CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2024; 86(10): 611-612
DOI: 10.1055/a-2405-2366
Editorial | DNVF

Health Care Research & Implementation

Wolfgang Hoffmann
1   Institut für Community Medicine, Abt. Versorgungsepidemiologie und Community Health, Universitätsmedizin Greifswald
,
Martin Härter
2   University Medical Center Hamburg-Eppendorf, Director – Department of Medical Psychology and Institute for Psychotherapy
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Wolfgang Hoffmann
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Martin Härter

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Was ist Evidenz ? Evidenz vermittelt uns eine objektive Tatsache, einen Teil der Realität – sie öffnet uns ein Fenster, durch das wir einen Blick auf die Wahrheit hinsichtlich einer Fragestellung werfen können. Evidenz ist also ein Mittel gegen Ungenauigkeit, gegen Missverständnisse, gegen Irrtümer und Voreingenommenheit - im besten Fall hilft sie gegen Subjektivität, „alternative Fakten“, Manipulation, Eigeninteressen und Lügen. Evidenz ertüchtigt uns, authoritative Aussagen, Meinungen bedeutender KollegInnen, allgemeine Überzeugungen und generell scheinbar klare Dinge nicht einfach für bare Münze zu nehmen.

Das macht Evidenz zur legitimen Grundlage wissenschaftlicher Argumentation, zum Grundprinzip rationaler Entscheidungsfindung auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie ist wertvoll und einzigartig, und sie kann durch nichts anderes ersetzt werden.

Evidenz kann nicht generiert werden. Sie ist bereits vorhanden und wartet lediglich darauf, gefunden zu werden - durch sorgfältige Beobachtung, exakte Dokumentation, akribische Auswertung, umfassende Aufbereitung der vorhandenen Erkenntnisse und deren Integration, Wiederholung und kritische Würdigung.

Als ForscherInnen im Gesundheitswesen wollen wir, dass die medizinische Versorgung evidenzbasiert ist. Und damit sind wir nicht allein. Eine valide Grundlage medizinischer Entscheidungsfindung ist in Deutschland eine bundesweit geltende rechtliche Norm. Im SGB V heißt es, „Qualität und Wirksamkeit aller Leistungen haben dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen“ (SGB V § 2 Abs. (1)).

Es geht also nicht um die Frage, ob medizinische Entscheidungen eine einschlägige Evidenzgrundlage erfordern oder nicht–hierzu gibt es einen breiten Konsens. GesundheitsforscherInnen sind sich einig, dass Evidenz die Antwort der Natur (einschließlich sozialer Systeme) auf eine Frage ist, die wir in Experimenten, epidemiologischen oder klinischen Studien an sie stellen. Die Operationalisierung, dass das einzig akzeptable Design für den Wirksamkeitsnachweis in diesen Studien eine randomisierte, kontrollierte, klinische Doppelblindstudie ist, stößt jedoch an ihre Grenzen.

Der medizinische Fortschritt ist exponentiell und hat zu einer immer schnelleren Entwicklung nicht nur neuer Medikamente, sondern auch neuer diagnostischer und therapeutischer Prinzipien geführt. Gentherapie, Antisense-RNA, monoklonale Antikörper und superspezifische kleine Moleküle setzen direkt an pathogenen Genmutationen an oder interagieren mit deren spezifischen Genprodukten. Zu den weiteren Fortschritten gehören Biosimilars, die ihren physiologischen Vorbildern sehr ähnlich sind und die deren Funktionen immer genauer nachahmen. Bei der CAR-T-Therapie werden patienteneigene Immunzellen genetisch manipuliert, damit sie Krebszellen effektiver angreifen können.

Wenn Therapien zunehmend individualisiert werden, vervielfachen sich die Fragen exponentiell, und der Bedarf an Evidenz steigt. Wenn Entscheidungen komplexer werden, muss die Evidenz immer spezifischer werden, und wenn Probleme dringend sind, wie bspw. in einer pandemischen Krise, brauchen wir diese Evidenz schnell. All diese Megatrends stehen im Widerspruch zu der traditionellen Forderung nach einem abgeschlossenen positiven RCT für jede medizinische Neuerung, die in der Patientenversorgung wirksam werden soll.

In der vorliegenden Ausgabe befassen sich Pfaff und Schmitt mit diesem zunehmend unausweichlichen Dilemma (Pfaff und Schmitt 2024 [1]). Sie lassen keinen Zweifel an der Notwendigkeit einer kompromisslosen Evidenzgrundlage, erweitern aber den Horizont und diskutieren Daten und Evidenz jenseits von RCTs. Sie zitieren David Sackett, der uns dringend rät, Entscheidungen immer auf die beste verfügbare Evidenz (inklusive der Berücksichtigung von Patientenpräferenzen und den ärztlichen Kompetenzen) zu stützen (Sackett 1997 [2]), und betonen andere Quellen, darunter hochwertige Register, Beobachtungsstudien und prospektive Datenerhebungen, die die Einführung einer neuen Therapie begleiten, um ihre Wirksamkeit und die damit verbundenen Risiken zu überwachen, während sie in der praktischen Versorgung unter Vorbehalt bereits eingesetzt wird.

Die Ausweitung des Umfangs akzeptabler Evidenz stellt keines der Kriterien für eine rationale Entscheidungsfindung in Frage. Vielmehr wird der Bereich erweitert, in dem Entscheidungen auf der Grundlage von Evidenz getroffen werden können – und es wird unterstützt, dass es sich dabei immer um die solideste Evidenz handeln sollte, die wir für eine bestimmte Entscheidung heranziehen können. Die Erhebung und Analyse sowohl von Primärdaten in hypothesenbasierten Studien als auch von Sekundärdaten aus der realen Welt der Versorgungspraxis, erfordern besondere Aufmerksamkeit, Fähigkeiten und Erfahrung. Dies versetzt VersorgungsforscherInnen in eine entscheidende Position. Während die Interpretation eines gut konzipierten RCT weder eine erweiterte statistische noch eine spezielle inhaltliche Ausbildung erfordert, ist beides bei der Verwendung von Ergebnissen, die auf versorgungsnahen Daten aus dem Gesundheitssystem basieren, unabdingbar. VersorgungsforscherInnen müssen sich umfassend mit allen systematischen und zufälligen Unzulänglichkeiten der Daten, den Limitationen der Studiendesigns und der Vielzahl von möglichen Verzerrungen in den Ergebnissen auseinandersetzen.

Aber Kopf hoch, Kolleginnen und Kollegen, das ist es, was wir in unseren Studien ständig tun, wofür wir ausgebildet wurden, und was wir allen RCT-BefürworterInnen gegenüber auch selbstkritisch zugestehen. Es gibt einfach keine Alternative zur Methodik und den Konzepten der Versorgungsforschung in einem wachsenden Bereich der medizinischen Entscheidungsfindung.

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre, danken Ihnen für Ihr Interesse an unser Zeitschrift – und freuen uns von Ihnen zu hören.

Wolfgang Hoffmann, Editor in Chief, Vorsitzender DNVF

Martin Härter, Hauptgeschäftsführer DNVF

Dieser Artikel ist Teil des DNVF Supplement „Health Care Research and Implementation“


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Zitierweise für diesen Artikel

Gesundheitswesen 2024 ; 86 (Suppl. 4): S237–S238. doi: 10.1055/a-2356-2053


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann, MPH
Institut für Community Medicine, Abt. Versorgungsepidemiologie
und Community Health
Universitätsmedizin Greifswald
Körperschaft des öffentlichen Rechts
Ellernholzstr. 1/2
17489 Greifswald
Germany   

Publication History

Article published online:
09 October 2024

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