueller Ebene im Versorgungsalltag
Ein zentraler Bereich bewegungsbezogener Versorgungsforschung fokussiert auf
Wirkmechanismen und Gesundheitseffekte strukturierter Interventionsprogramme auf
individueller Ebene. Dazu gehören Fragestellungen, die im vorherigen Kapitel unter
„Wirksamkeitsevaluation und Verbesserung der Bewegungsversorgung“ beschrieben
wurden. Dabei kommen, je nach Fragestellung und Zielgröße, grundsätzlich alle
etablierten Studiendesigns zur Anwendung, z. B. Querschnittstudien, Fall-Kontroll-
und Kohortenstudien, Kontrollgruppendesigns inkl. pragmatic trials mit und ohne
Randomisierung sowie Systematic Reviews und Meta-Analysen.
Interessante Datenquellen für die bewegungsbezogene Versorgungsforschung sind hierbei
die verschiedenen Surveys des regelmäßigen Gesundheitsmonitorings des Robert
Koch-Instituts (RKI). Auf dieser Datenbasis wurden z. B. die Prävalenz und zeitliche
Trends einer ärztlichen Bewegungsberatung in Deutschland sowie der Zusammenhang mit
der Inanspruchnahme von primärpräventiven Bewegungsangeboten untersucht [61 ]. In einer anderen Studie wurde das
Bewegungsverhalten von Diabetiker*innen in Abhängigkeit von der Teilnahme an einem
strukturierten Behandlungsprogramm (DMP) analysiert [62 ]. Seit einigen Jahren erfolgt auch
vermehrt eine Verknüpfung von individuellen Befragungs- und Untersuchungsdaten mit
Abrechnungsdaten der Kostenträger, was eine wichtige Datengrundlage für zukünftige
Forschungsansätze der Bewegungsversorgungsforschung darstellen kann. Bundesweite und
regionale Kohortenstudien, die Untersuchungs- und Versichertendaten verknüpfen und
für die Analyse bewegungsbezogener Fragestellungen in Betracht gezogen werden
können, sind z. B. die NAKO-Gesundheitsstudie [63 ] oder die SHIP-Studie [64 ]. Darüber hinaus gibt es weitere
bundesweite und regionale Kohortenstudien, die eine geeignete Ressource für die
Bewegungsversorgungsforschung darstellen, wie z. B. KORA- [65 ] oder die Carla-Studie [66 ]. Bei einer entsprechenden
Fragestellung und insbesondere zur Überprüfung neuer Versorgungsansätze werden in
der Bewegungsversorgungsforschung auch RCTs durchgeführt [67 ]
[68 ], wie z. B. die BEST-Studie zur
Wirksamkeit körperlichen Trainings während der Krebstherapie [69 ]. Da bewegungsbezogene Studien im
Versorgungsalltag die Herausforderungen bei der Evaluation komplexer Interventionen
mit sich bringen [70 ]
[71 ]
[72 ], wird auch auf Designvarianten des
klassischen RCTs, wie zum Beispiel Cluster-RCT oder Warte-Kontrollgruppen bzw.
Crossover Designs, zurückgegriffen.
Eine besondere Herausforderung in der Bewegungsversorgung wird darin gesehen, dass
gesundheitliche Effekte häufig nicht unmittelbar, sondern erst mit teilweise
deutlicher Verzögerung auftreten bzw. messbar sind. Bewegungsinterventionen haben
meist eine klar definierte Dauer (Bsp. medizinische Rehabilitation,
Präventionskurs), mit dem Ziel, erste bio-psycho-soziale Effekte auf Seiten der
Teilnehmer*innen zu erzielen und eine Grundlage für eine möglichst langfristige
Lebensstiländerung zu initiieren. Entsprechend notwendige Untersuchungen mit einem
Follow-up von mehr als zwölf Monaten, sind aber eher die Ausnahme. Daher können
häufig nur kurz- bis mittelfristige Effekte untersucht werden. So eignen sich bei
einigen Fragestellungen, z. B. zur Bewegungsförderung im Kindesalter, besser
Beobachtungsstudien, die entweder prospektiv, wie die KiGGS-Studie [73 ] oder retrospektiv (z. B.
retrospektive Fall-Kontroll-Studien) Risikofaktoren mit relevanten
Gesundheitsoutcomes in Verbindung setzen.
Neben Primärstudien sind zur Untersuchung der Wirkung bewegungsbezogener
Interventionen auch Sekundärdatenanalysen von Abrechnungs- und Routinedaten von
Kostenträgern und Leistungserbringern von hoher Relevanz. An dieser Stelle sind
z. B. Daten zur Verordnung und Inanspruchnahme bewegungsbezogener
Versorgungsleistungen (Präventionskurse, Heilmittelverordnungen,
Rehabilitationsmaßnahmen und Nachsorgeangebote) auf Basis von Abrechnungsdaten der
Kostenträger zu nennen. Auf diese Weise können Versorgungsangebote hinsichtlich
ihrer Anwendung und Wirksamkeit analysiert und evaluiert werden. Beispielsweise
konnten Sekundärdatenanalysen anhand von Abrechnungsdaten der Deutschen
Rentenversicherung (DRV) einerseits zeigen, dass die Verordnung von
Nachsorgeangeboten (Rehabilitationssport) im Bereich der kardiologischen
Rehabilitation tendenziell rückläufig und die Inanspruchnahme solcher Angebote mit
ca. 20% in der Zielgruppe eher gering ist [54 ]. Andererseits konnte gezeigt werden, dass Personen, die im Anschluss
an die medizinische Reha mit Rehabilitationssport beginnen, ein ca. 50% geringeres
Sterblichkeitsrisiko und geringere Raten vorzeitiger Berentung aufweisen als
Personen, die nicht am Rehasport teilnahmen [44 ].
B) Studien zur Implementierung und Umsetzung evidenzbasierter
bewegungsbezogener Interventionen
Neben der Wirkung auf Individuumsebene ist die systematische Überführung und
Nutzbarmachung von wirksamkeitsgeprüften Bewegungsinterventionen in die
Versorgungspraxis ein wesentliches Ziel der Bewegungsversorgungsforschung.
Entsprechende Fragestellungen gehören zum Bereich „Implementierung, Dissemination
und Scaling-Up bestmöglicher Bewegungsversorgung“ (vgl. vorheriges Kapitel). Diese
systematische Überführung kann mit entsprechenden Implementierungsinterventionen auf
Grundlage der Theorien, Modelle und Rahmenkonzepte der Implementierungsforschung
[74 ]
[75 ]
[76 ] erfolgen (zur begrifflichen
Abgrenzung von Intervention vs. Implementierungsintervention siehe Eldh et al., 2017
[77 ]). Dabei wird der
Implementierungsprozess von Bewegungsangeboten unter Berücksichtigung von
Ausgangsbedingungen, Prozessbedingungen, Förderfaktoren und Barrieren systematisch
evaluiert, was die Untersuchung von ggf. notwendigen Anpassungen der
Originalintervention an die Versorgungsrealität einschließt.
Da für Implementierungsstudien nicht immer bereits fertig entwickelte und
evidenzbasierte Bewegungsinterventionen vorliegen, können diese auch innerhalb einer
Implementierungsstudie entwickelt und evaluiert werden. Eine Differenzierung
sogenannter „effectiveness-implementation hybrid studies“ unterscheidet dabei drei
Varianten [78 ]
[79 ]:
Typ I: Testung von Interventionswirkungen bei gleichzeitiger Datensammlung
zur Implementierung
Typ II: Gleichzeitige Evaluation von Interventionswirkungen und
Implementierungsstrategie
Typ III: Evaluation der Implementierungsstrategie bei gleichzeitiger
Datensammlung zu Interventionswirkungen
Dies kann ebenso unter den bereits genannten „pragmatic trials“ [80 ]
[81 ] umgesetzt werden, die eine
Anpassung des Designs und der methodischen Schritte erlauben, um in der
Versorgungsrealität bestmögliche Evidenz zu generieren. Bei der Auswahl adäquater
Forschungsmethoden kann auch hier auf das Methodenspektrum zur Entwicklung und
Evaluation komplexer Interventionen zurückgegriffen werden [72 ]. Zudem können die Erfolgsaussichten
der Umsetzung evidenzbasierter Interventionsansätze im jeweiligen Praxiskontext
durch die Berücksichtigung von Qualitätskriterien für die Konzeption,
Implementierung und Evaluation von Interventionen zur Bewegungsförderung gesteigert
werden.
Einem Typ I- Design folgt beispielsweise die ComeBACK Studie. Diese pragmatische RCT
untersucht primär die Effekte physiotherapeutischer Bewegungsberatungen
unterschiedlichen Umfangs auf den Bewegungsumfang sowie patientenorientierte
Endpunkte von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen [45 ]. Sekundär wird die
Implementierbarkeit des Beratungsansatzes anhand einer Prozessevaluation
eingeschätzt. Die Studie orientiert sich dabei an den PRACTIS-Empfehlungen
(PRACTical planning for Implementation and Scale-up) [82 ]. PRACTIS benennt konkrete Schritte,
wie im Forschungsprozess möglichst frühzeitig die Implementierung und das Scaling-up
von Bewegungsinterventionen im Kontext klinischer Settings und Public Health
mitgedacht werden kann.
Als Beispiel für ein Design vom Typ II dient hier das Projekt „BewegtVersorgt“ [22 ]. Im Rahmen der
Implementierungsstudie wird der Implementierungsprozess mit den relevanten
Einflussfaktoren sowie die Wirkung der Intervention bei den Teilnehmenden in der
Versorgungsrealität evaluiert, wobei sowohl quantitative als auch qualitative
Datenerhebungen im Quer- und Längsschnitt erfolgen. Dabei wurde ein systematischer
Ko-Produktionsansatz zur Entwicklung einer sogenannten „Bewegungsversorgungskette“
umgesetzt. Innerhalb dieser Kette erfolgt bei entsprechender Indikation die
ärztliche Verordnung einer individuellen Bewegungsintervention und die Weiterleitung
an spezifisch geschulte Bewegungstherapeut*innen. Am Ende der Kette soll die
Überführung in vorhandene Bewegungsangebote, z. B. in Sportvereinen, erfolgen. In
Kooperation mit den beteiligten Kostenträgern gelang dabei die Implementierung der
Intervention im Rahmen eines Modellvorhabens §§ 63 Abs. 2, 64 SGB V.
Als Beispiel für eine Studie vom Typ III kann die Analyse der Implementierung einer
international etablierten Arthrose-Trainingsintervention in der Schweiz fungieren
[52 ]. Die unter Einbindung von
Patient*innen und Öffentlichkeit geplante Mixed-Methods Studie evaluiert primär die
Implementierungsstrategie und schätzt sekundär die Effekte ein. Sie folgt im
Reporting der TIDieR Checkliste (Template for Intervention Description and
Replication) [83 ].
C) Studien zur Veränderung/Entwicklung der Rahmenbedingungen für
Bewegungsförderung
Da das Bewegungsverhalten maßgeblich durch physische, soziale, und
organisationale (Versorgungs-) Verhältnisse bzw. Strukturen der Lebenswelt
beeinflusst wird, ist auch die nachhaltige Beeinflussung und Weiterentwicklung
dieser Verhältnisse und Strukturen für Bewegungsförderung ein wichtiger Gegenstand
der Bewegungsversorgungsforschung. Entsprechende Fragestellungen gehören ebenfalls
zum Themenbereich „Wirksamkeitsevaluation und Verbesserung von Bewegungsversorgung“
des vorherigen Abschnitts.
Die Effekte einer Modifikation der physischen Umgebung eines
(Versorgungs-)Settings (Infrastruktur, gebaute Lebensumwelt) auf das
Bewegungsverhalten werden meist in prospektiven Kohortenuntersuchungen oder
sogenannten natürlichen Experimenten untersucht, die eine Prä-Post-Messung des
Bewegungsverhaltens zulassen [84 ].
Dabei konnte gezeigt werden, dass eine veränderte Infrastruktur positive Effekte auf
das Gehen zu Fuß, das Radfahren und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel hatte
(ebd.). Bislang fehlen allerdings längsschnittliche Studien, welche die Wirkungen
von Veränderungen räumlicher Gegebenheiten in Versorgungseinrichtungen (z. B.
Raumgrößen, Flurgestaltung, Bodenbeläge, Zugänglichkeit etc. in Krankenhäusern oder
Pflegeeinrichtungen) analysieren. Auch zu den Effekten der Veränderung sozialer
Strukturen auf bewegungsbezogene Endpunkte existieren nur wenige
Längsschnittuntersuchungen, was unter anderem auf die relative Stabilität der
Sozialstrukturen zurückzuführen ist. Meist handelt es sich um nicht-experimentelle
Studiendesigns und Fallstudien. Die zahlreichen Querschnittsuntersuchungen zu
sozialen, physischen und organisationalen Aspekten und dem Bewegungsverhalten werden
weiter unten vorgestellt (Abschnitt D).
Die Verbesserung organisationaler Strukturen für die Bewegungsförderung und
damit einhergehend die Schaffung von Kapazitäten und Handlungsmöglichkeiten
(capacities, capabilities) ist häufig Gegenstand prospektiver Untersuchungen. Als
Beispiel für den klinischen Kontext ist das bereits oben beschriebene Projekt
„BewegtVersorgt“ zu nennen. Oft ist jedoch eine Unterscheidung zwischen
Versorgungsforschung und Gesundheitsförderung/Public Health nicht trennscharf
vorzunehmen. Weitere Beispiele zur Verbesserung organisationaler Strukturen mit
Bewegungsbezug finden sich u. a. im BIG-Projekt [85 ]
[86 ] oder dem Forschungsverbund
Capital4Health [47 ].
Projekte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Bewegung und Bewegungsförderung,
fokussieren allerdings selten isoliert die physischen, sozialen oder
organisationalen Verhältnisse, sondern setzen in der Regel auf mehreren Ebenen der
Verhältnis- und Verhaltensintervention an. Das methodisch breite Spektrum solcher
Studien sowie die gezielte Verknüpfung der verschiedenen Methoden sollen anhand der
nachfolgend auszugsweise skizzierten Ansätze und (Teil-)Methoden ausgewählter
Projekte verdeutlicht werden.
Das „BaSAlt“-Projekt im Setting Altenwohnheim war beispielsweise als Mixed-Methods
Studie angelegt. Einem partizipativen Ansatz folgend (kooperative Planung) und mit
biopsychosozialer Zielsetzung wurden eine Settinganalyse durchgeführt und
bewegungsbezogene Interventionen initiiert. Die Analyse zu bewegungsförderlichen und
-hemmenden Potenzialen, Bewegungsmustern und -interaktionen, bewegungsbezogenem
Klima und körperlicher Aktivität erfolgte anhand systematischer Beobachtungen,
Interviews, Audits und Gruppendiskussionen. Darauf aufbauend wurde eine
partizipative Interventionsstudie zur Beratung auf organisationaler und
lebensweltlicher Ebene sowie der Ebene bewegungsbezogener Individualberatung der
Senior*innen realisiert [87 ].
Das von der AOK Rheinland/Hamburg finanzierte Projekt “KomRüBer” initiierte und
evaluierte eine überbetriebliche Bewegungsnachbarschaft unter Nutzung kommunaler und
regionaler Strukturen für Klein- und Kleinstbetriebe (KKU). Dabei wird die Bildung
und gemeinsame Nutzung des überbetrieblichen Netzwerks anhand relationaler Daten
mittels sozialer Netzwerkanalyse ausgewertet [88 ].
Die Mehrzahl derartiger Projekte verfolgt einen partizipativen Ansatz. In einer
Überblicksarbeit zu partizipativen, kooperativen Forschungsansätzen konnten Hoekstra
et al. (2020) die verschiedenen Studienthemen kategorisieren [89 ]. Hierbei standen die Beziehungen
zwischen den Partnern, die Koproduktion von Wissen, die Stakeholder-Einbindung, die
Schaffung von Kapazitäten, Unterstützung und Ressourcen, Kommunikationsprozesse und
ethische Fragestellungen im Mittelpunkt. Nicht zuletzt sind partizipative Ansätze
der Bewegungsförderung auch Gegenstand ökonomischer Evaluationen bzw. von
Kosten-Nutzen-Analysen [90 ].
D) Studien zur übergreifenden Analyse von Versorgungsleistungen bzw.
zugrundeliegender Akteurs- und Kontexteigenschaften, Strukturen und
Prozessen
Obwohl Bewegungsinterventionen in zahlreichen Sektoren des Gesundheitssystems
stattfinden, fehlen oftmals Informationen zu deren struktureller Einbettung sowie
zur Struktur- und Prozessqualität und den jeweiligen Rahmenbedingungen. Dies gilt
sowohl für individuumsbezogene Bewegungsinterventionen zur Veränderung des
Bewegungsverhaltens (vgl. A) als auch für Maßnahmen zur Verbesserung struktureller
Voraussetzungen der Bewegungsförderung (vgl. C). Entsprechende wissenschaftliche
Fragestellungen lassen sich dem im vorherigen Kapitel dargestellten Bereich
„Beschreibung und Analyse von Bewegungsversorgung“ zuordnen.
Hierfür bedarf es Studien zur System-, Struktur- und Prozessanalyse im Hinblick auf
die Quantität und Qualität der Bewegungsversorgung in den verschiedenen
Versorgungssektoren. Solche Studien dienen der Identifikation von Unter-, Fehl- und
Überversorgung mit bewegungsbezogenen Interventionen sowie der Untersuchung von
Barrieren, Förderfaktoren und weiteren Rahmenbedingungen sowie
gesundheitsökonomischer Aspekte für eine wirksame Bewegungsversorgung. Entsprechende
Studien können zunächst auf Dokumentenanalysen (gesetzliche Verankerung, Leitfaden,
Leitlinien etc.) zurückgreifen, um die Einbettung in die Strukturen des
Gesundheitssystems sichtbar zu machen. Kosten-Effektivitätsanalysen stellen zudem
ein wichtiges methodisches Instrument für gesundheitsökonomische Fragestellungen
dar, kommen in der Bewegungsversorgungsforschung bisher jedoch noch nicht
ausreichend zum Einsatz. Darüber hinaus erlauben querschnittliche Analysen die
Untersuchung von Struktur- und Prozessqualität der bewegungsbezogenen
Interventionen, z. B. hinsichtlich der Passung von Zielsetzung, Inhalten und
Methoden in der Praxis der Bewegungsversorgung und in Bezug zur aktuell vorliegenden
Evidenz. Exemplarisch dafür kann an dieser Stelle das Projekt BewegTheReha genannt
werden, welches sich mit einer Bestandsaufnahme zur Bewegungstherapie in der
medizinischen Rehabilitation auf Einrichtungs- und Akteursebene befasst [91 ]. Mittels quantitativer
(standardisierte Befragung) und qualitativer (Fokus-Gruppen) Methoden wurde eine
umfassende Analyse der Struktur- und Prozessqualität der Bewegungstherapie
erarbeitet und u. a. eine hohe Heterogenität der bewegungstherapeutischen Versorgung
innerhalb von Indikationsbereichen und über diese hinweg identifiziert [57 ]. Zudem ergaben sich vertiefte
Einblicke in die Sichtweisen der Bewegungstherapeut*innen im Hinblick auf deren
Rollen innerhalb des therapeutischen Teams und zu den wahrgenommenen Möglichkeiten
und Grenzen der Qualitätsentwicklung [92 ]. Insgesamt leiteten sich aus den vielfältigen Ergebnissen konkrete
Handlungsempfehlungen für die Bereiche der Personal- und Organisationsentwicklung im
Rehabilitationssystem ab [91 ] und es
ergaben sich erweiterte Ansatzpunkte für die rehabilitationswissenschaftliche
Versorgungsforschung in diesem Bereich [93 ]. Veränderungen in der Versorgungspraxis lassen sich dann mit
längsschnittlich angelegten Studien oder Trendstudien beobachten. Ein weiteres
Beispiel zur Analyse von Prozess- und Strukturqualität der Bewegungsversorgung ist
das Projekt MOMENTUM, in dem rd. 1.300 Menschen mit Krebserkrankungen sowie rd. 900
Vertreter*innen der Gesundheitsberufe querschnittlich zu Barrieren und
Förderfaktoren von Bewegung befragt wurden [56 ].
Fragen nach spezifischen Akteurseigenschaften bzw. Struktur- und
Prozessqualitätsaspekten werden in der Bewegungsversorgungsforschung zunehmend auch
mit qualitativen Studien bearbeitet. Beispielsweise die Frage nach notwendigen
Kompetenzen von Bewegungstherapeut*innen [94 ] bzw. Gesundheitscoaches in der betrieblichen Gesundheitsförderung
[95 ] nach subjektiven
Qualitätskriterien von Bewegungsangeboten in der Individualprävention [96 ] oder den Sichtweisen verschiedener
Akteure zu Intervention und Implementation [97 ]
[98 ].
Zur übergreifenden Analyse von Versorgungsleistungen gehört auch die Einschätzung der
Bedarfsgerechtigkeit. Ein erstes Scoping-Review hat für den Bereich der
physiotherapeutischen Bewegungsversorgung in Deutschland eine erhebliche
Variabilität der Bedarfsgerechtigkeit aufgezeigt [55 ]. In den eingeschlossenen
querschnittlichen Studien zu 16 Indikationsbereichen variierte der Anteil
physiotherapeutisch bedarfsgerecht versorgter Patient*innen zwischen 3%
(Harninkontinenz) bis 72% (Osteoporose).
Bezüglich der physischen Umgebung analysieren zahlreiche quantitative Studien,
inwieweit die bauliche und landschaftliche Umgebung und (Versorgungs-)Infrastruktur
Bewegung ermöglicht. Hier sind beispielsweise Untersuchungen der
Fußgängerfreundlichkeit von Quartieren [99 ] oder der Gestaltung von Krankenhäusern zu nennen [100 ]. Hinsichtlich der sozialen
Strukturen existieren u. a. quantitative Studien, die einen Zusammenhang von
sozioökonomischer Lage und sozialer Unterstützung mit dem Bewegungsverhalten der
Allgemeinbevölkerung aufzeigen [101 ].
Auch qualitative Zugänge spielen eine wichtige Rolle, wie eine aktuelle Synthese
(Meta-Ethnographie) zu diesem Thema zeigt. Hier wird das Bewegungsverhalten von
Patient*innen als komplexes Phänomen im Kontext multipler Interaktionen auf Ebene
von Patient*innen, Versorgenden und Krankenhauskultur beschrieben [102 ].
Zielparameter und Instrumente
Zielparameter und Instrumente
Neben bewegungsspezifischen Zielparametern gilt es im Hinblick auf die
Mehrdimensionalität bewegungsbezogener Interventionen insbesondere Parameter zu
berücksichtigen, die in der patient*innenorientierten Versorgung und damit auch für
die Bewegungsversorgungsforschung bedeutsam sind. Für die in diesem Abschnitt
genannten Zielparameter gilt auf allen Ebenen, dass sich neben den genannten
quantitativen Instrumenten auch qualitative Erhebungsmöglichkeiten anbieten. Häufig
verspricht deren kombinierter Einsatz (Mixed-Methods Ansatz) Vorteile. Wie die
publizierte Darstellung der qualitativen Forschungspraxis in der
Versorgungsforschung der DNVF-Arbeitsgruppe „Qualitative Methoden“ zeigt, bestehen
breite Anwendungsgebiete von der Bedarfsforschung über die Generierung von Vorwissen
im Rahmen der Instrumentenentwicklung bis hin zur Evaluation im Sinne der Bewertung
von Versorgungsstrukturen [103 ].
Methodisch sollte dabei in Abhängigkeit der Fragestellung und des Kontextes ein
geeignetes Verfahren innerhalb des qualitativen Spektrums in Betracht gezogen
werden, beispielsweise Interviews mit Einzelpersonen (Leitfaden-/Experten-/Narrative
Interviews, face to face oder telefonbasiert), Gruppenverfahren (Fokusgruppen,
Gruppendiskussionen) sowie Interaktionsaufzeichnungen, teilnehmende Beobachtung,
oder Dokumentenanalysen. Gleiches gilt für die Auswertungsmethoden. Für weitere
allgemeine und spezifische Aspekte der Einordnung und ebenso zur Steigerung der
Qualität wird auf das Diskussionspapier Teil 3 („Qualität qualitativer Studien“) der
DNVF AG qualitative Methoden verwiesen [104 ]. Weitere Publikationen dieser AG geben Empfehlungen speziell zur
Methodenwahl und Planung [105 ], sowie
zur Moderation und Auswertung von Gruppendiskussionen [106 ].
Die folgende Darstellung der Zielparameter und Instrumente erfolgt unter Bezugnahme
auf die Mikro-, Meso- und Makroebene der Versorgung (siehe [Abb. 2 ]). Es werden entsprechend des
Throughput-Modells der Versorgungsforschung Input-, Throughput-, Output- und
Outcome-Faktoren unterschieden [107 ].
Die Darstellung fokussiert hierbei auf die Versorgungsstrukturen des
Gesundheitssystems. Auf die Bedeutung weiterer relevanter systemischer Kontexte
außerhalb des Versorgungssystems, wie beispielsweise kommunale Strukturen oder die
Arbeitswelt kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Eine umfassende
Auflistung aller relevanten Zielparameter kann [Tab. 1 ] entnommen werden.
Abb 2 Ebenen und Beispiele für Zielparameter bewegungsbezogener
Versorgungsforschung (eigene Darstellung)
Tab. 1 Übersicht relevanter Parameter der bewegungsbezogenen
Versorgungsforschung (Mikro-, Meso- und Makroebene).
Individuum: Patient*in/Klient*in (Mikroebene)
Gegenstand
Parameter
Bewegungsverhalten
Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz
Steuerungskompetenzen (Effektwissen, Handlungswissen)
Konsequenz- und Selbstwirksamkeitserwartung
Soziale/individuelle Normen
soziales/individuelles Rollenverständnis
Zielintention
Gedächtnis,- Aufmerksamkeits- und
Entscheidungsfähigkeit
Planungskompetenzen (Handlungs- und
Bewältigungsplanung)
wahrgenommene Barrieren
Selbstregulationskompetenzen (Selbstbeobachtung,
-belohnung)
Physische und psychische Gesundheit
Körperliche Funktions- und Leistungsfähigkeit/Fitness
Energieverbrauch
Selbständigkeit und Mobilität
Senkung von Risikofaktoren
Lebensqualität, Wohlbefinden
Aktivität und Teilhabe
Morbidität und Krankheitslast
Mortalität
Adverse Events
Verordnung und Inanspruchnahme bewegungsbezogener
Versorgungsleistungen
Gesundheitssport
Präventionssport
Sport-/Bewegungstherapie
Kuration, Heilmittel (Physiotherapie)
Medizinische Rehabilitation
Nachsorge
Rehasport, Funktionstraining
Versorgungsbezogenes Wissen und Einstellungen
Versorgungsbedürfnisse
Kenntnis und Wahrnehmung von bewegungsbezogenen
Versorgungsangeboten
Mobilität im Sinne des Erreichens von
Bewegungsangeboten
Kognitionen und Haltung in Bezug auf die Versorgung,
Interventionskomponenten, Prozesse, und
Umgebungsfaktoren
Individuum: Versorgende (Mikroebene)
Gegenstand
Parameter
Bewegungsverhalten
Bewegungs- und versorgungsbezogenes Wissen und Einstellungen
Kognitionen und Haltung in Bezug auf die
Bewegungsversorgung und deren mögliche Veränderung
Motivation und Barrieren für bestmögliche
Bewegungsversorgung
Selbstwirksamkeit bzgl. der Erbringung bestmöglicher
Bewegungsversorgung und Implementierung neuer
Versorgungsansätze
Änderungsbereitschaft
Identifikation mit der Versorgungsthematik/dem
Arbeitgeber/der Organisation
Steuerungskompetenzen (Effektwissen, Handlungswissen)
Verständnis von Barrierefreiheit
Kommunikationskompetenzen
Umsetzung von Partizipation
Verständnis von Behinderung und selbstbestimmter
Teilhabe
Organisation (Mesoebene)
Gegenstand
Parameter
Versorgungsstruktur und -prozesse
Anzahl Therapeut*innen, Ärzt*innen, etc. pro
Einrichtung
Intraprofessionelle Zusammenarbeit
(Sport-/Bewegungstherapeut*innen, Physiotherapeut*innen,
etc.)
Qualifikation der Leistungserbringer
(Zusatzqualifikationen, Zertifikate, Lizenzen)
Versorgungsnetzwerke
Dokumentation, Analyse und Optimierung von
Versorgungsprozessen
Geräte/Materialien, Räume, Architektur, Umgebung
(Bewegungsförderlich?)
Intersektorale und interprofessionelle Zusammenarbeit
Gruppenatmosphäre (Bsp. Rehabilitationssportgruppen)
Barrierefreiheit
Versorgungsqualität
Patientenzufriedenheit mit Bewegungsversorgung
Art, Umfang, Dauer der Versorgungsleistung (Bewegung)
Leitlinienadhärenz
Teilhabeorientierung
Zielerreichung (Ergebnisqualität)
Intrinsische Charakteristika der Organisation
Notwendigkeit und relative Priorität von
Bewegungsförderung und entsprechenden Veränderungen
Bereitschaft und Offenheit gegenüber Bewegungsförderung
und weiteren Veränderungen
Organisationsziele und Anreizsetzung
Organisationale Gesundheitskompetenz
Lernklima, Fehlerkultur, Wertschätzung und
Führungskultur
Reflexion und Evaluation von Versorgungs- und
Veränderungsprozessen
Zugang zu und Nutzung von (wiss.) Informationen
Charakteristika und Einfluss von Patientenorganisationen
Zugang zu, Nutzung von, Dissemination von (wiss.)
Informationen
Wahrgenommene Notwendigkeit und Forderungen bzgl.
Veränderungen im Versorgungssystem
Grad der Vernetzung und Kommunikation mit
Versorgenden
Organisation der wechselseitigen Unterstützung bei der
Krankheitsbewältigung d. Begegnung und Beziehung
Auch: Leistungsanbieter
Rechtliche Beratung, u. a. im Hinblick auf
Inanspruchnahmemöglichkeiten
Kooperation bei Forschungsvorhaben
Gesundheitssystem (Makroebene)
Gegenstand
Parameter
Bedarfsanalyse
Bedarf an Versorgungsleistungen
Inanspruchnahmeverhalten
Barrieren für Inanspruchnahme
Verbreitung von Gesundheitskompetenz/ förderliche und
hindernde Faktoren
Versorgungsstruktur und –kontext
Anzahl Leistungserbringer (Region)
Qualitätsanforderungen und Versorgungsqualität bei
Wettbewerbern
Internationaler Vergleich
Bedarfsdeckung
Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen
Vergütungs- und Anreizsysteme
Gesundheitspolitische Agenda
Forschungsförderung, -strukturen
Leitlinien und Empfehlungen
Gesundheitsökonomie
Kosteneffektivität
Kosteneffizienz
Mikroebene: Personen mit Risikofaktor oder Gesundheitsstörung
Auf der Mikroebene der individuellen Versorgung hängt die Wahl des passenden
Erhebungsinstruments nicht nur vom Zielparameter ab. Zu berücksichtigen sind
neben den benötigten materiellen und personellen Ressourcen (organisationale
Ebene) auch die Eigenschaften des Individuums, die das Messergebnis beeinflussen
können. Beispielsweise können bei (Klein)Kindern viele Verfahren zur
Registrierung von körperlicher Aktivität und Funktion nicht eingesetzt werden,
und bei geriatrischen Patienten sind spezifische Anpassungen von Testverfahren
erforderlich, unter anderem mit Blick auf deren Hör- oder Sehvermögen sowie
feinmotorische Fähigkeiten [108 ].
Bei Personen mit eingeschränkter kognitiver Leistungsfähigkeit sind einfache
Testverfahren zu bevorzugen und für Personen mit geringen Deutschkenntnissen
sollten nach Möglichkeit übersetzte Fragebogeninstrumente verwendet werden [109 ].
Auf Zielgruppen- bzw. Bevölkerungsebene sind Morbidität und Mortalität in der
Bewegungsversorgungsforschung geeignete Größen, um den Effekt von Interventionen
zu untersuchen. Die Morbidität stellt unter Anwendung eines angemessenen
Studiendesigns insbesondere in der Primärprävention eine geeignete Größe dar, um
das spezifische Interventionsziel zur Verhinderung einer Krankheit zu
evaluieren. In der Rehabilitation spielt darüber hinaus das Thema der
Multimorbidität und deren Beeinflussung durch sport-/bewegungstherapeutische
Maßnahmen zunehmend eine größere Rolle. Wichtige Datenquellen stellen hierbei
Versicherten- und Abrechnungsdaten der Sozialversicherungsträger dar, die über
Behandlungs- und Gesundheitsdaten hinaus auch Informationen zur Mortalität
beinhalten [44 ]. Das
Krankheitsgeschehen lässt sich jedoch nicht auf Morbiditätsdaten reduzieren:
subjektiv erlebte Krankheitslast sowie Bewältigungshandeln in seinen
vielfältigen Dimensionen und seine Abhängigkeit von Ressourcen sind Gegenstand
von bewegungsbezogener Forschung, da Bewegung zu den wesentlichen
Bewältigungsstrategien gehört und zudem auf Krankheiten selbst Einfluss nehmen
kann.
Bewegungsverhalten
Körperliche (inkl. sportliche) Aktivität auf Mikroebene kann in der
Bewegungsversorgung sowohl Intervention als auch Outcome sein.
Bewegungsumfang und -intensität werden dabei entweder subjektiv über
Fragebögen oder apparativ erhoben (z. B. Akzelerometer). Fragebögen weisen
allgemein eine geringere Validität und Reliabilität auf als gerätegestützte
Messverfahren [110 ]
[111 ] und neigen dazu, den
Umfang körperlicher Aktivität und insbesondere intensive körperliche
Aktivität zu überschätzen. Die Validität gegenüber objektiven
Erhebungsinstrumenten erreicht überwiegend nur geringe bis moderate
Übereinstimmung [112 ]
[113 ]. Dennoch gelten
Fragebogeninstrumente, unter Berücksichtigung der genannten Schwächen,
insbesondere für größere Stichproben als geeignet, um das Bewegungsverhalten
standardisiert zu erfassen. Für die Standardisierung von Interventionen bzw.
zur Evaluation entsprechender Maßnahmen (und Sicherung der
Treatment-Integrität) sollte die durchgeführte Aktivität möglichst konkret
im Hinblick auf Art, Umfang, Dauer und Intensität beschrieben bzw. erhoben
werden. Häufig eingesetzte Fragebögen sind z. B. der International Physical
Activity Questionnaire (IPAQ) oder der European Health Interview Survey
Physical Activity Questionnaire (EHIS-PAQ) [114 ]
[115 ]. Motive und Ziele im
Freizeit- und Gesundheitssport können beispielsweise über das Berner Motiv-
und Zielinventar (BMZI) erfasst werden [116 ]
[117 ]. Beim Einsatz
gerätegestützter Erhebungsmethoden sollten Standards zu Tragezeiten und
Auswertungsstrategien berücksichtigt und berichtet werden, um Ergebnisse
vergleichbar zu machen [118 ].
Ein häufiges Problem bei marktgängigen Fitness-Trackern sind mangelnde
Vergleichs- und Validierungsstudien mit verschiedenen Geräten und
Herstellern [119 ]. Hier können
Open Source- Anwendungen und Algorithmen Abhilfe schaffen [120 ].
Das körperliche Training als planvolles und strukturiertes Handeln mit
dem Ziel der Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit ist sowohl den
Ebenen des Inputs als auch Throughputs zuzuordnen. Untersuchte Inputfaktoren
sollten sich standardmäßig an den FITT-Kriterien des American College of
Sports Medicine (ACSM) orientieren und beinhalten die Häufigkeit
(Frequency), Intensität (Intensity), Dauer (Time) und Art (Type) der
Aktivität [121 ]. Für den
Throughput sind darüber hinaus die tatsächliche Umsetzung und längerfristige
Adhärenz an eine begonnene Trainingsintervention im therapeutischen Prozess
relevant. Die Belastungssteuerung und Progression von Trainingsinhalten zur
Optimierung von Adaptionsprozessen kann objektiv über entsprechende
Belastungsparameter (Bsp. Herzfrequenz, Watt pro kg Körpergewicht, Prozent
der Maximalkraft, etc.) oder subjektiv (Bsp. BORG-Skala) erfolgen [122 ]
[123 ]. In der
Bewegungsversorgung sollten Trainingsinterventionen stets durch entsprechend
qualifizierte Bewegungsfachkräfte (Sport-/Bewegungstherapeut*innen,
Sportwissenschaftler*innen, Physiotherapeut*innen) ausgewählt und
durchgeführt werden.
Der Energieumsatz wird in Grund- und Leistungsumsatz unterschieden. Der
Leistungsumsatz wird maßgeblich durch das individuelle Bewegungsverhalten
bestimmt. Je nach Indikation (Bsp. Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2,
metabolisches Syndrom) ist eine Gewichtsreduktion durch Anpassung der
Energiebilanz primäres oder sekundäres Behandlungsziel. Der
bewegungsinduzierte Energieverbrauch kann hierbei als sog. metabolisches
Äquivalent (MET; metabolic equivalent of task) dargestellt werden. Das MET
spiegelt den intensitätsabhängigen Energieverbrauch wider [124 ]. Eine umfassende Übersicht
und Einstufung unterschiedlicher Aktivitätsformen und -intensitäten bietet
das Physical Activity Compendium von Ainsworth et al. (2011) [125 ].
Verfahren zur Beurteilung physischer und psychischer Gesundheit
Verfahren zur Beurteilung der physischen und psychischen Gesundheit sind als
therapeutische Zielgrößen auf der Outcome-Ebene relevant, sie müssen jedoch
auch auf der Input-Ebene mitgedacht und -betrachtet werden, um eine
bestmögliche auf das Individuum abgestimmte Versorgung zu ermöglichen. Im
Rahmen der Bewegungsversorgungsforschung sind hierbei insbesondere die
körperliche Funktions- oder Leistungsfähigkeit der Patient*innen, die
Mobilität sowie die Morbidität und Mortalität auf somatischer Ebene
relevant. Komponenten der psychosozialen Gesundheit betreffen neben der
Lebensqualität und dem Wohlbefinden auch die Bereiche von Aktivität und
Teilhabe. In diesem Kontext ist stets die soziale Lage der Betroffenen zu
berücksichtigen. Personen mit geringem Sozialstatus weisen im Durchschnitt
schlechtere Werte sowohl der körperlichen als auch der psychischen
Gesundheit auf [126 ].
Körperliche Funktions- und Leistungsfähigkeit
Parameter der körperlichen Leistungsfähigkeit (Fitness), fokussieren
überwiegend auf die Bereiche der aeroben (Ausdauer) und der muskulären
Leistungsfähigkeit (Kraft). Als Goldstandard zur Erfassung der
Ausdauerleistung gilt die Spiroergometrie zur Bestimmung der maximalen
Sauerstoffaufnahmefähigkeit (VO2max) [127 ]. Hierbei sollte nach
Möglichkeit eine Ausbelastung der Proband*innen angestrebt werden. Apparativ
weniger aufwändige Verfahren sind Stufentests wie das WHO-Protokoll
(Fahrradergometer) oder das Bruce-Protokoll (Laufband), wobei über
entsprechende Formeln die VO2max abgeschätzt werden kann. Der sog. PWC-Test
(Physical Working Capacity) oder die Ermittlung der Leistung bei einem
definierten Anstrengungsempfinden (z. B. Borg 15, anstrengend) erfordern
keine Ausbelastung und werden daher häufig als wesentlich angenehmer
empfunden. Sofern von Interesse, kann bei Erhebungen invasiv die
Laktatkonzentration im Kapillarblut zur Einschätzung der Beteiligung
anaerober Energiebereitstellungsprozesse bestimmt werden [128 ]. Ein für Patient*innen mit
reduzierter Ausdauer-Leistungsfähigkeit häufig genutztes Testverfahren ohne
apparative Voraussetzungen ist der 6 Minuten-Gehtest [129 ].
Bei der Erhebung der muskulären Leistungsfähigkeit wird zwischen spezifischer
und allgemeiner Kraftfähigkeit unterschieden werden. Die Handgreifkraft
[130 ] und Aufstehtests
(Five Chair Rise Test, 30-Second Chair Stand Test) [131 ] sind einfache, aber
zuverlässige Methoden, die allgemeine Kraftfähigkeit zu bestimmen.
Spezifische Testverfahren für einzelne Muskeln oder Muskelgruppen werden je
nach Indikation gewählt, dabei ist zu berücksichtigen, welche muskuläre
Kraftfähigkeit getestet werden soll (bspw. Maximalkraft oder Kraftausdauer)
und, ob dies dynamisch (konzentrisch, exzentrisch), isometrisch (statisch)
oder isokinetisch erfolgen soll. Neben den apparativen Testverfahren können
auch Muskelfunktionstests zur Überprüfung der spezifischen Kraftfähigkeit
herangezogen werden (z. B. Muskelfunktionstest nach Janda) [132 ].
Bei Verfahren zur Erfassung der körperlichen Funktionsfähigkeit steht
insbesondere die selbstständige Bewältigung von Alltagsanforderungen in
Bezug auf die Mobilität und die Selbstversorgung im Vordergrund. Einfache
und in der Versorgungsforschung häufig eingesetzte Verfahren sind
beispielsweise der Timed up and Go Test (TUG) als Äquivalent zur Mobilität
in der Wohnung [133 ], die
Gehgeschwindigkeit sowie Chair Rise Tests zur Bestimmung der
Kraftfähigkeiten der unteren Extremitäten [134 ]. Zunehmend werden auch der
de Morton Mobility Index (DEMMI) und das Hierarchical Assessment of Balance
and Mobility (HABAM) eingesetzt, die bei guten psychometrischen
Eigenschaften weniger Boden-/Deckeneffekte aufweisen als die zuvor genannten
Verfahren [60 ].
Zur Erfassung von motorischen Fähigkeiten gibt es je nach Zielgruppe
unterschiedliche Testverfahren z. B. zur Gleichgewichtsfähigkeit,
Koordination, Beweglichkeit, Mobilität sowie einfache und komplexe
Testverfahren zur Erfassung der Alltagsmotorik (Heben, Tragen,
Treppensteigen, Hausarbeit, etc.). Aufgrund der Vielzahl verfügbarer
Testverfahren und Erhebungsmethoden wird hier auf das Standardwerk von Bös
et al. Handbuch motorische Tests aus dem Jahre 2017 [135 ], sowie auf die Reihe
Assessments in der Rehabilitation mit Fokus auf Neurologie,
Kardiologie und Pneumologie sowie muskuloskelettale Rehabilitation verwiesen
[136 ]
[137 ].
Bei der Auswahl der Testverfahren ist auf eine ausreichende Standardisierung
zu achten. Normwerttabellen ermöglichen eine alters- und
geschlechtsspezifische Einordnung und Interpretation der Ergebnisse. Bei
spezifischen Fragestellungen (bspw. in der neurologischen Rehabilitation)
können apparativ gestützte Verfahren zur Bewegungsdiagnostik zum Einsatz
kommen (z. B. Posturografie, kameragestützte Bewegungsanalyse (2D, 3D),
sensorbasierte Ganganalyse).
Unerwünschte Ereignisse (Adverse Events)
Neben den beschriebenen positiven Gesundheitswirkungen gilt es zu beachten,
dass Bewegungsinterventionen auch Schäden und negative Wirkungen hervorrufen
oder begünstigen können. Diese reichen von eher harmlosen, kurzfristigen
Nebenwirkungen (z. B. Muskelkater) über Unfälle und Verletzungen bis hin zu
schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen (z. B. plötzlicher Herztod). Für
eine präzise Einschätzung der Effekte und damit auch des
Kosten-Nutzen-Verhältnisses und um eine adäquate Aufklärung und optimale
Gestaltung der Intervention zu ermöglichen, sollten die Art, Schwere und
Häufigkeit von Nebenwirkungen und unerwünschten Ereignissen erhoben und
berichtet werden. Bislang fehlen jedoch bei jeder fünften
Interventionsstudie Angaben zu aufgetretenen Nebenwirkungen und
unerwünschten Ereignissen [138 ]. Auch werden die Gründe für geringe Adhärenz und Dropout nur
selten berichtet [138 ]
[139 ], obwohl hierbei
bewegungsbezogene Nebenwirkungen und negative Ereignisse (z. B.
Verletzungen) eine wichtige Rolle spielen können.
Nicht zuletzt auch für den Bericht von Nebenwirkungen bei
Bewegungsinterventionen wurde das Consensus on Exercise Reporting Template
(CERT) [59 ] entwickelt. Es
beinhaltet u. a. auch die Benennung von Art und Anzahl der während und nach
Bewegung aufgetretenen Nebenwirkungen. Es werden bewegungsbezogene
Besonderheiten im Sinne der psychophysischen Response wie z. B. Schmerz oder
Muskelkater, sowie die assoziierte Adhärenz thematisiert. Für die
standardisierte Registrierung von Nebenwirkungen und unerwünschten
Ereignissen in randomisiert kontrollierten Studien steht beispielsweise das
erweiterte CONSORT zur Verfügung [140 ].
Lebensqualität und Teilhabe
Zur Erfassung sog. Patient Reported Outcome Measures (PROMs) wie z. B.
Lebensqualität und Wohlbefinden existieren kaum
bewegungsspezifische Instrumente, weshalb auf etablierte Instrumente wie den
SF-36 oder den EQ-5D verwiesen wird. Insbesondere in der medizinischen
Rehabilitation sowie in der Geriatrie werden Instrumente wie z. B. der
Barthel-Index zur Erfassung der Selbstständigkeit in Aktivitäten des
täglichen Lebens eingesetzt [141 ]
[142 ], wobei
die Aussagekraft insbesondere in der Langzeitversorgung durch Deckeneffekte
eingeschränkt sein kann. Zur Operationalisierung von Messungen der Teilhabe
wird ferner auf generalisierte (z. B. IMET) oder indikationsspezifische
Instrumente verwiesen [143 ].
Diese können Indikatoren für die Teilhabe abbilden, sind jedoch im Hinblick
auf die Abbildung der Praxis der Teilhabe (Einbezogensein in eine
Lebenssituation) zu ergänzen.
Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz
Neben dem Bewegungsverhalten zielen Bewegungsinterventionen auch auf die
individuelle Gesundheitskompetenz ab. Denn die Teilnehmenden sollen im
Anschluss an die Intervention soweit möglich eigenständig körperlich aktiv
bleiben. Hierfür bedarf es adäquater motorischer Fertigkeiten und
Fähigkeiten, relevantem Handlungs- und Effektwissen [144 ] sowie passender
motivational-volitionaler Voraussetzungen [145 ]. Das Modell der
bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz (BGK) [146 ]
[147 ] integriert diese Elemente,
auch mit Blick auf die im Bereich der Gesundheitsversorgung hohe Bedeutung
der individuellen Gesundheitskompetenz, welche stark von Faktoren wie
Bildung, Sozialstatus, etc. abhängt. Mit dem Fragebogen zur Erfassung der
BGK [148 ] liegt ein
entsprechendes Instrument zur Erfassung der relevanten Teilkompetenzen
vor.
Verordnung und Inanspruchnahme bewegungsbezogener
Versorgungsleistungen
Verordnungs- und Inanspruchnahmeraten können in Verbindung mit weiteren
Gesundheitsdaten von Personen mit (hohem) Versorgungsbedarf Anhaltspunkte
zur Beurteilung einer leitliniengerechten Behandlung sein. Im Bereich der
Prävention können die Häufigkeit der Inanspruchnahme sowie Angaben zu Alter,
Geschlecht und Kostenträger dargestellt werden. In der Heilmittelversorgung
können detaillierte Aussagen zur Verordnungshäufigkeit und Inanspruchnahme,
verordnender Fachärzt*innengruppe, Behandlungshäufigkeit, Indikation und
Behandlungskosten über Abrechnungsdaten getroffen werden [17 ]
[149 ]. In der medizinischen
Rehabilitation sind die Inhalte und Umfänge sport- und
bewegungstherapeutischer Leistungen festgeschrieben. In diesem Kontext
stehen somit überwiegend Fragen der Häufigkeit einer Verordnung, die Dauer
der Rehabilitation sowie der Übergang in die ambulante
Rehabilitationsnachsorge und deren Form (bspw. Rehabilitationssport,
Funktionstraining) im Zentrum bewegungsbezogener Versorgungsforschung. Zudem
ist bekannt, dass sich die Inanspruchnahme gesundheitlicher
Versorgungsleistungen teilweise stark zwischen unterschiedlichen
Bevölkerungsgruppen, Regionen und Ethnien unterscheidet. Es empfiehlt sich
daher, die Teilnahmebereitschaft und die Adhärenz in Bezug auf
bewegungsbezogene Versorgungsleistungen dahingehend getrennt zu betrachten,
wie es beispielsweise die Deutsche Rentenversicherung bereits tut [150 ].
Versorgungsbezogenes Wissen und Einstellungen
Das versorgungsbezogene Wissen von Patient*innen sowie deren Einstellungen
gegenüber entsprechenden Maßnahmen, Leistungserbringern und Kostenträgern
sind wichtige Zielgrößen und Einflussparameter der
Bewegungsversorgungsforschung. Neben dem grundlegenden Wissen zu Art, Umfang
und potenziellem Nutzen spielt die Kenntnis der Verfügbarkeit
bewegungsbezogener Versorgungsangebote sowie die individuelle Erreichbarkeit
eine entscheidende Rolle für den Erfolg und sollte stets bei der Planung und
Evaluation berücksichtigt werden und ist eng mit der Gesundheitskompetenz
verknüpft.
Wenngleich nicht immer auf Deutsch verfügbar, haben sich im Sinne einer
stärker bio-psycho-sozialen Perspektive zunehmend wissenschaftlich
entwickelte Fragebögen etabliert, die krankheitsbild- oder
kontextspezifische Kognitionen abbilden. Dazu gehören Erfassungen von Pacing
als Copingstrategie bei chronischen Erkrankungen mittels Activity Pacing
Questionnaire [151 ],
Registrierungen der Körperwahrnehmung bei chronischen Rückenschmerzpatienten
anhand des Freemantle Back Awareness Questionnaire [152 ], Haltungen, Normen und
Handlungskontrolle gegenüber Bewegung im Grünen mit dem (Indirect) Beliefs
about Green Exercise Questionnaire [153 ], sowie die bewegungsbezogenen Gesundheitsüberzeugungen mit
dem Health Belief Model Scale for Exercise [154 ]. Vor einem Einsatz in
deutscher Sprache müssen übersetzte Instrumente zunächst validiert werden.
Häufig werden für die Erfassung der Patientenperspektive auch qualitative
Methoden eingesetzt. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des
nicht-spezifischen Rückenschmerzes, bei dem die Behandlung zu einem großen
Teil aus bewegungsbezogenen Maßnahmen besteht [155 ]
[156 ].
Mikroebene: Versorgende
Bewegungsverhalten und Bewegungskompetenz
Analog zum Bewegungsverhalten von Patient*innen stellt das Bewegungsverhalten
und die Bewegungskompetenz der Versorgenden einen entscheidenden
Input-Faktor zum Gelingen einer Intervention dar. Versorgende sind nicht
selten Vorbilder für ihre Patient*innen, Übungen müssen demonstriert,
angeleitet und korrigiert werden. All das setzt gewisse Bewegungskompetenzen
insbesondere der Therapeut*innen und Übungsleiter*innen aber auch weiteren
Berufsgruppen wie beispielsweise Hebammen voraus. Zudem ist bekannt, dass
beispielsweise sportlich aktive Ärzt*innen ihre Patient*innen häufiger zum
Thema körperliche Aktivität beraten als ihre inaktiven Kollege*innen [157 ].
Bewegungsbezogenes Wissen und Einstellungen
Um vormals inaktive Personen an gesundheitsförderliche körperliche Aktivität
und ein gesundheitsorientiertes Training heranzuführen und bei der Umsetzung
zu begleiten, sind auf Seiten der Versorgenden bewegungsbezogenes Wissen und
eine positive und motivierende Einstellung elementar. Ebenso müssen
Barrieren einer optimalen Bewegungsversorgung evaluiert werden (Bsp.
Bewegungsberatung). Die am häufigsten genannten Barrieren für eine
Bewegungsberatung ärztlicherseits sind mangelnde zeitliche Ressourcen, eine
unzureichende Vergütung, ungenügendes Wissen über die Effekte körperlicher
Aktivität sowie die Annahme, die Patient*innen würden entsprechende
Empfehlungen sowieso nicht umsetzen [157 ]
[158 ]
[159 ]. In Deutschland berichten
durchschnittlich nur knapp 10% und in den USA 32% der Bevölkerung, bei einem
ihrer letzten Arztbesuche zum Thema körperliche Aktivität beraten worden zu
sein [61 ]
[160 ]. Sowohl für die ärztliche
Beratung als auch für die therapeutische Tätigkeit sind
Steuerungskompetenzen wie Handlungs- und Effektwissen zentrale
Voraussetzungen für eine evidenzbasierte Beratung und Behandlung und zur
Entwicklung der bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz der Patient*innen
und sollten in der Versorgungsforschung miterfasst werden.
Aktuell fehlen dafür häufig die spezifischen Erhebungsinstrumente. Die Health
Care Providersʼ Pain and Impairment Relationship Scale (HC-PAIRS) erfasst
Haltungen und Überzeugungen von Therapeut*innen bezüglich der Frage, wie
häufig und wie sehr Rückenschmerzen Beeinträchtigungen und Behinderungen
nach sich ziehen [161 ]. Ein
jüngeres Beispiel für eine umfassende qualitative Fokusgruppen-Studie zu
Sichtweisen der Sport-/Bewegungstherapeut*innen wurde von Geidl et al. im
Kontext der medizinischen Rehabilitation in Deutschland durchgeführt. Dabei
war es das Ziel Inhalte und Methoden zur Bewegungsförderung zu
identifizieren, sowie Barrieren und Förderfaktoren zu deren Durchführung
[162 ].
Gesprächsführung und die Interaktion von Ärzt*in, Therapeut*in sowie Hebamme
mit den -Patient*innen bzw. Frauen rund um die Geburt- stellen einen
weiteren relevanten Throughput-Faktor bewegungsbezogener
Versorgungsforschung dar.
Mesoebene: Organisation
Im Kontext der Bewegungsversorgung umfasst der Begriff der Organisation alle
Einrichtungen, die direkt oder indirekt an bewegungsförderlicher und
bewegungstherapeutischer Versorgung beteiligt sind. Hierzu gehören Sport-,
Patienten-, Berufs- und Fachverbände, Einrichtungen mit präventiven,
gesundheitsförderlichen und rehabilitativen Versorgungsangeboten, politische
Einrichtungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Optimale
Versorgungsstrukturen und -prozesse gewähren Patient*innen/Teilnehmer*innen
einen möglichst nahtlosen, bedarfsgerechten und niedrigschwelligen Zugang zu
Bewegungsangeboten. Strukturelle Rahmenbedingungen in den Organisationen wie
beispielsweise die Personalstruktur und Qualifikation der Anbieter, ebenso wie
Ausstattung, Klima, interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie umfassende
Barrierefreiheit tragen maßgeblich zu einer patientenzentrierten
Bewegungsversorgung bei [163 ]
[164 ]. Qualitätsindikatoren bzw.
Indikatorensets auf organisationaler Ebene können relevante Struktur- und
Prozessmerkmale zur Sicherung der bewegungsspezifischen Leistungserbringung
abbilden [163 ]
[165 ]. Das Wesen und insbesondere
die Methoden der organisationsbezogenen Versorgungsforschung sind bereits
umfänglich in eigenen Memoranden beschrieben [166 ]
[167 ]
[168 ]. Im folgenden Abschnitt sollen
deshalb die bewegungsspezifischen Aspekte und Instrumente hervorgehoben
werden.
Versorgungsstruktur- und Versorgungsprozessqualität
Die Personalstruktur ist eine entscheidende Kennzahl eines
einrichtungsinternen Qualitätsmanagements [169 ] und wird üblicherweise
absolut als Anzahl an bewegungsbezogenen Professionen oder als Relation zum
Personalvolumen einer Einrichtung bzw. der Patientenzahlen angegeben. Im
Rahmen der Reha-QS-Studie wurde der Zusammenhang von Behandlungserfolg,
Adhärenz, Patientenzufriedenheit und strukturellen Qualitätsindikatoren wie
dem Personalschlüssel belegt [170 ]
[171 ]
[172 ]. Mit der Betrachtung von
Personalkennzahlen lassen sich interdisziplinäre Versorgungsaspekte wie
bspw. die Sicherstellung von Versorgungspfaden beleuchten.
Weitere relevante Strukturmerkmale sind räumliche und medizinisch-apparative
Ausstattungen von bewegungsbezogenen Versorgungseinrichtungen. Die
Strukturmerkmale sichern nicht nur die Qualität der Versorgung, sondern
dienen ebenso der bedarfsgerechten Zuweisung [173 ]. Die Anforderungen sind
hierzu im Rahmen der DRV bzw. in den Rahmenempfehlungen der BAR formuliert
und können entsprechend evaluiert werden [15 ].
Die Zusammenarbeit von verschiedenen bewegungs- und gesundheitsbezogenen
Professionen (z. B. Sport-/Bewegungstherapeut*in, Physiotherapeut*in,
Ärzt*in, Hebamme) als auch Übungsleiter*innen hat einen hohen Stellenwert
bei der Erreichung nachhaltiger Behandlungserfolge. Die Zusammenarbeit kann
intersektoral, interdisziplinär oder intradisziplinär stattfinden. Die
intersektorale Zusammenarbeit innerhalb einer Organisation kann ebenso als
Versorgungsnetzwerk bezeichnet werden. Zur strukturellen Bewertung von
Versorgungsnetzwerken interessieren Merkmale wie z. B. zentrale und
periphere Akteure, die Netzwerkgröße und -dichte, die Kohäsion, die
Fragmentierung und verschiedene Formen der Kooperation. Die strukturellen
Parameter lassen sich mit Prädiktoren und Outcomes verknüpfen und
ermöglichen weitergehende Analysen über Entstehung und Wirkungen von
Versorgungsnetzwerken. Hier kommen quantitative und qualitative Methoden der
sozialen Netzwerkanalyse zum Einsatz [174 ]
[175 ]. Netzwerkanalysen sind in
der bewegungsbezogenen Versorgungsforschung bislang stark
unterrepräsentiert, bieten jedoch, zum Beispiel bei der Überbrückung von
Schnittstellen in der Versorgung, Potenzial, wenn es um die
zielgruppenspezifische sektorenübergreifende Versorgung geht.
Viele Bewegungsangebote in der Gesundheitsversorgung werden als
Gruppenangebote (Bsp. Präventionssport, Rehabilitationssport,
Funktionstraining, etc.) angeboten. Die Gruppenatmosphäre oder das -klima
ist dabei eine weitere wichtige Rahmenbedingung, die entscheidend zur
Compliance [176 ], zur
Motivation [177 ] und zur
grundlegenden Teilnahmebereitschaft und Bindung [178 ]
[179 ] an Bewegungsmaßnahmen
beitragen kann. Gleichzeitig ist das Gruppenklima aus Perspektive der
Bewegungsfachkräfte ein wichtiger Bestandteil der bewegungsbezogenen
Leistungserbringung und damit Qualitätsmerkmal der Einrichtung bzw.
Bewegungsfachkraft. Als Erhebungsinstrumente kommen unter anderem die
deutsche Version des Gruppenfragebogens (GQ-D) [180 ], die Kurzversion des
Gruppenklima-Fragebogens (GCQ-S, Shortform of the Group Climate
Questionnaire) [181 ] oder die
Hill-Interaktionsmatrix [182 ]
in Frage. Ein positives Gruppenklima wirkt förderlich auf andere
Gruppenprozesse wie Bindungen, Selbstöffnung, realistische Interaktionen und
höheres Engagement [183 ].
Ergebnisqualität in der Versorgung
Versorgungsqualität ist durch Orientierung an der Erreichung von Zielen
gekennzeichnet [184 ]. Diese
betreffen die Gesunderhaltung, Krankenbehandlung, Krankheitsbewältigung und
die Förderung der körperlichen Funktionsfähigkeit einschließlich der
selbstbestimmten Teilhabe in allen Lebensbereichen sowie die Palliation und
sind überwiegend auf der Ebene des Individuums angesiedelt. Auf
Organisationsebene sollen Indikatoren wie beispielsweise die
Patient*innenzufriedenheit und Leitlinienadhärenz die Ergebnisqualität
sichern.
Die Patient*innenzufriedenheit ist ein Teilaspekt der Versorgungsqualität und
zählt zu den Patient-Reported Experience Measures (PREMs) [185 ]. Es bestehen positive
Zusammenhänge zwischen Patient*innenzufriedenheit und
Behandlungseffektivität, Motivation und ökonomischen Kennzahlen [186 ]. Die Deutsche
Rentenversicherung ermittelt in den Reha-QS-Erhebungswellen regelmäßig seit
1997 mittels eines standardisierten Fragebogens die
Rehabilitandenzufriedenheit. Für die Erhebung der Patient*innenzufriedenheit
empfiehlt sich der Einsatz etablierter, valider und reliabler Kurzfragebögen
und -skalen wie dem ZUF-8 [187 ], dem ZAPA [188 ], für internationale Vergleiche der CSQ-8 (Client
Satisfaction Questionnaire) [189 ] oder die PSS (Patient Satisfaction Scale) [190 ]. Spezifische Instrumente
für den bewegungsbezogenen Kontext existieren derzeit nicht. Bei der Auswahl
eines geeigneten Instruments ist auf das angedachte Einsatzgebiet (bspw.
stationäre, ambulante Versorgung) zu achten [191 ]
[192 ].
Leitlinienadhärenz ist ein versorgungsspezifischer Qualitätsindikator, der
den Grad der Umsetzung von publizierten Leitlinien erfasst. Indirekt kann
auf die Dissemination von evidenzbasierten Versorgungsansätzen geschlossen
werden [193 ]. Methodisch kann
die Leitlinienadhärenz über den Abgleich von empfohlenen Maßnahmen der
jeweiligen Leitlinie mit den tatsächlich verordneten Maßnahmen (bspw.
Heilmittelbericht) ermittelt werden [194 ]. Für bewegungsspezifische Leistungen in der Rehabilitation
kann ein Abgleich zwischen den Reha-Therapiestandards und den dokumentierten
KTL-Daten (KTL-Analyse) vorgenommen werden. Kennzahlen zu Art, Dauer und
Umfang von empfohlenen und verordneten bewegungstherapeutischen Maßnahmen
sind damit ebenso von zentralem Interesse.
Intrinsische Charakteristika der Organisation
In der Organisation liegende Merkmale stellen in der
Bewegungsversorgungsforschung wichtige Input- und Throughput-Faktoren dar
und sind für die Zusammenarbeit in der bewegungstherapeutischen Versorgung
von zentralem Interesse. Nahtlose Übergänge, flächendeckende Angebote und
niedrigschwellige Zugangswege sind entscheidend in der Rückfallprävention zu
sedentärem Verhalten. Die lückenlose Versorgung mit zielgruppenspezifischen
bewegungstherapeutischen Angeboten erfordert wiederum interdisziplinäre
Netzwerke, ein einheitliches Verständnis der Bewegungsversorgung und eine
gute Zusammenarbeit. Im SAMBA Projekt wurden Akteure, Berufsgruppen und
Organisationen der Bewegungsförderung erstmalig systematisch ermittelt. Im
Rahmen der Untersuchung wurden mit qualitativen und quantitativen Methoden
u. a. Aspekte wie die Rolle und der Stellenwert der Bewegungsförderung sowie
deren Integration in Statuten, Satzungen und Leitbildern herausgearbeitet
[195 ].
Die nachhaltige Implementierung von bewegungsbezogenen Versorgungsangeboten
setzt bewegungsförderliche Verhältnisse voraus. Die Erhebung der
organisationalen Veränderungsbereitschaft (readiness ) oder
Identifikation (commitment ) können mit der Organisational
Readiness Scale
[196 ],
dem Organizational Readiness to Change Assessment ([ORCA] [197 ] oder für kommunale
Projekte mit dem Community Readiness Assessment
[198 ] erfasst werden. Die
Evaluation der organisationalen Bereitschaft zur Veränderung hilft bei der
Identifikation von Widerständen und Barrieren und ermöglicht einen
zielgerichteten Einsatz von Ressourcen [199 ]
[200 ].
Mit der Evaluation initiierter Veränderungsprozesse werden systematisch der
Zielerreichungsgrad (summativ) überprüft sowie Fehlentwicklungen
identifiziert und behoben (formativ). Einrichtungen können somit
Bewegungsangebote bedarfsgerecht, zielgruppenspezifisch und
ressourcenorientiert steuern. Die multiperspektivische Betrachtung ist für
die bewegungsbezogene Versorgung von hoher Relevanz, da damit nicht nur
Merkmale wie Effektivität und Effizienz bewertet werden, sondern
gleichzeitig Aspekte wie Akzeptanz und Nachhaltigkeit.
Charakteristika und Einfluss von Patientenorganisationen
Patientenorganisationen geben Patient*innen Orientierungshilfe innerhalb
komplexer Versorgungsprozesse, indem sie Fachwissen aufbereiten,
niedrigschwelligen Zugang zu Wissen schaffen und sektorübergreifende
Unterstützung anbieten [201 ],
beispielsweise indem sie an spezialisierte (Bewegungs-)Versorgende und
lokale Bewegungsangebote verweisen. Sie fördern Gesundheitskompetenz und
Begegnung, soziale Beziehungen und die Krankheitsbewältigung. Sie können
auch selbst Leistungsanbieter sein. Sie können zudem partizipativ an der
Forschung mitwirken und die Patientenperspektive einbringen, was
insbesondere für Agenda Setting und Priorisierung in der bewegungsbezogenen
Versorgungsforschung eine wichtige Rolle spielt. Sie stellen selbst eine
wichtige Option der Teilhabeförderung dar, indem sie Bewegungsförderung und
Aktivierung als Selbsthilfeaktivität durchführen. Darüber hinaus erkennen
Patientenorganisationen Veränderungsbedarfe im Versorgungssystem, fordern
diese auf politischer Ebene ein und wirken in entsprechenden Gremien mit
(z. B. Gemeinsamer Bundesausschuss, GB-A), beispielsweise wenn der Zugang zu
Bewegung nicht niedrigschwellig genug ist. Die Bewertung des Einflusses von
Patientenorganisationen auf Patient*innen bedient sich vornehmlich
qualitativer Verfahren oder erhebt Merkmale wie die Art und Häufigkeiten des
Zugangs zu Unterstützungsleistungen und Wissen, die Größe und die
ökonomischen Ressourcen der Organisation, das Wissen der Patient*innen und
deren Engagement sowie die Qualität der Navigation zu Themen und
Unterstützungsleistungen. Ein Teil der aufgeführten Merkmale ist an das
Konzept der organisationalen Gesundheitskompetenz [201 ] angelehnt und kann
quantitativ mittels des Fragebogens HL-COM [202 ] oder des HLHO-10 [203 ] erfasst werden. Bisher
liegt für diesen Bereich und die verwendeten Instrumente jedoch nur eine
schwache Evidenz vor. Zur Evaluation des Einflusses auf systemischer Ebene
werden Merkmale wie der Grad der Vernetzung, die Anzahl an der
Bewegungsversorgung beteiligter und kooperierender Organisationen, die Art,
Häufigkeit und Intensität der Kommunikation zu ihren Mitgliedern und anderen
Versorgenden oder die Art und der Umfang der Teilnahme an politischen
Entscheidungsprozessen erfasst.
Makroebene: Gesundheitssystem
Zur Evaluation relevanter Faktoren des Gesundheitssystems muss zunächst der
Bedarf an gesundheitlicher Versorgung bestimmt werden. Im Fall der
Bewegungsversorgung betrifft dies u. a. die Analyse des Bewegungsverhaltens in
der Bevölkerung und in unterschiedlichen Patient*innen- und Zielgruppen. Hierzu
eignen sich epidemiologische Methoden und Datenquellen des regelmäßigen
Gesundheitsmonitorings des RKI. Aktuelle Analysen zeigen ein deutlich geringeres
Aktivitätsverhalten von Personen mit chronischen, nicht-übertragbaren
Krankheiten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung [204 ]. Es wird empfohlen derartige
Analysen regelmäßig durchzuführen, um Veränderungen aufzuzeigen und Barrieren
für regelmäßige Bewegung identifizieren zu können. Zur Vergleichbarkeit und
Einordnung der Ergebnisse sind jedoch einheitliche Erhebungsmethoden und
Standards essenziell.
Versorgungsstruktur und -kontext
Zur Bewertung der Versorgungsstruktur und des Versorgungsgrads, ob
beispielsweise eine Unterversorgung in einzelnen Regionen vorliegt, gilt die
Anzahl an Leistungserbringern als geeignete Kennzahl. Um die
Leistungserbringer in einer bestimmten Region zu erheben, können
verschiedene Quellen ausgewertet werden. Dazu gehören die Kassenärztlichen
Vereinigungen (KBV), der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung
(bspw. Heilmittelerbringerliste Physiotherapie), die Reha-Klinik-Suche der
DRV sowie die Webseiten des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) und der
Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von
Herz-Kreislauf-Erkrankungen e.V. (DGPR).
Neben regionalen Unterschieden in der Anzahl und Qualität an
Leistungserbringern besteht für die Bewegungsversorgungsforschung im
internationalen Vergleich Erkenntnisinteresse bezüglich einer Reihe von
Gesundheitssystemfaktoren. Übergeordnet können Policy-Faktoren eine Rolle
spielen. Im Speziellen interessiert die Rolle und Identität von
Bewegungsfachberufen. In vielen Ländern, auch in Europa, besteht für
Patient*innen beispielsweise ein Direktzugang zur Physiotherapie, während
dies in Deutschland nicht der Fall ist [205 ]. Insgesamt gibt es
länderspezifische Unterschiede hinsichtlich der Rollen von
Bewegungsfachkräften [206 ]
[207 ].
Gegenüber Physiotherapeut*innen ist die Verankerung von
Sport-/Bewegungstherapeut*innen im Gesundheitssystem international oft nicht
oder lediglich partiell definiert [207 ]
[208 ], während
beispielsweise in Deutschland [13 ], Australien [209 ]
[210 ] und in
gewissem Maße auch in Kanada [211 ] bereits Strukturen in Bezug auf Einsatzfelder und
Leistungsvergütung geschaffen worden sind. Ein wichtiger Parameter im
Vergleich ist hier die Qualifikation der Bewegungsfachkräfte, welche
allerdings oft nicht berichtet wird [212 ].
Übergreifender werden jüngst bewegungsbezogene Versorgungsleistungen und
-pfade sowie die Qualifikationsanforderungen an Versorgende international
verglichen und evaluiert [213 ]
[214 ]
[215 ]
[216 ].
Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen
Ein zentraler Punkt gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen betrifft die
Vergütung bewegungsbezogener Leistungen. Seitens des AOK-Bundesverbandes
besteht seit August 2021 ein neuer, bundesweiter Vertrag nach § 125 SGB V
über die Versorgung mit Physiotherapie und deren Vergütung [217 ]. Die
Sport-/Bewegungstherapie ist bisher kein Heilmittel, es besteht jedoch auch
hier eine Abrechnungsfähigkeit über die Versorgungsbereiche hinweg [218 ]
[219 ]. In einigen Fällen erfolgt
die Vergütung über Tages- bzw. Einzelpauschalen [220 ] oder über
Behandlungseinheiten [221 ].
Die Entwicklung und Implementierung neuer Abrechnungsmodelle der
Bewegungsversorgung ist ein wichtiger Bestandteil der
Bewegungsversorgungsforschung [23 ].
Durch das in Deutschland 2015 in Kraft getretene Präventionsgesetz [222 ] hat eine stärkere
Verankerung von Bewegung und Bewegungsförderung im Bereich von Prävention
und Gesundheitsförderung stattgefunden. Aus dem Public Health-Bereich
existiert zur Analyse bewegungsbezogener Strategien ein spezielles Audit
Tool der Weltgesundheitsorganisation [223 ], welches auch bereits zum
europäischen Ländervergleich herangezogen wurde [224 ].
Ein wichtiger Bereich zur Weiterentwicklung der Bewegungsversorgungsforschung
ist eine ausreichende finanzielle Ausstattung. Mit diesem Ziel wurde im Jahr
2015 mit dem Versorgungsstärkungsgesetz der Innovationsfonds des (GB-A)
eingerichtet. Im Jahr 2021 wurde das erste Mal ein Förderschwerpunkt zum
Thema Lebensstil (worunter auch die Bewegung zu subsumieren ist) formuliert,
im Jahr 2022 folgte ein Förderschwerpunkt Gesundheit der Bevölkerung/Public
Health (z. B. Gesundheitsförderung, Prävention durch Lebensstilmodifikation,
Schutzmaßnahmen, Gesundheitskommunikation). Neben dem Innovationsfonds
findet gesundheitsorientierte Forschungsförderung durch unterschiedliche
Ministerien (bspw. BMG, BMBF), staatliche Forschungsfördereinrichtungen
(DFG), Kostenträger oder nicht-staatliche Einrichtungen (bspw. Stiftungen,
Vereine etc.) statt. Zur Analyse der zur Verfügung stehenden Mittel für die
Bewegungsversorgungsforschung sowie für die Formulierung von
Forschungsförderungsbedarf sollten Förderlinien und -summen systematisch
erhoben und deren effizienter Einsatz evaluiert werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt bezüglich der Rahmenbedingungen für eine
optimale Bewegungsversorgung ist die Berücksichtigung der aktuellen Evidenz
für Bewegungsinterventionen in der Leitlinienentwicklung. Der Abgleich
zwischen Leitlinien und der verfügbaren Evidenz bewegungsbasierter
Interventionen sollte regelmäßig erfolgen und bei der systematischen
Überarbeitung entsprechender Leitlinien berücksichtigt werden.
Leitlinienempfehlungen sind per se für die Implementation und Dissemination
ausgelegt. Von daher stellen die Aktualität sowie deren Praxisverankerung
und Akzeptanz im Versorgungsalltag von Bewegungsfachkräften und anderen
Gesundheitsberufen wichtige Parameter der Versorgungsforschung dar [225 ].
Gesundheitsökonomie
Die Kosteneffektivität von Maßnahmen der Bewegungsversorgung ist ein bisher
nur selten evaluierter Bereich, der mit zunehmendem Kostendruck stärker in
den Fokus gesundheitsökonomischer Evaluation rücken sollte. So haben
Physiotherapeut*innen und Sport-/Bewegungstherapeut*innen beispielsweise
eine deutlich höhere Kontaktzeit mit Rehabilitand*innen als andere Personen
im Reha-Team, welche Beratung, Edukation bzw. psychosoziale Inhalte
vermitteln [226 ]. Zudem
zeichnen sich wirtschaftliche Vorteile zugunsten bewegungsbezogener
Interventionen ab, da diese häufig in Gruppen von bis zu 15 Personen
durchgeführt werden können [227 ]. Bei chronischen Rückenschmerzen, einem Krankheitsbild von
hoher gesamtgesellschaftlicher Relevanz, weisen aktive Therapien eine gute
Kosteneffektivität auf [228 ].
Mögliche Einsparungen, bspw. durch neu errichtete Fuß- und Fahrradwege,
lassen sich mit Hilfe des WHO Health Economic Assessment Tool (HEAT)
einschätzen [229 ]. Ein
gängiges Vorgehen der Kosteneffektivitätsanalyse verläuft über
qualitätsadjustierte Lebensjahre (QUALYs), welche beispielsweise mit dem
EQ-5D-5L-Fragebogen erhoben werden können [230 ]
[231 ]. Darüber hinaus können
direkte Krankheitskosten über Leistungen der Sozialversicherungsträger
berechnet und indirekte Kosten über AU-Zeiten bzw. geringere Produktivität
geschätzt werden. Im Weiteren wird auf das Memorandum zu Methoden der
gesundheitsökonomischen Evaluation in der Versorgungsforschung verwiesen
[232 ].
Fazit und Ausblick
Das vorliegende Memorandum bietet für das interdisziplinäre Feld der sich mit
Bewegung auseinandersetzenden Wissenschaften im Kontext der Versorgungsforschung
erstmals einen grundlegenden Überblick zu den relevanten Begrifflichkeiten,
Versorgungskontexten, Studienansätzen sowie spezifischen Methoden der
Bewegungsversorgungsforschung. Ebenso sind Aufgaben und mögliche Prioritäten zur
Weiterentwicklung dieses jungen Forschungsfeldes genannt.
Ein wichtiger nächster Schritt könnte die Analyse möglicher Über-, Unter- und
Fehlversorgung darstellen. Lücken in der Bewegungsversorgung sehen die Autor*innen
beispielsweise bei Angeboten für Menschen mit Behinderungen, sozial Benachteiligten,
im Bereich der ambulanten Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen [231 ]
[233 ], deren Potenzial zu häufig nicht
ausgeschöpft wird [234 ] sowie im
Bereich der Palliation [235 ]. Ansätze,
sektorübergreifende Versorgungslücken zu schließen, zeigen sich bei den auf
besonders versorgungsrelevante Erkrankungen ausgerichteten Disease Management
Programmen (DMP) der integrierten Versorgungsmodelle (§ 137f SGB V). Bis heute
gehören Bewegungsprogramme, abgesehen vom DMP Diabetes mellitus Typ-2, allerdings
nicht zur Regelversorgung der DMP, die bis dato körperliche Aktivität und
körperliches Training zumeist lediglich in Form einer Empfehlung mit
unterschiedlichem Detailgrad oder mit Verweis auf Rehabilitationssport bzw.
Funktionstraining aufgreifen. Im Sinne einer sektorenübergreifenden
Bewegungsversorgung sollten auch die Schnittstellen bzw. möglichen Verzahnungen von
Angeboten der Sozialversicherungsträger und selbstorganisiertem Bewegungshandeln
bzw. kommerziellen Anbietern im Sinne der Nachhaltigkeit verstärkt adressiert
werden. Die Entwicklung und Implementierung digitaler Bewegungsinterventionen steht
sicherlich noch am Anfang. Eine wichtige Aufgabe der Bewegungsversorgungsforschung
ist es diesen Prozess kritisch und konstruktiv zu begleiten. Inwieweit
beispielsweise Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI) einmal in der Lage sein
werden therapeutische Inhalte zu unterstützen oder zu planen, bleibt abzuwarten.
Denn Angebote der Bewegungsversorgung bedarfsgerecht auszubauen und dafür die
notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen unter Einbezug der Betroffenen zu
schaffen, erfordert die Berücksichtigung der Lebensumstände, der individuellen
Lebenskonzepte und die Partizipation am Forschungsprozess.
Kritisch ist hier zu konstatieren, dass derzeit bei der Erhebung von Bewegung häufig
die Quantität (Umfang, Intensität) im Vordergrund steht, wenngleich sie nicht die
einzige wichtige Dimension darstellt. Die empfundene Qualität kann in vielfältiger
Weise erlebt werden, und die zugeschriebene Bedeutung und Assoziation einer
körperlichen Aktivität können eng mit der Lebensqualität und individuellen Teilhabe
im Zusammenhang stehen. Derartige Faktoren haben vermutlich einen erheblichen
Einfluss darauf, ob man sich weiterhin bewegen wird bzw. wie das individuelle Ausmaß
der Motivation zu Training und bewegungsfördernden Maßnahmen ist. Auch die
Weiterentwicklung von bewegungsspezifischen Standards zur Planung und Evaluation
bewegungsbezogener Interventionen sowie deren Implementierung in den
Versorgungsalltag auf Grundlage der in diesem Memorandum vorgestellten Modelle ist
als wichtige Aufgabe zur Weiterentwicklung der Bewegungsversorgungsforschung zu
nennen.
Mittelfristig stellen sich für die zielführende inhaltliche und methodische
Weiterentwicklung des Forschungsfeldes, insbesondere unter dem Aspekt der
interdisziplinären Verzahnung zwischen Bewegungs- und anderen
Gesundheitswissenschaften, Fragen nach der trennscharfen Abgrenzung bzw.
interdisziplinären Integration von Forschungsansätzen und -methoden aus
unterschiedlichen Fachdisziplinen (Bsp. Sportwissenschaft, Versorgungs- und
Gesundheitswissenschaften (Public Health)). Aus dieser Perspektive heraus besteht
ein weiteres Forschungsfeld in der Weiterentwicklung relevanter Zielparameter
bewegungsbezogener Angebote in den verschiedenen Versorgungskontexten, was eng
verbunden mit der Frage ist, welche versorgungsrelevanten Forschungsfragen prioritär
zu bearbeiten und zu beantworten sind und wie in der
interdisziplinären/interprofessionellen und intersektoralen Zusammenarbeit
Forschungsfragen generiert und Forschungsvorhaben umgesetzt werden. Das vorliegende
Memorandum kann hierzu eine begriffliche und methodische Grundlage bieten sowie
Forschungslücken und Forschungsbedarfe aus der Sicht unterschiedlicher
Fachdisziplinen identifizieren.
Konsensusprozess
Das Memorandum „Ziele und Methoden bewegungsbezogener Versorgungsforschung“ wurde
durch die AG Bewegungsbezogene Versorgungsforschung im DNVF e.V. initiiert und unter
Mitwirkung einer interdisziplinären Autor*inngruppe verfasst. Das abgestimmte
Manuskript wurde entsprechend den Verfahrensvorgaben des DNVF an alle Mitglieder zur
Kommentierung gegeben. Alle fristgerechten Kommentare wurden durch die
Autor*innengruppe sorgfältig geprüft und entsprechend gewürdigt. Nach Abschluss des
Konsensusverfahrens haben alle Mitglieder die Möglichkeit das Memorandum
mitzuzeichnen. Die Freigabe des Dokuments erfolgte durch den Vorstand des DNVF.
Das Memorandum „Ziele und Methoden bewegungsbezogener Versorgungsforschung“ wird von
folgenden ordentlichen institutionellen Mitgliedern des Deutschen Netzwerks
Versorgungsforschung e. V. getragen.
Von folgenden Mitgliedern der Sektion „Fachgesellschaften“ (Sektion 1):
Arbeitsgemeinschaft Leitende Kardiologische Krankenhausärzte e. V.
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V.
Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V.
Deutsche Gesellschaft für Chirurgie e.V.
Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie e.V.
Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e.V.
Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi)
Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e.V.
Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V.
Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie
Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e.V.
Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V.
Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von
Herz-Kreislauferkrankungen e.V.
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik
und
Nervenheilkunde e.V.
Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e.V.
Deutsche Gesellschaft für Senologie e.V.
Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V. (DGSMP)
Deutsche Krebsgesellschaft
Deutsche Ophtalmologische Gesellschaft e.V.
Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft
Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft e.V.
Gesellschaft für Phytotherapie (GPT) e.V.
Von folgenden Mitgliedern der Sektion „Wissenschaftliche Institute und
Forschungsverbünde“(Sektion 2):
Abteilung für Allgemeinmedizin (AM RUB) der Ruhr-Universität Bochum
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe e.V. (BPS)
Centre for Health and Society, Universitätsklinikum Düsseldorf
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Plattform – Charité
Versorgungsforschung
Institut für Allgemeinmedizin – Universitätsklinikum Jena
Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und
Rehabilitationswissenschaft
der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Medizinischen Fakultät der
Universität zu Köln (KöR)
Interdisziplinäres Zentrum für Versorgungsforschung im Gesundheitswesen der
Universität Witten/Herdecke
Klinik am See – Rehabilitationsfachklinik für Innere Medizin
Technische Hochschule Rosenheim
Universität Potsdam, Professur für Rehabilitationsmedizin
Universitätsklinikum Freiburg, Sektion Versorgungsforschung und
Rehabilitationsforschung
Zentrum für Public Health und Versorgungsforschung der Paracelsus
Medizinischen
Privatuniversität Salzburg
Zentrum für Versorgungsforschung Köln
Von folgenden Mitgliedern der Sektion „Juristische Personen und
Personenvereinigungen“ (Sektion 3):
BARMER
BKK Dachverband e.V.
Deutsche Rheuma-Liga Bundesverband e.V.
Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie e.V.
Kassenärztliche Bundesvereinigung
Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg
OptiMedis AG
Von folgenden korrespondierenden Mitgliedern:[2 ]
Hinweis
Dieser Artikel wurde gemäß des Erratums vom 28.08.2024 geändert.
Erratum
Im oben genannten Artikel fehlt die Nennung einer Co-Autorin
und ein Institut wurde doppelt erwähnt.