Anatomische Grundlagen
Der Schultergürtel besteht aus 3 „echten“ und 2 „unechten“ Gelenken. Die echten
Gelenke sind das Art. glenohumeralis, Art. acromioclavicularis und das Art.
sternoclavicularis. Als unechte Gelenke werden die scapulothorakale Gleitebene und
der subacromiale Gleitraum bezeichnet. Die Rotatorenmanschette ist ein besonderer
Strukturkomplex, denn diese muss Stabilität und Mobilität miteinander vereinen. Die
Facettengelenke der gesamten Wirbelsäule und die Rippen spielen vor allem für
endgradige Bewegungen funktionell eine Rolle. Die volle seitliche Elevation kann
unilateral durch eine Seitneigung der Wirbelsäule erreicht werden. Die vollständige
bilaterale Abduktion wird durch die Extension der Brustwirbelsäule erreicht, was
ebenso auf die ventrale Elevation zutrifft. Das physiologische Zusammenspiel aller
Gelenke ist entscheidend für die gesamte Mobilität des Schultergürtels, um diesen im
Alltag optimal nutzen zu können.
Indikationen für inversere Schulterprothesen
Indikationen für inversere Schulterprothesen
Neben klinischen Untersuchungen wenden Operateur*innen vor allem bildgebende
Verfahren zur Indikation an, wie Röntgen, CT und MRT. Wichtige Parameter dafür sind
Ruhe- und Belastungsschmerz sowie Einschränkungen bei den ADL-Funktionen (z. B.
Körperpflege, Nahrungsaufnahme, häusliche Versorgung). Klinisch fallen Atrophien des
M. supra- und infraspinatus, Humeruskopfhochstände sowie palpatorische Krepitationen
in aktiver und passiver Funktionsuntersuchung auf.
Eine irreparable Rotatorenmanschettenmassenruptur stellt die häufigste Indikation
dar. Dabei zeigen sich die Vorteile der umgekehrten Verhältnisse einer inverseren
Prothese zwischen Kugel und Pfanne. Durch die veränderte Hebelwirkung kann der M.
Deltoideus die defekte Rotatorenmanschette etwas kompensieren. Grundlage für eine OP
ist ein funktionsfähiger N. axillares und somit M. deltoideus. Weitere Indikatoren
für die Implantation der inversen Schulterprothese sind aufgrund der guten
Erfahrungen mit dieser Defektarthropathien eine Omarthrose und proximale
Humerusfrakturen. Gerade bei älteren Patient*innen mit z. B. Omararthrose wird die
inverse Prothese statt einer anatomischen als vorteilhaft gesehen [2]
[3]
[4].
Nachbehandlung
Das Nachbehandlungsschema bestimmt die zuständige operierende Person. Es wird den
Patient*innen zur Weiterleitung an die behandelnde Therapeutin bzw. den Therapeuten
ausgehändigt. Das Schema ist abhängig vom OP-Verlauf und dem prämorbiden Zustand der
operierten Person [1] ([Tab. 1]). Im hier vorgestellten Fallbeispiel
weicht die Immobilisation vom herkömmlichen Nachbehandlungssschema ab, da es während
der Materialentfernung (Z.n. osteosynthetisch versorgte Humerusfraktur) zur weiteren
Untersuchung erneut zu einer Humerusfraktur kam. Daher wurde die inverse
Schulterprothese während der gleichen OP implantiert. Im Fallbeispiel begann die
Mobilisation ab der 3. Woche postoperativ.
Therapeutischer Befund
Die Ruhigstellung des Schultergelenks erfolgt in der Regel durch einen
Gilchristverband oder ein Abduktionskissen. Das führt zu verschiedenen stati
praesens, wenn die behandelte Person zu den ersten Therapiebehandlungen
erscheint. Abhängig von der OP-Indikation zeigt sich das Abduktionskissen als
geeigneter, da weniger Adhäsionen der Weichteile auftreten [5]. Die richtige Anlage und der Sitz der
Orthese sollten überprüft werden. Einige Patient*innen neigen zu Ängsten,
insbesondere wenn es um das Ablegen der Bandagen (Gilchrist oder
Abduktionskissen) geht. Daher ist ein sicherer Umgang mit den Hilfsmitteln durch
die behandelnde Person entscheidend, um die Vertrauensbasis zwischen Patient*in
und Therapeut*in zu fördern. Die behandelnde Person sollte zudem in der Lage
sein, sensibel auf mögliche Ängste der Patient*innen einzugehen.
Die Befundung beginnt mit der Inspektion der Körperhaltung sowie Palpation des
Schultergürtels. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Schulterhöhe, Muskeltonus
und dem Schulterdach. Aufgrund von Schmerzen und Schonhaltung entsteht ein hoher
Tonus. Dieser führt zur starken Innenrotation des Humerus im Art. glenohumeralis
sowie einer Protraktion des Schultergürtels und Flexion im Ellenbogengelenk.
Hier ergeben sich erste Behandlungshinweise in Bezug auf eine Detonisierung der
entsprechenden Muskulatur und Zentrierung des Humeruskopfes. Die
Tonusverhältnisse des M. biceps brachii, Mm. pectorales major et minor, M.
brachioradialis, M. trapezius pars descendens und M. levator scapulae sowie des
M. subscapularis sollten palpiert werden.
Die Narben der Patient*innen mit Prothesenimplantation weisen oft Auffälligkeiten
auf, weshalb ein Narbenbefund erstellt werden sollte. Ob Auffälligkeiten mit der
longitudinalen Inzision entgegen der Langer’schen Spaltlinien zusammenhängen,
ist spekulativ, könnte aber eine Kohärenz darstellen [9]. Bei der Narbenbefundung wird die Quer- und
Längsverschieblichkeit sowie die Abhebbarkeit beurteilt. Zudem wird die Narbe
klassifiziert, ob ein physiologischer (fibröser), atropher, hypertropher oder
keloidaler Zustand vorliegt. Defizite bei der Beweglichkeit des Schultergelenkes
hängen oft mit Einschränkungen der Narbenmobilität zusammen. Patient*innen geben
auch oft Hyper- oder Hyposensiblitäten im Narbengebiet an [7].
Die Funktionsuntersuchung wird mit Rücksicht auf die aktuelle Belastbarkeit der
behandelten Person durchgeführt. Es ist zu beachten, dass es OP-Varianten gibt,
bei denen der M. subscapularis refixiert wird und dementsprechend in seiner
Belastbarkeit eingeschränkt ist [5]. Bei allen
Funktionsuntersuchungen liegt das Augenmerk auf den Kompensationsmechanismen.
Die Patient*innen zeigen oft Schulterhochstände, sowohl in Ruhe als auch in
Bewegung als Ausweichbewegung im Sinne einer Elevation der Scapula und
Protraktion des Schultergürtels. Weitere Kompensationsmechanismen sind eine
Lateralflexion und Hyperextension der Lendenwirbelsäule. Besondere
Aufmerksamkeit sollte auf die Scapula gelegt werden, da das scapulothorakale
Gleitlager bei nahezu allen Patient*innen in seiner Mobilität und seinem
Rhythmus zum Humerus defizitär ist. Die Scapula löst sich vorzeitig vom Thorax
im Sinne einer Laterorotation, was aber erst bei einer Anteversion ab ca. 60°
und einer Abduktion ab 80° erfolgen sollte [8]. Dadurch vermindert sich die Entfaltung der caudalen Strukturen, was
zu Verklebungen führt und weichteilbedingte Bewegungseinschränkungen zur Folge
hat. Es gibt auch Auffälligkeiten hinsichtlich einer zu festen Scapula, was
durch eine isolierte Mobilisation nach cranial-caudal und medial-lateral zu
erkennen ist. Die Differenzierung, welche Strukturen welche Defizite aufweisen,
bildet die Grundlage des therapeutischen Behandlungsaufbaus. Bei der
Muskelfunktionsprüfung können Therapeut*innen Hinweise zur atrophierten
Muskulatur des M. deltoideus und weiterer Schulterstabilisatoren finden. Auch
eine Scapula Alata ist nicht unüblich.
Therapiemaßnahmen
Bis 2. Woche postoperativ
Bis die Schulter aktiv/assistiv mobilisiert werden kann, liegt das Hauptaugenmerk
auf der Tonusregulation und Mobilisation angrenzender Gelenke. Der M.
brachioradialis sowie die Handgelenksflexoren sind durch die Lagerung auf dem
Abduktionskissen meistens hyperton. Hier kann es zu Taubheitsgefühlen innerhalb
der Hand durch die hypertonen Hand- und Fingerflexoren kommen. Wichtig ist die
Extension von Ellbogen-, Hand- und Fingergelenken. Neben detonisierenden
Maßnahmen und Weichteiltechniken für die hypertone Muskulatur, ist die manuelle
Therapie ein wichtiger Bestandteil. Die Traktion, Kompression und das
translatorische Gleiten des Art. sternoclavicularis zur Verbesserung der
Retraktion kann ebenso relevant und wichtig sein, wie manuelle Techniken für das
Ellenbogengelenk bzw. das Handgelenk.
Weiterhin ist die Detonisierung des M. trapezius pars descendens und M. levator
scapulae sinnvoll, um die Mobilität der Halswirbelsäule zu gewährleisten und die
Schmerzlinderung zu initiieren. Hier bieten sich die PIR-Technik
(postisometrische Relaxation) oder TP-Behandlungen (Triggerpunkt) an ([Abb. 1]). Die Mobilisation des
scapulothorakalen Gleitlagers ist ebenfalls essentiell, da sich hier vor allem
Adhäsionen bilden. Dafür wird die behandelte Person in Seitenlage gebracht. Die
eine Hand der behandelnden Person umgreift die Scapula von cranial und die
andere von caudal. Somit wird die komplette Scapula umfasst und sie kann in die
bekannten Bewegungsrichtungen (craniales und caudales Gleiten, Medio- und
Laterorotation) bewegt werden.
Abb. 1 Postisometrische Relaxation des M. trapezius pars
descendens.
Zur zentralen Schmerz- und Tonuslinderung können vegetative Techniken (z. B.
heiße Rolle, Bindegewebsmassage, Nadelreizmatte, Schröpfgläser) im Bereich der
Brustwirbelsäule (Th1–Th10) angewendet werden. Weiter ist zu berücksichtigen,
dass für eine perspektivisch endgradige Schulterbewegung eine mobile
Brustwirbelsäule die Grundvoraussetzung ist.
Ab 2. Woche bis 6. Woche postoperativ
Ab diesem Zeitpunkt können laut Nachbehandlungsschema ([Tab. 1]) passive Mobilisationen in Abduktion
und Anteversion stattfinden, optimal aus der Rückenlage. Die Weichteile, z. B.
M. pectoralis major, M. latissimus dorsi und M. teres major, zeigen durch Tonus
und Bindegewebswiderstand die aktuelle motorische Barriere an. Die passiven
Mobilisationen sind stets schmerzfrei anzuwenden. Ein leichtes Ziehen der
Muskulatur ist zu tolerieren, wenn die behandelte Person dieses richtig
einschätzen kann (Compliance). Geeignete Weichteiltechniken zur Detonisierung
des M. pectoralis major sind PIR und Myofasziales Release (MFR) im Bereich des
M. subscapularis oder eine Faszientrennung des M. pectoralis minor ([Abb. 2]). Auch der Achselbereich zeichnet sich
durch Adhäsionen von Weichteilgewebe aus, die zu lösen sind ([Abb. 3]). Diese Techniken sind flexibel
einsetzbar und orientieren sich an der jeweiligen strukturellen und
konstitutionellen Voraussetzung der behandelten Person. Um den scapulohumeralen
Rhythmus zu verbessern, sollte sich die behandelte Person in Seitenlage
befinden. Dann fixiert die behandelnde Person die Scapula nach medial-caudal,
während parallel der Arm in Anteversion mobilisiert wird ([Abb. 4]
[5]). Ergänzend sind Weichteiltechniken am M. latissimus dorsi und M.
teres major möglich. Zusätzliche Traktionsmobilisationen des SCG und
ventro-dorsale Gleitmobilisationen des ACG sind sinnvoll ([Abb. 6]). Alle Hinweise und Techniken, die vor
der 2. Woche postoperativ beschrieben sind, können ebenfalls angewendet
werden.
Abb. 2 Faszientrennung M. pectoralis major und minor.
Abb. 3 Triggerpunktbehandlung M. subscapularis.
Abb. 4 Mobilisation Scapula, caudale Weichteile und Verbesserung
scapulo-humeraler Rhythmus.
Abb. 5 Mobilisation Scapula, caudale Weichteile und Verbesserung
scapulo-humeraler Rhythmus.
Abb. 6 Ventro-dorsale Gleitmobilisation ACG.
Tab. 1 Beispiel für ein Nachbehandlungsschema mit Zielen
und Maßnahmen [1].
Stabilität
|
Zeit
|
Behandlungsziel
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Maßnahmen
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Belastung/Bewegungsausmaß
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Bewegungsstabil
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Ab 1. Tag
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Aktivierung
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Bewegungen distal der Schulter frei
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Abschwellende/schmerzlindernde Maßnahmen
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Bis 2. Tag
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Kontrolle Wundheilung
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Bis 3. Tag
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Kontrolle OP-Ergebnis
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Bis 2. Woche
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Kontrakturprophylaxe
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-
Assistives/aktives Bewegen
-
Scapulamobilisation
-
CPM-Schiene-Schuler (CPM=continuous passive
motion)
-
Isometrische Spannungsübungen
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Entlassmanagement
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-
ADL-Abklärung
-
Verordnung Hilfsmittel
-
Einleiten Reha-Maßnahme
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Bis 4. Woche
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Physiologisches Bewegungsverhalten
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Belastungsstabil
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Bis 6. Woche
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Verbesserung Beweglichkeit
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-
Aktives Bewegen
-
Koordinationstraining
-
Muskelaufbau
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Bis 12. Woche
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Belastungssteigerung nach individueller Fähigkeit bis zur
Vollbelastung
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Trainingsstabil
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Bis 16. Woche
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Wiedereingliederung Alltag, Gesellschaft und Beruf
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Bewegung und Belastung ohne Limit
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Ab 6. Monat
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Sportfähigkeit
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Sportartspezifisches Training
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Schulterbelastende Sportarten sind nicht zu empfehlen
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Ab 6. Woche bis 16. Woche postoperativ
Alle Maßnahmen, die zuvor angewendet wurden, werden je nach Bedarf in dieser
Phase fortgesetzt. Es findet nun das Integrieren von aktiven Übungen im
Schultergelenk statt. Ein Wechsel zwischen aktiven und passiven Maßnahmen wird
empfohlen [5]. Anfänglich ist es sinnvoll, die
behandelte Person in Bauchlage zu legen und den Arm hängen zu lassen.
Greifübungen mit Integration von Schulterfunktionen sind hier naheliegend ([Abb. 7]). Zudem ist es wichtig, die
Außenrotation zu trainieren, dabei wird mit isometrischen Spannungsübungen,
z. B. durch manuelle Widerstände, begonnen. Das Fixieren eines Balls an der Wand
ist auch eine Option, wobei der Schwerpunkt auf der Außenrotation liegt, aber
auch andere isometrische Spannungsrichtungen zur Verbesserung der Kraft des M.
deltoideus umgesetzt werden.
Abb. 7 Mobilisation des Schultergelenks unter Abnahme der
Schwerkraft.
Bei aktiven Übungen ist es sinnvoll, eine Unterstützungsfläche in Form eines
flachen Tischs zu wählen, um z. B. „Wischübungen“ durchzuführen. Das kann
unilateral ([Abb. 8a]) oder bilateral ([Abb. 8b]) erfolgen. Einige Tische lassen sich
kippen und arretieren, um den Widerstand in Form von Schwerkraft zu erhöhen.
Umso besser das Bewegungsausmaß der behandelten Person wird, desto steiler bzw.
geringer sollte die Unterstützungsfläche sein. Wenn Übungen an der Wand
ausgeführt werden können, können Therapeut*innen damit beginnen, die
Stützfunktionen der Schulter zu integrieren. Dafür eignet sich z. B. ein großer
Gymnastikball, den die behandelte Person nach oben und unten rollt. Die Übung
sollte in Schrittstellung erfolgen, um der kompensatorischen Hyperlordose der
LWS entgegenzuwirken. Bei allen Übungen ist auf die Kompensation
(Schulterhochstand, Lateralflexion und Hyperextension der LWS) zu achten.
Abb. 8a Aktive Schultermobilisation unilateral und bilateral.
Abb. 8b Aktive Schultermobilisation unilateral + bilateral.
Fazit
Die Nachbehandlung einer inversen Schulterprothese erfordert eine sorgfältig
abgestimmte therapeutische Intervention, um ein alltags- und berufsrelevantes
Ergebnis zu erzielen. Obwohl das erzielte Resultat in den meisten Fällen limitiert
bleibt, trägt die frühzeitige und kontinuierliche Mobilisation entscheidend zur
Verbesserung der Beweglichkeit und Schmerzlinderung bei. Die beschriebenen
Befundtechniken sind essenziell, um die veränderten Strukturen, z. B. durch
Palpation, zu identifizieren. Nur so können entsprechende Behandlungsmaßnahmen,
z. B. die Mobilisation der Scapula, Weichteiltechniken sowie passive und aktive
Mobilisationen, individuell angepasst und zielgerichtet eingesetzt werden. Die
Mobilisation ist zentral, um Spannungen zu reduzieren, Bewegungsabläufe zu fördern
und Kompensationsmechanismen zu minimieren.
Die Mobilisation der angrenzenden Gelenke sowie die manuelle Therapie unterstützen
die Regeneration besonders in den ersten postoperativen Wochen entscheidend [5], [6]. Alle
beschriebenen Techniken sollten sich am standardisierten Nachbehandlungsschema und
an der spezifischen Situation der behandelnden Person orientieren. Es gilt zu
beachten, dass der Verlauf individuell variiert und die Behandlung stets
schmerzadaptiert erfolgen muss. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen
Therapeut*innen und Ärztinnen bzw. Ärzten ist wichtig, um die bestmöglichen
funktionellen Ergebnisse zu erreichen und den Patient*innen die Rückkehr in ihren
Alltag optimal zu ermöglichen.