ABB. 1 Beispiel für ein One-Minute-Paper. Lehrende setzen die kurze, informelle Evaluationsmethode ein, um Feedback zum Lernfortschritt der Lernenden zu erhalten. Gleichzeitig hilft sie ihnen dabei, ihr eigenes Vermitteln zu reflektieren. © AK-DigiArt/stock.adobe.com
Lehrpersonen kennen die Frage: „Ist das für die Prüfung relevant?“ Diese Unsicherheit zeigt, wie wichtig es ist, dass klar definiert sein muss, was in Prüfungen erwartet und wie beurteilt wird. Der erste Teil der Artikelserie „Grundlagen des Lehrprozesses“ stellt das Konzept des Constructive Alignment vor (ERGOPRAXIS 6/24, S. 6). Es betont, dass Lernergebnisse, Lehr- und Lernmethoden sowie Prüfungen beim Entwickeln von Lernmodulen gut aufeinander abgestimmt sein müssen. Boud [1] und Norton [2] unterstreichen, dass Prüfungen den Lernprozess stark beeinflussen. Lernende richten ihr Lernen oft auf das Bestehen von Tests aus, was wiederum ihre weiteren Lerngewohnheiten prägt. Sie sollten daher nicht nur als Bewertungsinstrument gesehen werden, sondern auch als integraler Bestandteil des Lernens. Sie regulieren den Lernprozess und bieten Lehrpersonen die Möglichkeit, die eigene Lehre zu evaluieren.
Prüfungstypen und was sie bedeuten
Prüfungstypen und was sie bedeuten
Um die Rolle von Prüfungen im Lernprozess zu verstehen, ist es hilfreich, zwischen zwei verschiedenen Typen zu unterscheiden: summative und formative Prüfungen. Summative messen Leistungen und bewerten die Lernenden am Ende eines bestimmten Lernabschnitts, Moduls oder Studiengangs. Sie bewerten den Lernstand sowie die erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen der Lernenden abschließend. Beispiele hierfür sind Klausuren oder mündliche Prüfungen am Ende einer Lerneinheit.
Formative Prüfungen hingegen geben während des Lehr- und Lernprozesses Rückmeldungen, um unter anderem rechtzeitig zu unterstützen. Diese können während eines Lernabschnitts und ergänzend zu summativen stattfinden. Sie sind auch für Lehrpersonen hilfreich, da sie den Lernfortschritt, das Verständnis und Unklarheiten der Lernenden rückmelden. Dadurch können diese den Unterricht entsprechend anpassen. Beispiele für formative Prüfungen sind strukturierte Feedbackgespräche, schriftliche Reaktionen auf Ausarbeitungen oder auf ein Portfolio.
Die unterschiedlichen Schwerpunkte werden durch die englische Definition [3] deutlich:
Anwendung im Lernprozess
Gestaltet man summative Prüfungen lernförderlich, können sie den Lernprozess ebenso unterstützen wie formative Feedbackmomente. Sowohl positive als auch kritische Rückmeldungen können die Leistung fördern und zu neuen Handlungen anregen [4].
Classroom Assessment Techniques (CATs) eignen sich besonders gut für die formative Unterstützung der Lernenden. Es ist der Begriff für kurze, informelle Evaluationsmethoden. Lehrpersonen setzen diese während des Unterrichts ein, um Feedback zur Weiterentwicklung der Lernenden zu erhalten. CATs melden den Lernenden den eigenen Lernfortschritt zurück und helfen gleichzeitig den Lehrpersonen dabei, das eigene Vermitteln zu reflektieren [5]. Ein Beispiel für diese Technik ist das „One-Minute-Paper“ ([ABB. 1]).
Diese Techniken sollten anonym, unbenotet und transparent für die Lernenden durchgeführt werden. Weitere Infos zu CATs finden Sie unter bit.ly/Classroom-Assessment-Techniques.
Konstruktiv Feedback zu geben sowie zu erhalten und es zielführend umzusetzen, ist herausfordernd. Effektives Feedback zeigt die Lücke zwischen dem aktuellen Leistungsstand und dem angestrebten Ziel auf und gibt Informationen, was noch verbessert werden kann. Hattie und Timperley [4] betonen, dass Feedback ein wichtiger Bestandteil des Lernprozesses ist. Richtig angewendet, hat es einen starken positiven Einfluss auf den Lernerfolg, was sich wiederum in den abschließenden summativen Prüfungen zeigen kann.
Ein Leitfaden für summative und formative Prüfungen
Um den Prüfungsprozess zielführend sowie transparent zu gestalten, kann es helfen, einen Prüfungszyklus zu nutzen. Dieser basiert auf dem PDCA-Zyklus (Plan, Do, Check, Act) und besteht aus sieben Phasen. Im Folgenden orientieren wir uns am Zyklus nach Molkenboer [6] ([ABB. 2]) und verdeutlichen ihn anhand eines Fallbeispiels.
ABB. 2 Phasen des Prüfzyklus mit entsprechenden Produkten (eigene Übersetzung) [7]
1. Grundlegenden Entwurf entwickeln
1. Grundlegenden Entwurf entwickeln
Prüfungen werden im Einklang mit der Bildungseinrichtung entwickelt, um die Lernergebnisse zu erreichen und vielfältige Formen einzusetzen. Es ist notwendig, sie im breiten Kontext zu betrachten und nicht als isolierte Aufgabe eines Moduls ([ABB. 2]).
Felix* ist Dozent an einer Berufsfachschule für Ergotherapie. Im Modul „Der Mensch – Betätigung und Partizipation“ vermittelt er die Grundlagen der Ergotherapie. Das schulinterne Spiralcurriculum gibt vor, dass die Lernenden im ersten Ausbildungsjahr den ergotherapeutischen Gegenstandsbereich „Betätigung“ durch theoretische und praktische Auseinandersetzung mit ergotherapeutischen Inhalts- und Prozessmodellen sowie Assessments vertiefen und erproben. Felix betrachtet, was die Lernenden nach diesem Modul können sollen.
Beispiel einer Prüfungsstruktur
Die nachfolgende Beschreibung stammt aus dem Bachelorstudiengang Ergotherapie, Zuyd Hogeschool, Heerlen (NL).
Setting/Szenario
Die Lernenden werden in mehrere Gruppen von 4 bis 5 Personen eingeteilt. Jede Gruppe durchläuft eine 30-minütige Prüfung. Diese besteht aus einem individuellen zweiminütigen Statement und einer anschließenden Gruppendiskussion, an der alle Teilnehmenden beteiligt sein müssen. Im Anschluss an die jeweilige Prüfung teilen die Lehrpersonen den Lernenden die Ergebnisse mit. Jedes Gruppenmitglied erhält auf Grundlage der Bewertung in dem Bewertungsschema eine individuelle Note.
Ziel der Prüfung
Anhand eines Fallbeispiels wählen die Lernenden das geeignete Inhalts- und Prozessmodell sowie die dazu passenden Assessments und Interventionen aus. Sie untermauern ihr methodisches Vorgehen mit Evidenz und zeigen im Rahmen der Prüfung ein kollegiales Miteinander.
Vorgehensweise
Die Gruppeneinteilung und das jeweilige Fallbeispiel werden im Vorfeld zu einem festgelegten Zeitpunkt bekanntgegeben. Die Gruppe bereitet sich gemeinsam vor. Jedes Gruppenmitglied erstellt ein zweiminütiges Statement, das den jeweiligen Teil des methodischen Handelns widerspiegelt. Die Statements bauen aufeinander auf und stehen im Bezug zueinander. Das bedeutet, dass die Gruppe insgesamt die Wahl des Inhaltsmodells, des Prozessmodells, der Bezugsrahmen, der Reasoningformen, der genutzten Assessments und der geplanten Interventionen unter Zuhilfenahme von Evidenz anspricht. In der anschließenden Diskussion vertiefen die Lernenden die Themen. Sie dürfen und sollen sich gegenseitig unterstützen. Wenn Lernende nicht auf Fragen antworten können, dürfen andere einspringen. Es ist wichtig, dass alle in der Gruppe zu Wort kommen.
Notengebung
Alle Kriterien aus dem Bewertungsschema fließen in die Bewertung ein. Die Lernenden können maximal 10 Punkte für jedes Kriterium erhalten. Um die Prüfung zu bestehen, müssen die Lernenden minimal 55 Punkte erreichen ([TAB].).
TAB. Exemplarischer Auszug eines Bewertungsschemas aus den Unterlagen der Zuyd Hogeschool
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Kriterium
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Note
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1
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Der/Die Lernende wendet die entsprechende Fachterminologie korrekt an.
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2
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Der/Die Lernende überträgt das ausgewählte Inhaltsmodell auf den Klienten/die Klientin.
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3
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Der/Die Lernende zeigt die Fähigkeit, das ausgewählte Prozessmodell auf den Klienten/die Klientin zu übertragen.
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4
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Der/Die Lernende stellt die gewählten Frames of Reference dar.
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5
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Der/Die Lernende begründet die Wahl des/der Frame(s) of Reference.
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6
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Der/Die Lernende zeigt, dass er/sie Kenntnisse über die drei Kernelemente Mensch, Handeln und Umwelt miteinander verbinden und diese theoretisch in die ergotherapeutische Praxis übertragen kann.
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7
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Der/Die Lernende wendet Kenntnisse über den Top-down- und/oder den Bottom-up-Ansatz bzgl. des Fallbeispiels an und kann die Vorgehensweise begründen.
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Anzahl Kriterien
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Prüfungshinweis für Lernende
Nachfolgender Hinweis stammt aus dem Bachelorstudiengang Ergotherapie, Zuyd Hogeschool, Heerlen (NL):
Die Prüfung findet in Form eines gemeinsamen Gesprächs statt und ähnelt einem kollegialen Austausch, in dem ihr euer professionelles Handeln unter Einbezug all eurer neuen Erkenntnisse aus dem Grundstudium einfließen lasst. Es geht nicht allein um Richtig oder Falsch beim Darlegen der Inhalte, sondern vor allem um eure Argumentationslinie und euren Reasoningprozess. So bereitet euch diese Prüfung u. a. gut auf eure beruflichen Anforderungen vor.
2. Prüfungsmatrix erstellen
2. Prüfungsmatrix erstellen
Die für das Modul verantwortlichen Lehrpersonen erstellen eine Prüfungsmatrix, um den systematischen Aufbau der Prüfung zu planen und die Verteilung der Aufgaben auf die Lernergebnisse festzulegen ([ABB. 2], S. 5). Das Team kann die Matrix auch gemeinsam formulieren.
Felix erstellt eine Prüfungsmatrix, die die Verteilung und Gewichtung der Inhalte visualisiert. Diese Matrix dient sowohl ihm als auch den Lernenden als Orientierung im Prüfungsprozess. Auf Grundlage der ergotherapeutischen Berufskompetenzen entwickelt er Kriterien, die während der Durchführung anhand des Notenspektrums von sehr gut bis unbefriedigend bewertet werden. Abschließend bilden diese die Gesamtnote. Nachfolgende exemplarische Prüfungsmatrix stammt aus den Unterlagen der Zuyd Hogeschool ([TAB].).
3. Prüfung konstruieren
Die für das Modul verantwortlichen Lehrpersonen konzipieren verschiedene Prüfungsarten und -materialien, die durch Antwortmodelle, Rückmeldungen und Fallbeispiele unterstützt werden ([ABB. 2], S. 5).
Mithilfe des Beurteilungsschemas entwickelt Felix vier kurze Fallbeschreibungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Lernenden sollen diese durch die „Brille“ eines selbst gewählten Inhaltsmodells darstellen. Er bespricht den Entwurf mit seinen Kolleg*innen, um Feedback und Anregungen zu erhalten. Die grundlegende Struktur diskutiert er zudem mit der Lernendenvertretung, um deren Meinung bezüglich der Bewertungskriterien und Relevanz zu hören. Die Lernendenvertretung schlägt vor, die Prüfung in der Gruppe durchzuführen. Dies ist einer Teamsitzung sehr ähnlich und stellt somit einen stärkeren Bezug zu den ergotherapeutischen Berufskompetenzen her. Felix kann dieses Argument nachvollziehen und greift es daher gerne in der Prüfung auf.
4. Prüfung abnehmen
Um die Leistungen der Lernenden objektiv zu bewerten, legen die Lehrpersonen angemessene Rahmenbedingungen fest. Dazu gehört beispielsweise die Identifikation der Lernenden: An welchem Punkt ihrer Ausbildung oder ihres Studiums befinden sie sich? Welche Kompetenzen bringen sie mit? Auch die Zusammensetzung von Prüfungsgruppen spielt eine Rolle. Die Lehrpersonen berücksichtigen dabei z. B. die Gruppengröße und ob die Lernenden selbst wählen können, mit wem sie geprüft werden oder nicht ([ABB. 2], S. 5).
Felix achtet während der Prüfung darauf, dass die Bedingungen möglichst angenehm für die Lernenden sind. Er begrüßt sie freundlich, erklärt kurz den Ablauf sowie den Zeitpunkt der Notenverkündung und gibt den Lernenden die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Außerdem berücksichtigt er bei der Notengebung, dass die Lernenden bis zu diesem Zeitpunkt noch keine praktische Erfahrung mit Klient*innen hatten. In der anschließenden Gruppendiskussion achtet er darauf, dass alle Lernenden aus der Prüfungsgruppe angemessen zu Wort kommen.
5. Beurteilen/Verarbeiten/Analysieren
5. Beurteilen/Verarbeiten/Analysieren
Die Lehrpersonen analysieren sorgfältig die Ergebnisse, um gegebenenfalls Schwierigkeiten und Validität zu überprüfen und die Bewertungskriterien anzupassen ([ABB. 2], S. 5).
Felix überprüft die Ergebnisse und stellt fest, dass eine erhebliche Anzahl von Lernenden sich damit schwer getan haben die Wahl des/der Frame(s) of Reference zu begründen. Er passt die Bewertungskriterien an, um die Validität der Prüfung zu gewährleisten.
6. Dokumentieren und kommunizieren
6. Dokumentieren und kommunizieren
Die Lehrpersonen dokumentieren die Ergebnisse, z. B. in computergestützten Notenerfassungssystemen. Die Lernenden bekommen zudem individuelles Feedback ([ABB. 2], S. 5).
Felix erfasst und dokumentiert die Noten im schulinternen System. Den Lernenden gibt er schriftliches Feedback zu ihren jeweiligen Leistungen. Das soll ihnen helfen, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen. Ebenfalls erhalten sie das ausgefüllte Bewertungsschema mit der Punktzahl in den einzelnen Kriterien ([TAB.]).
7. Auswerten und verbessern
7. Auswerten und verbessern
Das Auswerten sichert die Qualität der Prüfungen und identifiziert Potenziale, um diese in Zukunft kontinuierlich zu verbessern. Wichtige Fragen sind dabei ([ABB. 2], S. 5) [8]:
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Gibt es Lücken oder Überschneidungen mit verwandten Fächern, Lerneinheiten oder Modulen, die man berücksichtigen sollte?
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Wie deutlich ist der Zusammenhang zwischen den angestrebten Lernzielen und dem Prüfungsformat?
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Wie ist die Notenverteilung, und lassen sich Ursachen für eine besonders gute oder schlechte Verteilung ausmachen?
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Wie hoch ist die Arbeitsbelastung für Lernende und Lehrpersonen?
Felix wertet das Prüfungsformat sowie die -materialien aus und identifiziert Verbesserungspotenziale. Besonders im Gedächtnis bleibt ihm ein Lernender, der zurückmeldete: „Im Vorbereiten, im Austausch mit den anderen und auch in der eigentlichen Prüfung habe ich mehr gelernt als in mancher Unterrichtsstunde zuvor.“ Negativ ist Felix aufgefallen, dass er zur sozialen Komponente zu wenig rückmelden konnte. Dafür war der zeitliche Rahmen zu kurz angesetzt. Wenn er die Prüfung wiederholt, setzt er eine längeren Rückmeldezeit an.
Prüfungen als Schlüssel zum Erfolg
Prüfungen als Schlüssel zum Erfolg
Prüfungen sind weit mehr als das Bewerten von Leistungen; sie spielen eine zentrale Rolle im Lernprozess. Das Konzept des Constructive Alignment (ERGOPRAXIS 6/24, S. 6) betont, wie wichtig es ist, dass Prüfungen mit den Lernzielen und Lernmethoden verknüpft sind, um eine effektive Lernumgebung zu schaffen. Der Prüfungszyklus liefert einen möglichen Ansatz, um Prüfungen strukturiert zu gestalten. Felix‘ Beispiel zeigt, wie das Einbinden von Feedback und Reflexion nicht nur das Lernen der Lernenden fördert, sondern auch die Lehrpraxis kontinuierlich verbessert. Es wird deutlich, dass geschickt eingesetzte Prüfungen wertvolle Werkzeuge darstellen, um das Lernen zu unterstützen und die Qualität der Lehre zu steigern.
Nicole Kaldewei, Helen Strebel
*Name von der Redaktion geändert.