Bevor Sie tiefer in diesen Artikel einsteigen, nehmen Sie sich einen Moment, um die Ästhetik des Transaktionellen Modells der Betätigung auf sich wirken zu lassen – wie die außenstehenden situativen Elemente in einem gleichmäßigen Wirbel mühelos ineinanderfließen und im Zentrum verschmelzen ([ABB. 1]). Und in der Mitte steht nicht der Mensch, sondern die Betätigung. Das Transaktionelle Modell bildet die pure ergotherapeutische Vision ab.
ABB. 1 Das Transaktionelle Modell der Betätigung stellt die Betätigung in den Mittelpunkt. Im Kreis darum herum sind verschiedenene situative Elemente angeordnet, die eng miteinander verwoben sind.
© Fisher AG, Marterella A. Powerful Practice – A model for authentic occupational therapy. Fort Collins, CO; Center for Innovative OT Solutions: 2019.
Das Transaktionelle Modell der Betätigung
Das Transaktionelle Modell der Betätigung
Anne Fisher entwickelte das Occupational Therapy Intervention Process Model (OTIPM) im Jahr 1998 [1]. Es leitet uns an, den ergotherapeutischen Prozess Schritt für Schritt klientenzentriert und betätigungsorientiert umzusetzen. Im Laufe der Jahre entwickelte Fisher das OTIPM weiter |2]. Gemeinsam mit Abbey Marterella publizierte sie das Werk „Powerful Practice – A Model for Authentic Occupational Therapy“, das aktuell nur auf Englisch erhältlich ist [3]. In diesem Buch stellen die Autorinnen auch das Transaktionelle Modell der Betätigung als Teil des OTIPM vor.
Das Transaktionelle Modell der Betätigung dient dazu, die Komplexität von Betätigung zu erfassen. Fisher und Marterella sehen diese nicht als losgelöstes Element, sondern als untrennbar mit dem situativen Kontext verflochten. In der Grafik ([ABB. 1]) ist zu sehen, dass die Betätigung im Zentrum des Rings steht, aufgeteilt in Betätigungsperformanz, Betätigungserfahrung und Partizipation. Diese drei Aspekte fließen in der Realität ineinander.
Die Betätigungsperformanz ist das von außen beobachtbare Tun, also das, was wir in der Betätigungsanalyse sehen. Unter der Betätigungserfahrung versteht man das innere Erleben, das ein Mensch bei der Durchführung einer Tätigkeit hat – die Dinge, die wir nach der Betätigungsanalyse erfragen. Partizipation definieren Fisher und Marterella als den wahrgenommenen Wert bei der Durchführung einer Betätigung, den wir oft erst verstehen, wenn wir uns näher mit den Klient*innen auseinandersetzen und den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext kennen [4].
Um die Betätigung herum sind die situativen Elemente in einem Ring angeordnet. Sie beeinflussen das Handeln eines Menschen konstant, was durch Verbindungslinien dargestellt wird. Man findet folgende Elemente: geopolitische Elemente, Umweltelemente (sozial), Umweltelemente (physisch), Aufgabenelemente, Klientenelemente, zeitliche und soziokulturelle Elemente. Jedem Aspekt sind beispielhaft weitere Unterpunkte zugeordnet, um sie zu konkretisieren. Unter soziokulturellen Elementen finden sich beispielsweise die Unterpunkte Regeln, Vorschriften und Normen, Einstellungen und Erwartungen sowie ethische Erwägungen. Interessanterweise stehen die Klient*innen selbst nicht im Zentrum des Kreises, sondern werden als situatives Element des verflochtenen Ganzen gesehen (Klientenelemente).
Bedeutung für die Ergotherapie
Bedeutung für die Ergotherapie
Wir Ergotherapeut*innen sind gut darin, uns auf Klient*innen und ihre Betätigungsprobleme zu fokussieren [5]. Das Transaktionelle Modell hilft uns, den Blick zu weiten und alle möglichen Einflüsse auf die Person und auf die Betätigung gedanklich miteinzubeziehen. Es unterstützt uns dabei, die Komplexität des Lebens einzufangen.
Darüber hinaus erinnert uns das Modell daran, möglichst nah am Kontext der Klient*innen zu bleiben oder, wenn möglich, die Ergotherapie im exakten Kontext stattfinden zu lassen. Dies ist wichtig, da es Evidenz dafür gibt, dass die Betätigungsperformanz sich verbessert, wenn wir nah am Kontext arbeiten, anstatt die Betätigung in einer simulierten Umgebung nachzustellen [6]–[8].
Wenn man das Transaktionelle Modell in seiner Vielfalt sieht und in der Praxis berücksichtigt, ist es unmöglich, in eine funktionelle Arbeitsweise zu verfallen: Die Körperfunktionen sind hier lediglich als Unterpunkt bei den Klientenelementen aufgeführt. Aus diesen Gründen sollten Ergotherapeut*innen alle situativen Elemente bei der Informationssammlung zu Beginn des ergotherapeutischen Prozesses erfassen und im Laufe der Intervention immer wieder beachten und reflektieren.
Umsetzung in der Praxis
Fisher und Marterella geben keine genaue Erfassungsmethode vor. Ergotherapeut*innen können das Modell also nutzen, wie sie es sinnvoll finden, und in jeder Therapiesituation individuell entscheiden.
Es kann hilfreich sein, das Transaktionelle Modell der Betätigung zu Beginn der Therapie, bei der Vorstellung der Ergotherapie und bei der betätigungszentrierten Arbeitsweise als Visualisierung zu nutzen, denn es ist für Klient*innen auf einen Blick zu sehen, dass unser Leben aus einer Vielzahl an ineinander verwobenen Komponenten besteht. Daraus ergibt sich, dass sich die Ergotherapie nicht nur mit einem Bereich befasst, sondern zunächst herausfinden möchte, welche Elemente im individuellen Leben der Klient*innen auf ihre Betätigungen Einfluss haben.
Gleich zu Beginn des ergotherapeutischen Prozesses können Therapeut*innen allgemeine Informationen zu den Klient*innen, ihrer Lebenswelt, ihrem Tagesablauf und ihren Betätigungen sammeln, um sich ein umfassendes Bild zu machen [8]. Dazu können sie das Transaktionelle Modell der Betätigung nutzen, indem sie die Unterpunkte löschen und unter die sieben situativen Elemente die spezifischen Details des Lebens der Klient*innen schreiben. Alternativ können sie die sieben situativen Elemente tabellarisch auflisten und gemeinsam durchgehen. In beiden Fällen stellen sie sicher, dass sie alle Bereiche bedenken.
Ich habe in meinem Arbeitsalltag gute Erfahrungen damit gemacht, die situativen Elemente nach der Betätigungsanalyse zu erfassen. Das hat aus meiner Sicht zwei Vorteile. Erstens konzentrieren sich Klient*in und Ergotherapeut*in zunächst nur auf die aktuelle Situation und die Betätigungsanliegen. Sie werden nicht dazu verleitet, zu schnell Hypothesen aufzustellen, woher das Problem kommt und wie man es lösen kann. Zweitens wird bei der Betätigungsanalyse konkret die Durchführung betrachtet, ohne zu versuchen, die abstrakteren Elemente wie historische Aspekte mitzudenken. Nach der Betätigungsanalyse ist es hilfreich, einen Schritt zurückzutreten und mithilfe des Transaktionellen Modells den Einfluss der situativen Elemente auf die Betätigungsperformanz zu untersuchen.
Betätigungsanliegen
Anhand des Beispiels von Frau B.* lässt sich erkennen, wie sich die verschiedenen situativen Elemente gegenseitig formen, welchen Einfluss sie auf ihre Betätigung haben und wie hilfreich es ist, diese im ergotherapeutischen Prozess zu beachten.
Frau B. ist 89 Jahre alt und hat die Diagnose Parkinson. Ihr vordergründiges Symptom ist eine Depression. Im Canadian Occupational Performance Measure (COPM) nannte die Klientin folgende Betätigungsanliegen:
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Vorbereitung des Umzugs ins Heim
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mehr Alltagsbewegung (eingeschränkt durch Corona-Auflagen)
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positiver Umgang mit sich selbst (im Umgang mit Demenz)
Im Rahmen der Ergotherapie wurde an allen drei Betätigungsanliegen gearbeitet. In diesem Artikel gehe ich nur auf das erste ein.
Frau B. möchte aufgrund ihrer Erkrankung in ein Heim umziehen. Ihr gelingt es allerdings nicht, in die Planung oder Umsetzung zu kommen, sodass ihre Söhne und ihre Schwiegertochter die Organisation übernehmen (Betätigungsperformanz). Die Klientin macht sich viele Sorgen. Der Umzug ist für sie belastend, und immer, wenn er zur Sprache kommt, ist sie überfordert (Betätigungserfahrung). Es ist ihr wichtig, den Umzug aktiv mitzugestalten, sie fühlt sich jedoch nicht in der Lage dazu (Partizipation). Das Ziel der Therapie ist, dass Frau B. sich aktiv an der Vorbereitung des Umzugs von ihrer Wohnung in ein Heim beteiligt und selbstständig Entscheidungen trifft.
Aufgrund des großen, nicht beobachtbaren Ziels konnte die Therapeutin keine Betätigungsanalyse durchführen. Außerdem war es der Klientin zwar wichtig, sich aktiv zu beteiligen, aber es war ihr bisher nicht möglich, selbstständig in die Umsetzung zu kommen. Deshalb sammelte die Ergotherapeutin über mehrere Wochen Informationen über die komplexe Situation und ordnete sie nach und nach in das Transaktionelle Modell der Betätigung ein, bis sich ein umfassendes Bild ergab. Sie führte dazu mehrere Gespräche mit Frau B. und ihrem Sohn und verwertete Informationen aus E-Mails der Schwiegertochter. Da die zugrunde liegenden situativen Elemente teilweise sehr belastend für Frau B. waren, sammelte die Therapeutin die Informationen oft bruchstückhaft während der therapeutischen Intervention, zum Beispiel während einer Pause zwischen zwei motorischen Übungen (siehe Ziel 2).
Situative Elemente
In Bezug auf Frau B. konnte die Ergotherapeutin den situativen Elementen verschiedene Informationen zuordnen.
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soziale Umweltelemente: Sohn und Schwiegertochter wohnen im selben Haus, werden aber ins Ausland ziehen und nicht mehr vor Ort sein. Frau B. hat gute Freunde. Mit ihnen zusammen war sie in einem Buchclub. Sie besuchen sie, schreiben ihr Briefe, malen Bilder und rufen an. Ihr Mann hatte eine Demenz und ist verstorben. Sie hat ihn liebevoll gepflegt.
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physische Umweltelemente: Die Wohnung ist voll mit Kunstgegenständen, Büchern und CDs. Es ist unklar, wie viele Möbel sie mit ins Heim nehmen darf. Obwohl sie die Gegenstände in ihrem Haus mag, hängt sie nicht an ihnen, sie kann schnell entscheiden, welche sie mitnimmt und welche sie abgibt.
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Aufgabenelemente: Die Angehörigen fragen, was Frau B. ins Heim mitnehmen möchte. Der Zeitpunkt des Umzugs ist nicht genau festgelegt. Das hängt davon ab, wann ein Platz frei wird (unvorhersehbar).
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Klientenelemente: intellektueller Mensch (ehem. Professorin an der Hochschule), Gedankenkreisen durch Depression, leichte Demenz (belastend, da der Wert „Intelligenz” wichtig ist). Kleinschrittiger Gang. Selbstständig bei körpernahen ADLs, bekommt Unterstützung beim Einkaufen, Putzen, bei der Terminplanung und Regelung der Finanzen. Sie mag Literatur, kann aufgrund verminderter Konzentrationsfähigkeit aber nur noch kurze Texte lesen. Sie liebt Musik und geht vollkommen darin auf – wird zum Beispiel Mozart gespielt, schließt sie die Augen, bewegt ihre Hände zur Musik und hat einen glückseligen Gesichtsausdruck.
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geopolitische Elemente: Der Vater von Frau B. hatte eine Position in der SS. Beim Sortieren im Keller sind die Söhne auf einen Koffer mit Dokumenten und Gegenständen aus der NS-Zeit gestoßen. Diese Tatsache bringt bei Frau B. viele verdrängte Gefühle hoch (Ambivalenz: Liebe zum Vater, aber Ekel vor seinen Überzeugungen). Gut situierte Familie, die Klientin hat einen Platz in einem hochwertigen Heim.
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zeitliche Elemente: Für jede Tätigkeit benötigt Frau B. mehr Zeit als früher (Bradykinese). Sie befindet sich gedanklich häufig in der Vergangenheit oder Zukunft: Sie grübelt über die Beziehung zu ihrem Vater und vermisst ihren verstorbenen Mann, sorgt sich um den Umzug ihres Sohnes ins Ausland und ihren eigenen Umzug ins Heim.
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soziokulturelle Elemente: Frau B. lehnt das NS-Regime und alle seine Gräueltaten entschieden ab. Sie hat einen jüdischen Mann geheiratet. Ihr Sohn ist zum Judentum konvertiert. Sie liebt ihren verstorbenen Vater und verachtet gleichzeitig dessen Einstellung und Position bei der SS.
Verstrickung von Kontext und Betätigung
Verstrickung von Kontext und Betätigung
Durch den bevorstehenden Umzug kam die Frage auf, was mit dem NS-Koffer geschehen soll (Umweltelement). Dadurch wurden Frau B. die lang vergangene historisch-politische Zeit (zeitliche Elemente) des Nationalsozialismus (geopolitische Elemente) und die Rolle ihres Vaters wieder in Erinnerung gerufen. Die starken Moralvorstellungen (soziokulturelle Elemente) der Klientin stehen in direktem Konflikt mit ihren Emotionen als Tochter (soziale Umweltelemente). Die praktische Planung des Umzugs (Aufgabenelemente) ist Frau B. nur schwer möglich, da das Thema immer wieder im Vordergrund steht.
Aus diesem Beispiel wird deutlich, was Fisher und Marterella meinen, wenn sie davon schreiben, dass die situativen Elemente eng miteinander verwoben und untrennbar sind. Jede Betätigung wird durch die Elemente beeinflusst, und sie beeinflussen sich gegenseitig. Verändert man eine Komponente, hat das immer eine Auswirkung auf die anderen Komponenten und auf die Betätigung.
Intervention
Die Ergotherapeutin hielt die Angehörigen dazu an, ihre eigene Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte nicht zusätzlich Frau B. aufzubürden. Sie ermutigte sie, die Führung beim Umzug zu übernehmen, mehr Struktur vorzugeben und ihrer Mutter Sicherheit zu vermitteln.
In den Therapieeinheiten haben die Sorgen von Frau B. Raum bekommen. Ihre belastenden Gedanken über die Vergangenheit und Zukunft wurden besprochen ([ABB. 2]). Die Klientin begann ihre Gedanken hin und wieder in einem Tagebuch festzuhalten, um sie ihren Söhnen zu zeigen, denn in Gesprächen zwischen Mutter und Söhnen kam es oft zum Konflikt, und Frau B. konnte ihre Gedanken durch die kognitive Einschränkung oft nicht klar kommunizieren.
ABB. 2 Die Klientin bespricht mit der Therapeutin die Vergangen heit ihres Vaters und die Inhalte des gefundenen SS-Koffers.
Quelle: © K. Oborny/Thieme
Durch das Erfassen von scheinbar unwichtigen Elementen wie der Liebe zur Musik (Klientenelemente) konnte die Ergotherapeutin aktiv Ressourcen einsetzen, um das Wohlbefinden zu fördern. Während und nach der Therapie ermutigte sie Frau B., Musik zu hören. Das Einlegen einer CD vereinfachten sie mithilfe von Aufklebern, da die Klientin mit den Knöpfen durcheinanderkam.
Durch die Reflexion der situativen Elemente und die aktive Auseinandersetzung damit gelang es Frau B., sich im Therapieverlauf immer wieder auf die große Aufgabe der Umzugsvorbereitung einzulassen. Sie unternahm mit der Ergotherapeutin praktische Schritte für den Umzug.
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Strukturierung des Packens in kleine Schritte
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Aufkleberpunkte auf mitzunehmende Gegenstände kleben
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einen genauen Plan ihres zukünftigen Zimmers im Heim bei der Heimleitung erfragen
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Raumgestaltung grob planen
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Gespräch mit Angehörigen über Umgang mit SS-Koffer
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Gespräch mit Angehörigen über Umgang mit Möbeln und Gegenständen, die nicht mit ins Heim kommen
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Besichtigung des Heims organisieren
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Fragenliste für Heimleitung zur Klärung persönlicher Anliegen erstellen: Werden Inkontinenzeinlagen selbst mitgebracht oder gestellt? Darf Essen von außen mitgebracht werden? Wo kann man dies lagern? Darf man allein das Heim verlassen? Wenn ja, zu welchen Uhrzeiten? Wie wird die eigene Telefonnummer sein?
Alles im Blick
Als ich mich das erste Mal tiefer in das OTIPM und das Transaktionelle Modell der Betätigung eingearbeitet habe, war ich inspiriert. Endlich hat mir jemand Worte geschenkt, die meinen Versuch leiteten, den Alltag meiner Klient*innen gänzlich zu erfassen und therapeutisch zu beeinflussen. Ich liebe auch den philosophischen Schreibstil, der der Ergotherapie besondere Ausdruckskraft gibt und meine Berufsidentität stärkt.
Für mich als Ergotherapeutin ist es wichtig, alle situativen Elemente zu erfassen und im Blick zu behalten. Hätte ich nur die praktische Umsetzung des Umzugs adressiert und den körperlichen Aspekt der Verlangsamung fokussiert, um daraufhin zusammen Kisten zu packen, hätte ich die Situation von Frau B. nicht erkannt. Sie hätte sich nicht verstanden gefühlt und wäre vermutlich nicht in die Umsetzung gekommen. Allein durch das Wahrnehmen der weiteren Aspekte wurde die Therapeutin-Klientin-Beziehung gestärkt und es ergab sich fast von allein ein Therapieansatz. Amy Orellana
*Name von der Redaktion geändert