Herr Professor Caspers, welche Hürden sehen Sie aktuell noch, um das volle Potenzial
der KI in der Radiologie zur Entfaltung zu bringen?
Künstliche Intelligenz – KI – hat das Potenzial, die Radiologie grundlegend zu verändern,
da ihre Kernaufgaben – wie Detektion, Klassifizierung, Quantifizierung und Textverarbeitung
– ideal zu den Fähigkeiten von KI-Systemen passen. Bereits heute sind über 700 KI-gestützte
Medizinprodukte im Bereich der radiologischen Diagnostik zugelassen. Tatsächlich stammen
etwa 80 Prozent der im Jahr 2023 von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA neu
freigegebenen KI-Softwareprodukte aus der Radiologie, womit dieser Fachbereich als
Vorreiter in der medizinischen Nutzung von KI gilt.
Trotz dieses Fortschritts ist die tatsächliche Anwendung von KI in der klinischen
Praxis noch begrenzt. Viele der zugelassenen Produkte sind hochspezialisiert und decken
nur Nischenbereiche ab. Zudem integrieren sie sich oft nur bedingt in bestehende Arbeitsabläufe
und IT-Infrastrukturen. Zusätzlich stellt die Wirtschaftlichkeit eine erhebliche Hürde
dar: Der Einsatz von KI-Produkten wird aktuell nicht gesondert vergütet und sonstige
finanzielle Vorteile gegenüber traditionellen Verfahren sind bislang nicht klar evident.
Umfragen unter Radiologinnen und Radiologen bestätigen, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis
eine der größten Barrieren für die breite Einführung von KI in der Diagnostik darstellt.
In den kommenden Jahren wird es daher entscheidend sein, die technischen und ökonomischen
Hürden weiter abzubauen, um das volle Potenzial von KI in der Radiologie zu entfalten.
Wie steht es um die Akzeptanz von KI-Produkten in der Praxis?
Ein wesentlicher Hemmschuh für die breite Akzeptanz von KI-Produkten in der Radiologie
ist die Problematik systematischer Fehleinschätzungen (Bias) und Domänenverschiebungen.
Letztere treten auf, wenn die Datenverteilung zwischen dem Trainingsdatensatz eines
KI-Algorithmus und den realen Daten abweicht, was häufig zu deutlichen Leistungseinbußen
führt. Zudem sind viele der derzeitigen KI-Produkte in der Radiologie unzureichend
validiert: Rund die Hälfte der Verfahren ist nicht öffentlich validiert, und es fehlen
prospektive Untersuchungen sowie randomisiert kontrollierte Studien, um den tatsächlichen
Nutzen der KI zu belegen. Hier kann die universitäre Forschung aus meiner Sicht wichtige
Beiträge leisten: Eine stärkere Einbindung der universitären Forschung in die Softwareentwicklung
ist aus meiner Sicht dringend erforderlich. Netzwerke wie RACOON bieten hier wertvolle
Plattformen, um den praktischen Nutzen KI-gestützter Technologien besser zu erforschen
und ihre Integration in den klinischen Alltag voranzutreiben.
Welche konkreten Herausforderungen bestehen hierbei?
Eine wesentliche Herausforderung ist die Datenzugänglichkeit, die für eine erfolgreiche
Anwendung von KI essenziell ist. In Deutschland behindern die noch mangelnde Digitalisierung
und Speicherung in verschiedenen Subsystemen die Integration und den Austausch von
Gesundheitsdaten. Man spricht von sogenannten „Datensilos“. Um die Potenziale von
KI voll auszuschöpfen, müssen wir mehr Schnittstellen schaffen und Architekturen entwickeln,
die eine effiziente Datenintegration und Interoperabilität ermöglichen. Hier hat die
Medizininformatik-Initiative bereits wichtige Impulse gesetzt.
Zudem gibt es in der Entwicklung und Anwendung von KI in der Medizin zahlreiche regulatorische
Bestimmungen, die zu beachten sind und uns zum Teil vor Herausforderungen stellen.
Neben der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) betrifft dies insbesondere die Medical
Device Regulation und das Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz (MPDG), die Forschende
oftmals mit Unsicherheiten konfrontiert, wann Grundlagenforschung endet, und gezielte
Produktentwicklung beginnt. Zusätzlich kommen mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz
(GDNG), der EU-Verordnung zur künstlichen Intelligenz (EU AI ACT) und dem Europäische
Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) neue rechtliche Instrumente auf uns zu, die an sich
positive Rahmenbedingungen für Forschende schaffen, aber deren konkrete Umsetzung
bislang noch nicht vollständig klar ist.
Hintergrund: Die DRG ist Teil des Forschungsprojektes „HowToDigital – Digitale Kompetenzen
und Entwicklung digitaler Tools für die stationäre und ambulante Versorgung“: howtodigital.uni-goettingen.de. Das Projekt wird von Prof. Dr. Manuel Trenz von der Universität Göttingen geleitet.
Ziel ist es, digitale Lösungen im Gesundheitswesen voranzutreiben, indem Nutzungshemmnisse
identifiziert und digitale Kompetenzen gefördert werden. Das Projekt konzentriert
sich auf Radiologie und Gynäkologie und untersucht vorhandene digitale Systeme sowie
Kompetenzen des medizinischen Personals. Zu den Projektpartnern zählen neben der Universität
Göttingen und der DRG auch die Universität Paderborn, das Universitätsklinikum Köln,
die gematik GmbH, die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg, die AOK Sachsen-Anhalt
und die Techniker Krankenkasse.
Werfen wir den Blick auf die konkrete Forschung und Entwicklung: Was werden wir in
den nächsten Jahren sehen?
Die Mensch-Maschine-Interaktion bei der Anwendung von KI in der Radiologie wird aus
meiner Sicht stärker untersucht werden. Während beispielsweise in der Luftfahrt umfassend
erforscht wurde, wie Menschen mit Automatisierungssystemen wie Autopiloten interagieren,
wird in der Radiologie oft angenommen, dass KI die Arbeit automatisch verbessert,
ohne die potenziellen Probleme ausreichend zu beachten. Eine Studie von Thomas Dratsch,
Daniel Pinto dos Santos und Kollegen (Uniklinik Köln) aus dem letzten Jahr zeigte,
dass Radiologinnen und Radiologen, die durch fehlerhafte KI-Diagnosen beeinflusst
werden, deutlich häufiger Fehler machen. Dieses Phänomen muss besser verstanden werden,
um den verantwortungsvollen Einsatz von KI zu gewährleisten.
Zudem eröffnen die inzwischen allgegenwärtigen Sprachmodelle, sogenannte Large „Language
Models“ (LLMs), neue Perspektiven auch für die Anwendung in der Radiologie. Beispielsweise
können diese den Einsatz strukturierter Befundung weiter vorantreiben, indem sie eine
sprachliche Standardisierung ermöglichen. Ein weiteres vielversprechendes Feld ist
das Self-supervised Learning, bei dem KI ohne menschliche Klassifikation von Daten
lernt. Dies ist besonders relevant, da die Bereitstellung gut annotierter medizinischer
Daten das Nadelöhr in der Entwicklung von KI ist. Trotz der hohen Anforderungen an
große Datenmengen birgt dieses Gebiet daher großes Potenzial für zukünftige Forschungsergebnisse.
Schließlich sind sogenannte „Foundation Models“ ein weiteres zentrales Thema. Die
Vision ist, ein umfassendes medizinisches System zu entwickeln, das verschiedene Datentypen
wie Bilder, Text- und Labordaten integrieren und daraus medizinisches Wissen generieren
kann, um hieraus unterschiedliche Anwendungen zur Unterstützung des medizinischen
Personals abzuleiten. Dieses Ideal eines einheitlichen Systems, das Nischenprodukte
ersetzt, gilt als der „heilige Gral“ der Forschung. Es ist jedoch insbesondere aufgrund
der Herausforderungen in der Datenintegration im Moment noch in weiter Ferne.
Haben Sie als Radiologe einen Wunsch für die zukünftige Arbeit mit KI in der Radiologie?
Wir sollten von der unübersichtlichen Vielzahl einzelner Anwendungen wegkommen. Zukünftig
wäre es wünschenswert, ein umfassendes KI-Modell zu entwickeln, das sich in die bestehenden
Arbeitsabläufe von Ärztinnen und Ärzten integriert und sie bei der Zusammenfassung
klinischer Daten sowie der Auswertung radiologischer Bilder unterstützt und beispielsweise
über eine Fragen-Antwort-Funktion Informationen zu Patientendaten oder auch Fachwissen
liefert. Ein solches System sollte zudem in der Lage sein, Inkonsistenzen zu erkennen
und bei administrativen Aufgaben zu helfen. Wenn wir in Zukunft solche technische
Unterstützung zuverlässig und wirtschaftlich an unserer Seite haben, ist uns und den
Patientinnen und Patienten gedient.
Sehr geehrter Herr Professor Caspers, haben Sie Dank für das Gespräch.