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DOI: 10.1055/a-2415-8433
Mobile Gesundheitstechnologien für eine gerechte Versorgung bei psychischen Erkrankungen
Mobile health technologies for equitable care for mental illnesses- ZUSAMMENFASSUNG
- ABSTRACT
- Hintergrund
- Soziale Ungleichheit und psychische Gesundheit
- Gesundheitsgerechtigkeit
- mHealth-Technologien im Spannungsfeld von sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten
- Gerechtigkeitsorientierte Leitprinzipien für die Entwicklung und den Einsatz von mHealth-Technologien
- Wissenschaftlich verantwortlich
- Literatur
ZUSAMMENFASSUNG
Die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in Deutschland steht vor erheblichen Herausforderungen, darunter eine steigende Prävalenz psychischer Erkrankungen, geografische Ungleichheiten und lange Wartezeiten für eine Psychotherapie. Mobile Gesundheitstechnologien (mHealth-Technologien) bieten vielversprechende Ansätze zur Überbrückung von Versorgungslücken, indem sie den Zugang zu Gesundheitsdiensten erleichtern und somit die Gesundheitsgerechtigkeit fördern können. Trotz dieser Potenziale gibt es Bedenken, dass mHealth-Technologien bestehende gesundheitliche Ungleichheiten verschärfen könnten, insbesondere für sozial benachteiligte Gruppen. Anhand von Fallbeispielen wird aufgezeigt, wie soziale und digitale Ungleichheiten die Nutzung und Wirksamkeit von mHealth beeinflussen und daraus ungerechte gesundheitliche Ungleichheiten entstehen können. Der Artikel plädiert für die Integration ethischer Überlegungen und partizipativer Designansätze in die Entwicklung von mHealth-Technologien, um eine gerechtere Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und sicherzustellen, dass digitale Lösungen insbesondere benachteiligten Patientengruppen zugutekommen.
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ABSTRACT
Psychiatric-psychotherapeutic care in Germany faces significant challenges, including an increasing prevalence of mental illnesses, geographical inequalities and long waiting times for psychotherapy. Mobile health technologies (mHealth technologies) offer promising approaches to bridging care gaps by facilitating access to health services and thus promoting health equity ;nen. Despite these potentials, there are concerns that mHealth technologies could exacerbate existing health inequalities, particularly for socially disadvantaged groups. Using case studies, it is shown how social and digital inequalities influence the use and effectiveness of mHealth and how unfair health inequalities can arise. The article argues for integrating ethical "DC considerations and participatory design approaches" into the development of mHealth technologies to enable more equitable healthcare and ensure that digital Solutions particularly benefit disadvantaged patient groups.
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Hintergrund
Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland steht vor einer Vielzahl von Herausforderungen. Der steigenden Prävalenz psychischer Erkrankungen, insbesondere von depressiven Erkrankungen und Angststörungen [1], der steigenden Inanspruchnahme von Leistungen und den damit verbundenen Kosten für das Gesundheitssystem [2] steht ein komplexes und fragmentiertes Hilfesystem gegenüber. Dieses System ist durch geografische Unterschiede in der ärztlichen Versorgung, insbesondere einem Ost-West- und Stadt-Land-Gefälle [3], [4], einer zunehmenden Leistungsverdichtung [5], der Sorge um einen zunehmenden Ärztemangel [6] sowie einen Mangel an präventiven Maßnahmen geprägt [7]. Die Wartezeiten für eine ambulante Richtlinien-Psychotherapie erstrecken sich von 1–6 Monaten [8]–[11], was dazu führt, dass Betroffene lange auf eine adäquate psychotherapeutische Behandlung warten müssen. Zusätzlich erschwert die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, indem Betroffene zögern oder es vermeiden, die benötigten Leistungen zu nutzen [12]. Diese Lücken in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung können dazu führen, dass Betroffene nicht die notwendige Unterstützung erhalten und sich deren psychischer Zustand und ihre Lebensqualität erheblich verschlechtern.
Die Entwicklung von mobilen Gesundheitstechnologien wird als vielversprechender Ansatz zur Schließung von Versorgungslücken angesehen. Diese sogenannten „mobile health (mHealth)”-Technologien umfassen Anwendungen und Dienste, die über mobile Geräte, z. B. Smartphones, Smartwatches oder digitale Assistenten, bereitgestellt und für medizinische und öffentliche Gesundheitszwecke eingesetzt werden [13]–[15]. mHealth-Technologien ermöglichen eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Die detaillierte Erfassung von krankheitsspezifischen Symptomen oder Nebenwirkungen einer medikamentösen Behandlung sowie die kontinuierliche Überwachung von physiologischen Parametern, wie Schlafmuster oder körperliche Aktivität, durch „Wearables”, können zum Screening, zur Verlaufsbeobachtung oder Rückfallprävention genutzt werden [16]–[18]. Darüber hinaus können mHealth-Technologien eine Hilfe zur Selbsthilfe für die Betroffenen darstellen und das Empowerment (Eigenverantwortung und Autonomie) fördern. Die Bereitstellung von Informationen über die jeweilige Erkrankung, deren Behandlungsmöglichkeiten und Bewältigungsstrategien kann psychoedukativen Zwecken dienen [18], [19]. Über die Verbindung mit sozialen Medien, virtuellen Foren und Communities können mHealth-Technologien den Austausch von Erfahrungen und Unterstützung durch andere Betroffene ermöglichen [20]. Darüber hinaus können durch mHealth-Technologien Interventionen erfolgen oder digital unterstützt werden, welche dann als „Internet- und mobile-basierte Interventionen (IMIs)” bezeichnet werden. Digitale Anwendungen, z. B. Apps können dabei als „Digitale Therapeutika (DTx)” wirksam sein [21]. Bereits etablierte Behandlungskonzepte können durch digitale Inhalte, im Sinne einer „Blended Care”, ergänzt werden [22]. Im klinischen Alltag spielt zudem die videobasierte Psychotherapie eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu den IMIs wird üblicherweise jedoch kein zusätzlicher Versorgungsbeitrag geleistet, da eine „übliche” psychotherapeutische Sprechstunde lediglich digital abgehalten wird [23], [24].
Durch Reformen der politischen Rahmenbedingungen, insbesondere dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das die Verschreibung von „Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA)” ermöglichte [25], sowie Änderungen der Psychotherapie-Richtlinie und der Psychotherapie-Vereinbarung, die videobasierte psychotherapeutischen Leistungen erlaubten [26], wurden in Deutschland entscheidende Schritte zu einer mHealth unterstützten psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung unternommen.
Der rasante technologische Fortschritt, die steigende Nachfrage nach digitalen Lösungen und wirtschaftliche Interessen haben mittlerweile zu einer unüberschaubaren Anzahl von mHealth-Ansätzen geführt. In den App-Stores werden zwischen 10 000 und 20 000 Apps zur Unterstützung der psychischen Gesundheit verzeichnet [27], [28]. Es wird erwartet, dass der Umsatz im Bereich von mHealth von 3,5 Milliarden Euro im Jahr 2020 auf 48,3 Milliarden Euro im Jahr 2030 steigen wird [29]. Seit 2019 sind DiGA „Apps auf Rezept” Teil der Regelversorgung in Deutschland und können nach Verordnung durch Behandelnde oder Beantragung durch Betroffene von den Krankenkassen erstattet werden. Der Anteil der DiGA für psychische Erkrankungen ist dabei hoch. Aktuell sind 26 der 63 DiGA im Bereich „Psyche“ gelistet, von denen 17 Anwendungen dauerhaft in das Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen wurden (Stand 05/2024) [30]. Im Jahr 2023 wurden DiGA zur Behandlung von psychischen Erkrankungen am häufigsten in Anspruch genommen [31].
Die vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten von mHealth-Technologien wecken große Hoffnungen auf eine Verbesserung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung, insbesondere im Hinblick auf die Versorgungsgerechtigkeit. Ein wesentlicher Vorteil von mHealth liegt in der hohen Verbreitung von Smartphones in der deutschen Bevölkerung, die sich nicht ausschließlich auf bestimmte sozioökonomische Gruppen beschränkt und weitgehend unabhängig von der Altersgruppe ist [32]. So wird der Anteil der Smartphone-Nutzenden in Deutschland 2027 auf 71,7 Millionen geschätzt [33], auch wenn Studien zeigen, dass spezifische Subgruppen wie Menschen in Wohnungslosigkeit mit psychischen Erkrankungen oder Menschen mit Psychosen teilweise auch von derart weit verbreiteten Technologien ausgeschlossen sind oder davon Abstand nehmen [34]. Es besteht dennoch die Hoffnung, dass sich durch den Einsatz von mHealth-Technologien die Gesundheitsgerechtigkeit in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung verbessert, in dem z. B. der Zugang zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen für Betroffene erleichtert wird, die bisher nicht erreicht wurden oder eine Face-to-face-Behandlung ablehnten [35], [36]. Zudem können Wartezeiten bis zum Beginn einer Psychotherapie überbrückt werden und die Prävention durch Empowerment auch von benachteiligten Gruppen gezielt gefördert werden [14], [37]–[39]. Es bestehen jedoch Bedenken, dass sich durch den Einsatz von digitalen Technologien bereits bestehende gesundheitliche Ungleichheiten verschärfen können [40], [41]. Der Artikel greift das Zusammenspiel sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten in der psychiatrischen Versorgung auf und verbindet dies mit der Diskussion um den Einsatz von mHealth-Technologien. Anhand von ausgewählten Fallbeispielen werden mögliche positive und negative Auswirkungen auf Gesundheitsgerechtigkeit veranschaulicht und gesundheitsorientierte Leitprinzipien für die Entwicklung von mHealth Technologien abgeleitet.
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Soziale Ungleichheit und psychische Gesundheit
Daten aus Deutschland zeigen, dass psychische Gesundheit und Krankheitslast innerhalb der Bevölkerung ungleich verteilt sind. Gesundheitliche Ungleichheiten hängen von einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Einflüsse ab, z. B. von den übergeordneten geografischen Verhältnissen und kulturellen und sozialen Normen, genetischen und epigenetischen Faktoren, Alter, Geschlecht, Herkunft, Charakter sowie sozialen Verhältnissen in Bezug auf Bildung, den sozioökonomischen Status, soziales Kapital oder die Wohnsituation ([ Abb. 1 ]) [42]. Die Bedingungen, unter denen Menschen geboren werden, aufwachsen, leben und arbeiten und die eine Auswirkung auf das Wohlbefinden haben, werden als soziale Determinanten der Gesundheit bezeichnet, und in einem komplexen Zusammenspiel können gesundheitliche Ungleichheiten entstehen [43], [44].
Der Zusammenhang der sozialen Determinanten der psychischen Gesundheit und gesundheitlichen Ungleichheiten wurde durch die sozialpsychiatrische Forschung herausgearbeitet und vielfach belegt. Der Mental-Health-Surveillance-Bericht des RKI von 2023 zeigt, dass jüngere Menschen, Frauen und Menschen mit niedrigem Bildungsniveau vergleichsweise häufiger von schweren psychischen Symptomen berichten [1]. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung leiden wohnungslose Menschen häufiger unter psychischen Erkrankungen [45]. Weitere Daten belegen, dass die Prävalenz von schizophrenen Störungen, das Gesundheitsverhalten von Betroffenen und die Inanspruchnahme von Leistungen mit dem Bruttonationaleinkommen und der Ungleichverteilung des Einkommens variieren [46]. Häufig wird dabei von dem „sozialen Gradienten” der psychischen Gesundheit gesprochen, der den Zusammenhang zwischen dem sozialen Status einer Person und dem Risiko für die Entstehung einer psychischen Erkrankung beschreibt. Dieser Gradient postuliert, dass viele psychische Erkrankungen häufiger auftreten und die Lebenserwartung oft kürzer ist, je stärker ausgeprägt die soziale Benachteiligung ist [42], [44], [47].
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Gesundheitsgerechtigkeit
Die Debatte darüber, welche gesundheitlichen Ungleichheiten ungerecht (oder nicht ungerecht) sind und welche Konsequenzen sich daraus für die Behandlung von Betroffenen ergeben, ist kontrovers. Eine zentrale Frage dabei ist, wo die Grenzen von individuellen, informierten Entscheidungen in Bezug auf das Gesundheitsverhalten und den daraus resultierenden Verantwortlichkeiten für die einzelnen Betroffenen als auch die Gesellschaft liegen.
Mit Blick auf die Ursachen von gesundheitlichen Ungleichheiten wird zwischen angeborenen Eigenschaften, freiwillig gewählten und unfreiwillig erfolgten Bedingungen unterschieden [48]. Daraus ergeben sich 3 Formen von gesundheitlichen Ungleichheiten:
-
nicht vermeidbare,
-
vermeidbare, aber nicht unfaire und
-
vermeidbare und unfaire Ungleichheiten [48].
Nicht vermeidbare gesundheitliche Ungleichheiten beruhen auf unveränderbaren Faktoren, wie genetischen oder biologischen Determinanten, und zeigen sich beispielsweise in der höheren Krankheitslast älterer Menschen aufgrund des natürlichen Alterungsprozesses. Gesundheitliche Ungleichheiten, die aus informierten Entscheidungen (informed decision making) resultieren, wie gesundheitliche Folgeschäden aufgrund eines riskanten Lebensstils mit hohem Zigarettenkonsum, werden bisweilen als vermeidbare, jedoch nicht unfaire Ungleichheiten angesehen. Dies wird jedoch kontrovers diskutiert, denn es ist unklar, inwieweit gesundheitsbezogene Ungleichheiten überhaupt Folge informierter, freiwilliger Entscheidungen sein können, wenn komplexe, strukturelle soziale Ungerechtigkeiten im Hintergrund vorliegen [49]–[52].
Je weniger eine gesundheitliche Belastung auf freiwillig gewähltem Verhalten basiert oder je mehr diese von sozialen Determinanten und grundlegenden sozialen Ungerechtigkeiten abhängt, desto eher ist es möglich, die daraus resultierenden gesundheitlichen Ungleichheiten als „ungerecht” zu bezeichnen [48], [50]. Diese vermeidbaren und unfairen gesundheitlichen Ungleichheiten werden in der Literatur auch als „health inequities” bezeichnet und hängen eng mit populationsbezogenen Vulnerabilitäten und einer ungleichen Verteilung von Ressourcen, Stigmatisierungen, Diskriminierungserfahrungen, Zugang zu medizinischer Versorgung und sozialer Unterstützung zusammen [50]. In einer Gesellschaft, die Gesundheit als Menschenrecht [53] anerkennt und Solidarität und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen [54] als zentralen Werte betrachtet, entsteht eine starke moralische Verpflichtung, diese ungerechten Ungleichheiten zu identifizieren und zu adressieren.
Die Frage, wo Eigenverantwortung für das jeweilige Gesundheitsverhalten endet und wo die gesellschaftliche Verantwortung beginnt, ist dabei oft nicht leicht zu beantworten und z. B. bei Suchterkrankungen durch stigmatisierende Einstellungen, die sehr stark auf Eigenverantwortung bis hin zu Schuldzuschreibungen verweisen, verzerrt [55].
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mHealth-Technologien im Spannungsfeld von sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten
Der Vergleich der folgenden Fallberichte aus der klinischen Praxis veranschaulicht den Zusammenhang zwischen den sozialen Determinanten, der Nutzung von mHealth-Technologien und der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheiten. Johannes und Mia (Anm. der Redaktion: Vornamen geändert) aus den Fallberichten sind im selben Quartal an einer Panikstörung (ICD-10 F41.0) erkrankt und bekamen in der psychiatrischen Institutsambulanz eine entsprechende DiGA als 3-monatigen Online-Kurs mit verschiedenen Modulen zu Psychoedukation, einem Begleit-Tagebuch, Symptom-Checks, sowie verhaltenstherapeutischen Strategien (z. B. Entspannungsübungen, Exposition) verordnet. Während Johannes sich regelmäßig mit den Inhalten der DiGA auseinandersetzt und eine Verbesserung seines psychischen Zustands bemerkt, hat Mia Probleme, Zugang zur DiGA zu erhalten und schafft es nicht, das Angebot zu nutzen. Ihr psychischer Zustand hat sich am Ende des Quartals nicht merklich verbessert, sie berichtet sogar von zusätzlichen Schuldgefühlen, weil sie die DiGA nicht ausreichend genutzt habe.
Johannes, 31 Jahre alt, leidet an einer bipolar-affektiven Störung, die als ggw. remittiert eingestuft werden kann. Er kommt aus Bayern und lebt mit seiner Partnerin in einer Wohnung in Berlin. Nach dem Abschluss seines Studiums entwickelt er zunehmend Beklemmungsgefühle an überfüllten Orten, z. B. in der Supermarktschlange, in der U-Bahn oder im Bus. Zuletzt kam es in diesen Situationen zu Panikattacken, sodass er es mittlerweile vermeidet, das Haus zu verlassen. In der Sprechstunde der psychiatrischen Institutsambulanz wird ihm eine DiGA verschrieben, die er sich am Tag nach der Sprechstunde interessiert herunterlädt. Am Ende des Quartals berichtet er, dass er fast alle Module durchgearbeitet habe und die verschiedenen Symptome seiner Panikattacken (z. B. Atemnot, Schwindel oder Todesangst) besser kennengelernt und sich seinen Ängsten gestellt habe. Es falle ihm jetzt leichter, Bus zu fahren und er habe bereits eine Probatoriksitzung bei einer Psychotherapeutin gehabt.
Mia, 37 Jahre alt, ist aufgrund einer rezidivierenden depressiven Störung in ambulanter psychiatrischer Behandlung und aufgrund ihrer Opiatabhängigkeit substituiert. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kleinkindern in einem Mutter-Kind-Einrichtung. Ihre älteren Kinder leben in Pflegefamilien. Sie lebt von Bürgergeld. Ihr Smartphone verwendet sie v. a. um sich vom Alltag mit Handyspielen abzulenken. Nach einer Panikattacke vermeidet sie zunehmend die U-Bahn, verpasst aufgrund der Betreuung ihrer Kinder und den nun umständlichen Wegen mit dem Doppelsitz-Kinderwagen viele Termine. Auch ihr wird dieselbe DiGA verschrieben. Einige Wochen später sagt sie in der Sprechstunde, dass sie nicht verstanden habe, wie sie das Rezept auf der Website des Anbieters habe einlösen sollen. Ein neues Rezept wird ausgestellt. Am Ende des Quartals berichtet sie auf Nachfrage, dass sie die DiGA kaum genutzt habe. Sie fühle sich schlecht, weil sie nicht die Zeit gefunden habe, die Anforderungen (z. B. Tagebuch führen und Atemtechniken anwenden) umzusetzen. Sie sei zunehmend frustriert mit sich selbst und der App geworden.
Einerseits können gesellschaftliche Stereotype dazu beitragen, dass Technik als „männlich“ wahrgenommen wird [56], [57]. Während Johannes vielleicht schon früh ermutigt wurde, sich mit Baukästen und Videospielen zu beschäftigen und sich später für ein Maschinenbaustudium entschloss, spielte Mia mit Puppen und kreativen Materialien. Das Interesse an und der selbstbewusste Umgang mit technischen Themen erleichtern Johannes eventuell die Nutzung der DiGA. Es kann sein, dass Mia sich aufgrund ihrer Sozialisation im Umgang mit Technik weniger wohl fühlt, was ihr bereits den Zugang zur DiGA erschwert. Zudem sind Entwicklerteams oft nicht repräsentativ zusammengesetzt, sondern bestehen eher aus männlichen, weißen, technologieaffinen Personen, die somit ihre Annahmen einer idealen Anwendung bewusst oder unbewusst auf den Entwicklungsprozess übertragen [58].
Darüber hinaus beeinflussen Unterschiede in den sozialen Determinanten die Nutzung der DiGA. Johannes verfügt über ausreichend Ressourcen, wie beispielsweise eine akademische Ausbildung, finanzielle Sicherheit, eine langjährige Partnerschaft, eine stabile Wohnform und ein gutes soziales Netz. Er hat ausreichend Zeit, die Module und die DiGA regelmäßig zu nutzen. Mia hingegen, als alleinerziehende Mutter von 2 Kleinkindern, ist aufgrund ihrer Wohnsituation und ihrer Opiatabhängigkeit einen großen Teil des Tages mit einer Vielzahl von Aufgaben beschäftigt, die es ihr nur eingeschränkt ermöglichen, sich um ihre psychische Gesundheit zu kümmern. Im Gegensatz zu Johannes schafft sie es nicht, die Anforderungen der DiGA sinnvoll in ihren Alltag zu integrieren. Dies erzeugt bei ihr problematische Schuldgefühle, weil sie glaubt, den Erwartungen der Behandelnden sowie ihren eigenen Erwartungen an eine digitalunterstützte Verbesserung ihres psychischen Zustandes nicht gerecht zu werden.
Insgesamt scheinen die digitalen und gesundheitlichen Ungleichheiten zu einem großen Teil darauf zu beruhen, dass Johannes aufgrund seiner sozialen Position mehr Freiheitsgrade als Mia für sich nutzen kann, um die DiGA in seinen Alltag zu integrieren. Der Vergleich der Fallberichte zeigt, dass die Gefahr besteht, dass mHealth-Technologien, die die Lebensrealitäten der Nutzenden nicht berücksichtigen, bestehende gesundheitliche Ungleichheiten verschärfen können, insbesondere für sozial benachteiligte Gruppen, die als ungerecht angesehen werden können [58].
Empirische Daten belegen diese klinischen Beobachtungen. mHealth-Technologien sind nicht für alle gleichermaßen zugänglich und oftmals profitieren sozio-ökonomisch besser gestellte Gruppen. Der Einfluss der sozialen Determinanten zeigt sich auch im Hinblick auf systematische Unterschiede in der digitalen Teilhabe. Man spricht diesbezüglich von der „digitalen Kluft” (engl. digital divide), in der Bevölkerung [59], [60]. Eine Übersichtsarbeit der Weltgesundheitsorganisation zum Zugang und zur Nutzung von digitalen Gesundheitstechnologien in der Europäischen Region zeigte, dass Menschen mit einem höherem Gesundheitsbedarf, ältere Menschen und marginalisierte Gruppen weniger Nutzen durch digitale Angebote haben [61]. Gleichzeitig gibt es Evidenz für eine stärkere positive Wirkung bei jüngeren Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status, die in städtischen Gebieten leben [61]. Eine systematische Übersichtsarbeit von Borghouts et al. zeigte, dass neben technischen Problemen und dem Mangel an Personalisierung auch die Schwere von psychischen Erkrankungen ein Hindernis für die Beteiligung an digitalen Interventionen für die psychische Gesundheit ist [62].
Obwohl immer mehr Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, wie psychotischen Störungen, Smartphones besitzen [63], bleibt deren Zugang zu digitalen Gesundheitsdiensten im Vergleich zu anderen Patientengruppen oft erschwert [64]. Gründe dafür sind unter anderem finanzielle Schwierigkeiten und eine eingeschränkte digitale Gesundheitskompetenz [64]. Hinsichtlich der Nutzung von DiGA in Deutschland zeigte sich interessanterweise eine überproportionale Nutzung durch Frauen mit 71 % (69 % bei DiGA, die psychische Erkrankungen adressieren), sowie die höchste Inanspruchnahme in den Altersgruppen von 50–60 Jahren und eine stärkere Nutzung in urbanen Zentren [31]. Wie in den Fallbeispielen beschrieben, spielt die digitale Gesundheitskompetenz (DGK) ebenfalls eine Rolle bei der potentiellen Nutzung, die als Teil der allgemeinen Gesundheitskompetenz verstanden werden kann und sich vor allem auf den Umgang mit digitalen Gesundheitsinformationen bezieht [65]. In einer repräsentativen Erhebung der DGK in Deutschland zeigte sich, dass 76 % der Bevölkerung eine geringe DGK aufwiesen, wobei geringe literale Fähigkeiten mit einem höheren Alter, einem niedrigen Bildungsgrad sowie einem niedrigen Sozialstatus assoziiert waren und allgemeine Gesundheitskompetenz und digitale Kompetenzen stark korrelierten [66].
In der Literatur wurde darauf hingewiesen, dass die Nutzung digitaler Gesundheitstechnologien, insbesondere im Bereich des digitalen Selbstmanagements, mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Diese Arbeit umfasst sowohl kognitive Anstrengungen als auch einen signifikanten Zeitaufwand, für die die Nutzenden in der Regel keine finanzielle Entschädigung erhalten [67]. Diese zusätzliche Belastung kann, wie im Fall von Mia, besonders problematisch sein, wenn ohnehin wenig Zeit zur Verfügung steht und finanzielle Schwierigkeiten bestehen.
Darüber hinaus hat die Nutzung von mHealth-Technologien tiefgreifende Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Nutzenden [67]. Es scheint naheliegend, dass sich die Unterschiede in der Nutzungserfahrung von Johannes und Mia auf deren Perspektive von psychischer Gesundheit auswirken. Beispielsweise zeigt sich bei Johannes, dass die regelmäßige Nutzung der DiGA eine motivierende Wirkung hat. Er sieht seine Diagnose als etwas an, das er aktiv beeinflussen kann, dabei nimmt er sich als selbstwirksam wahr und bemerkt eine allmähliche Besserung seines Zustands. Mia hingegen scheinen ihre negativen Erfahrungen in der Nutzung eher entmutigt zu haben. Sie fühlt sich möglicherweise überfordert und hat den Eindruck, wenig Einfluss auf ihre Gesundheit nehmen zu können (disempowerment). Sie könnte ihre Situation als ausweglos und sich selbst als unfähig wahrnehmen [68].
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Gerechtigkeitsorientierte Leitprinzipien für die Entwicklung und den Einsatz von mHealth-Technologien
Um dem Risiko einer Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten wirksam zu begegnen, ist es entscheidend, dass mHealth-Technologien im Kontext der spezifischen Strukturen, in denen sie eingesetzt werden sollen, gedacht, entwickelt und implementiert werden. Dazu gibt es etablierte Rahmenwerke und Richtlinien, die als Leitfaden dienen können [69], [70]. Ein Beispiel hierfür ist das von Figueroa et al. vorgestellte Modell, das 5 zentrale Themengebiete und Schlüsselfragen formuliert, um soziale Gerechtigkeit in der Forschung zu digitalen Gesundheitstechnologien (engl. digital health social justice) zu fördern. Diese Themengebiete umfassen die gerechte Verteilung der Nutzungsgruppen, ein gerechtes Design der Technologien, den Schutz und die Übermittlung von Daten, die Vermeidung von Stereotypen und Bias sowie die Adressierung von strukturellem Rassismus ([ Abb. 2 ]) [69]. Weiterhin ist es notwendig, bereits bestehende Ansätze zur Untersuchung der Haltungen marginalisierter und unterversorgter Gruppen gegenüber psychischen Erkrankungen und digitalen Behandlungsmöglichkeiten [71]–[73] sowie zu deren Gesundheitsverhalten und Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten [74], [75] miteinander zu verbinden und weiterzuentwickeln.
Embedded Ethics, ein aus der Informationstechnologie bekanntes Konzept [76], umfasst das Prinzip, dass ethische Überlegungen nicht nachträglich oder als separate Reflexion betrachtet werden sollten, sondern von Anfang an in den Design- und Entwicklungsprozess eingebettet sein müssen. Dieser Ansatz bietet vielversprechende Möglichkeiten zur Verbesserung der bisherigen Entwicklungen von mHealth-Technologien für die psychiatrische Versorgung und Berücksichtigung gerechtigkeitsorientierter Leitprinzipien. Besonders im Hinblick auf die Einbindung von Künstlicher Intelligenz, bedarf es einer Diskussion ethischer Aspekte, wie sie in aktuellen Veröffentlichungen beschrieben wird [77]. Durch die frühzeitige Einbindung ethischer Perspektiven können potenzielle ethische Probleme im Bereich von Datenschutz, Autonomie und sozialer Gerechtigkeit aktiv adressiert werden. Dies lässt sich beispielsweise durch Partnerschaften mit Forschungseinrichtungen und Kooperationen mit Ethikkomitees realisieren.
Die meisten digitalen Technologien im Bereich der psychischen Gesundheit, die in Studien evaluiert wurden, wurden überwiegend „top-down” entwickelt. Dabei legen Experten die Interventionen fest, die auf Verhaltensstrategien basieren und aus evidenzbasierten Behandlungen abgeleitet wurden [78]. Weiterhin liegt der Fokus bei der Entwicklung digitaler Lösungen stark auf den technischen Aspekten, während die notwendige menschliche Unterstützung oft vernachlässigt wird. Studien zeigen jedoch, dass menschliche Begleitung entscheidend für den Erfolg solcher Interventionen ist. Zudem werden die realen Bedingungen in klinischen Settings, wie etwa Überweisungsprozesse oder IT-Anforderungen, selten in die Entwicklung einbezogen. Dies führt dazu, dass viele digitale Lösungen nicht in der Praxis „ankommen” (engl. Research-To-Practice Gap) [78].
Zusätzlich zum Ansatz der Embedded Ethics werden daher partizipative Forschungs-, Design- und Entwicklungsansätze diskutiert, bei denen Patienten, Angehörige und Fachkräfte aktiv in alle Phasen des Entwicklungsprozesses von mHealth-Technologien eingebunden werden, oder solche Prozesse selbst organisieren und anleiten [79]. In der psychiatrischen Versorgung ist diese Partizipation besonders wertvoll, da sie sicherstellt, dass die Technologien nicht nur ethische Grundsätze einhalten, sondern auch tatsächlich die komplexen Anforderungen und Herausforderungen des Alltags der Nutzenden adressieren. Durch regelmäßige Feedbackschleifen und kooperative Workshops (“Co-Creation-Workshop”) können Bedenken frühzeitig identifiziert und adressiert werden. Dies fördert die Entwicklung von praxisnahen und bedarfsgerechten Technologien, die die Selbstbestimmung und das Wohlbefinden der Patienten respektieren und unterstützen. Hierbei kann technologisch eine Balance zwischen Selbstmanagement, Eigenverantwortung und Verantwortung der Behandelnden erreicht werden. Schließlich soll ein partizipativer Ansatz die Akzeptanz und das Vertrauen der Nutzenden in die neuen digitalen Lösungen erhöhen und stärken. Insgesamt kann die Kombination von Embedded Ethics und partizipativem Design es ermöglichen, die Perspektiven und Bedürfnisse der Beteiligten und damit die soziale Diversität und die sozialen Determinanten der psychischen Gesundheit zu berücksichtigen. Hierdurch kann sich die Qualität und Effektivität von mHealth-Technologien in der psychiatrischen Versorgung maßgeblich verbessern. Zu bedenken ist dabei der dimensionale Aspekt von partizipativen Methoden, sodass die Einbeziehung von User Feedback als minimale Variante bis hin zur Integration von Peer-Researchern und starker Community-Integration reichen kann und kritisch zu prüfen ist.
Ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz partizipativer Prinzipien für die Entwicklung und den Einsatz von mHealth-Technologien ist unter anderem das Unternehmen „MindStrong”, welches eine Plattform zur Früherkennung und Behandlung von psychischen Erkrankungen durch die Analyse von Smartphone-Nutzungsmustern entwickelt hat, bei der Patienten und Fachkräfte aktiv in die Entwicklung und Testung der Plattform einbezogen wurden [80]. Das Unternehmen „Togetherall” bietet eine digitale Plattform für Peer-Support und Selbsthilfe bei psychischen Problemen. Der Datenschutz und die Anonymität der Nutzer sind dabei zentrale Aspekte [81]. Die Anwendung des Charité Spin-offs „Recovery Cat” basiert auf „patient reported outcome measures (PROs)”, die in die ambulante Behandlung psychisch erkrankter Personen integriert sind und initial für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen entwickelt wurde [82]. Recovery Cat ermöglicht Patienten und deren Behandler mittels gemeinsam individualisierter Fragen zu Symptomen, Frühwarnzeichen, Ressourcen, unerwünschten Arzneimittelwirkungen Verläufe zwischen den Behandlungsterminen in der Ambulanz aufzuzeichnen und zu Sprechstundenterminen mittels QR-Code an die Behandelnden zu senden und gemeinsam zur Behandlungsplanung zu nutzen. Recovery Cat stellt somit einen Blended Care-Ansatz dar. Die gemeinsame Auswahl oder auch Formulierung der Fragen spiegelt einen partizipativen Ansatz in der Nutzung der Anwendung dar.
Silke (Anm. der Redaktion: Name geändert) leidet seit über 10 Jahren an einer bipolaren Störung. Aufgrund der Schwere der Erkrankung ist die Patientin erwerbsunfähig und bezieht eine Rente. Wiederholt kam es zu langen, stationären Behandlungen und Unterbringungen. Nach der Entlassung aus der stationären Behandlung nahm Silke an der Machbarkeitsstudie von Recovery Cat teil. Silke und ihr Behandler beschlossen, folgende Aspekte gemeinsam zu erfassen: Frühwarnsymptome, tägliche Aktivitäten (im Sinne von Ressourcen als auch Frühwarnzeichen) sowie die Medikationseinnahme. Nach einigen Monaten der Nutzung zeigten sich eine Zunahme der sozialen Aktivität, eine deutliche Abnahme des Nachtschlafs und deutlich verbesserte Stimmung.
Silke deutete dies als beginnende manische Episode und stellte sich selbstständig in der zuständigen Klinik vor. Der diensthabende Arzt schätzte die Symptomatik zunächst als moderat ein und sah keine Indikation für eine stationäre Aufnahme. Silke verwies dann auf die im Smartphone gespeicherten Symptomverläufe und konnte so darlegen, dass eine Krise droht und eine stationäre Aufnahme notwendig ist. Es erfolgte eine freiwillige stationäre Behandlung für 6 Wochen, danach konnte die Patientin ambulant weiterbehandelt werden.
Das Fallbeispiel zeigt, dass es gelungen ist, die Patientin für die Nutzung einer mHealth-Anwendung zu gewinnen und dass sie von der Nutzung profitierte: Sie konnte selbstständig Frühwarnzeichen erkennen (Gesundheitskompetenz) und nutzte diese Kompetenz, eine Zugangsbarriere zu der von ihr gewünschten (und indizierten!) Behandlung zu überwinden (Empowerment). Dies gelang ihr trotz geringer finanzieller Ressourcen (EM-Rente), geringer sozialer Unterstützung, und mäßiger digitaler Gesundheitskompetenz – Eigenschaften, die als negative Determinanten bezüglich der Nutzung beschrieben werden. Folgende Eigenschaften der Anwendung könnten dabei eine Rolle gespielt haben, die Nutzung zu erleichtern: Zum einen die Einbeziehung Betroffener während des gesamten Entwicklungsprozesses der Anwendung (embedded ethics, user-centered design [83]), einhergehend mit einer starken Anpassung an die Präferenzen der Nutzenden in allen Phasen der Entwicklung: Konzeptentwicklung, Umsetzung, Testung, Anpassung der App und zum Anderen in die gemeinsame Individualisierung der ePROs, also Anpassung der Symptomfragen, aber auch Ressourcenfragen an den Krankheitsverlauf, die Lebenssituation, die Ressourcen und die Sprache der Patientin.
Stigmatisierender oder unverständlicher Sprachgebrauch soll hierdurch reduziert oder vermieden werden. Durch die gemeinsame Entscheidung, wie viele Fragen ausgewählt werden und wie oft diese beantwortet werden, kann der Zeitaufwand den Möglichkeiten der Nutzenden angepasst werden. Dadurch, dass die Symptomverläufe gemeinsam in der Sprechstunde genutzt werden (Blended Care), fällt eine Nichtnutzung auf und gibt der Behandler die Möglichkeit, Nutzungshindernisse zu identifizieren und ggf. gemeinsam zu beseitigen. Beispielsweise wurde bei Fehlfunktionen (bugs) der Support von Recovery Cat gemeinsam durch Behandler und Patient kontaktiert.
Schließlich hängt der Zugang zu mHealth Technologien auch von deren Erstattungsfähigkeit und den medizinischen Leistungen, die daran geknüpft sind, ab. Hier muss der Gesetzgeber tätig werden und in der Regelversorgung analoge Leistungen durch Fachpersonal, welches in Verbindung mit mHealth Technologen steht. Bisher gibt es für Blended Care Ansätze im Bereich der psychischen Gesundheit noch keine Umsetzung in der Regelversorgung. In selektivvertraglichen Konstrukten und Netzwerken, wie der KSV-Psych-Richtlinie, gibt es Ansätze, die hier für mehr Gesundheitsgerechtigkeit sorgen können [84], [85].
Trotz des Potenzials, die individuelle psychische Gesundheit auch für marginalisierte Gruppen zu fördern, sind mHealth-Anwendungen oft nicht für alle geeignet, die von ihnen profitieren könnten. Die Gefahr besteht, dass durch die Vernachlässigung des Einflusses der sozialen Determinanten der Gesundheit bereits bestehende gesundheitliche Ungleichheiten verstärkt werden und Ungerechtigkeiten in der digitalen Sphäre reproduziert werden. Durch Embedded Ethics und partizipativen Designansätzen können sowohl individuelle Bedürfnisse der Betroffenen und strukturelle gesellschaftliche Faktoren als auch beeinflussende Faktoren in der Entwicklung von mHealth-Technologien berücksichtigt werden. Die Integration ethischer Überlegungen und die Einbeziehung vielfältiger Stakeholder erfordert jedoch beträchtliche Ressourcen und eine sorgfältige Planung. Unterschiedliche Perspektiven und Bedürfnisse müssen harmonisiert, strenge Datenschutzstandards eingehalten und regulatorische Anforderungen und Zugangswege zur Versorgung berücksichtigt werden. Die praktische Umsetzung ethischer Prinzipien in technische Spezifikationen ist komplex und erfordert spezialisierte Expertise. Zudem muss Vertrauen und Akzeptanz bei den Nutzenden durch transparente Kommunikation und Beteiligung aufgebaut werden. Methoden wie Co-Creation-Workshops und kontinuierliche Feedbackschleifen können dabei helfen, die Bedürfnisse aller Beteiligten zu integrieren. Partnerschaften mit Forschungsinstitutionen und der Einsatz von Ethikkomitees sowie entsprechend geschulte Forschungsethikkommissionen können die Implementierung unterstützen. Letztlich sind die kontinuierliche Schulung des Entwicklungsteams und eine enge Zusammenarbeit mit Rechts- und Gesundheitsexperten unerlässlich. Trotz der Herausforderungen bietet dieser Ansatz die Möglichkeit, sichere, benutzerfreundliche und ethisch verantwortungsvolle digitale Gesundheitslösungen zu schaffen, die das Vertrauen der Nutzenden gewinnen und deren Akzeptanz und positive Wirkung erhöhen können. Ein solider, ethisch fundierter Entwicklungsprozess kann somit die Qualität und Effektivität von mHealth Technologien in der psychiatrischen Versorgung erheblich verbessern.
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Wissenschaftlich verantwortlich
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbedingungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Felix Machleid, Berlin.
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Interessenkonflikt
Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: ja; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein.
Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
‡ Diese Autoren haben gleichermaßen zu dieser Arbeit beigetragen
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Literatur
- 1 RKI. Mental-Health-Surveillance-Bericht Quartal 2/2023: Aktuelle Ergebnisse zur Entwicklung der psychischen Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung bei hochfrequenter Beobachtung 2023 [zuletzt. https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/MHS/Quartalsberichte/2023-Q2_MHS-Bericht.pdf?__blob=publicationFile Stand: 23.9.24
- 2 DGPPN e. V. Basisdaten Psychische Erkrankungen, Stand April 2024. www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html Stand: 23.9.24
- 3 Bertelsmann Stiftung. Faktencheck Gesundheit: Regionale Verteilung von Arztsitzen (Ärztedichte) HNO-Ärzte, Nervenärzte, Orthopäden, Psychotherapeuten, Urologen 2014. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_Faktencheck_Gesundheit_Aerztedichte_2.pdf Stand: 23.9.24
- 4 Jacobi F, Becker M, Bretschneider J. et al Ambulante fachärztliche Versorgung psychischer Störungen: Kleine regionale Unterschiede im Bedarf, große regionale Unterschiede in der Versorgungsdichte. Nervenarzt 2016; 87 (11) 1211-21
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Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
02 December 2024
© 2024. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
-
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