Der Begriff der Strategie bezeichnete ursprünglich die Kunst des Feldherrn
(griech. Stratege) zur Erreichung seiner Ziele. Die Ziele eines Krieges sind
im Weiteren zu unterscheiden vom Zweck eines solchen, der, mit von Clausewitz
gesprochen, im politischen Bereich einer neuen Friedensordnung zu verbesserten
Konditionen liegt. Die Bezeichnung hat zwischenzeitlich ein erweitertes
Bedeutungsumfeld, man spricht auch von Wirtschaftsstrategien, Strategiespielen und
Spielstrategien. Prävention wiederum will zuvor-kommen (lat. prä-venire).
Präventive Strategien in Medizin und Gesundheitswesen zielen allgemein auf effektive
und effiziente Ansätze der Lebensverlängerung, Krankheitsverhütung und
Gesundheitsförderung und können sich sowohl auf einzelne Personen als auch auf
Bevölkerungen beziehen. Wesentliche bevölkerungsmedizinische Einsichten zu einer
Strategie der Präventivmedizin sind mit der Person des englischen Arztes
und Epidemiologen Geoffrey Arthur Rose verbunden. Zu dem von ihm 1985 beschriebenen
Population Health-Ansatz gehören die Unterscheidung zwischen kranken
Einzelpersonen und der Krankheitslast einer Bevölkerung ebenso wie die Einsicht,
dass kleine Verbesserungen in großen Bevölkerungsanteilen mit niedrigem Risiko oft
größere Effekte für die Bevölkerungsgesundheit haben als große Effekte bei einer
vergleichsweise kleinen Hochrisikogruppe – das sog. Präventionsparadox
[1]
[2].
Hinzu kommt, dass für die Gesundheit der Bevölkerung strukturelle oder regulatorische
Maßnahmen der Prävention oft effektiver und mit weniger Ungleichheiten belastet sind
als Maßnahmen, welche personalkommunikativ das persönliche Verhalten adressieren
oder anderweitig in der medizinischen Versorgung angesiedelt sind. Beispiele dafür?
Sicherheitsgurte, Geschwindigkeitsbeschränkungen, Alkoholverbote und
Nichtraucher-Schutzgesetze haben größere gesundheitliche Effekte als Appelle an
verantwortliches Autofahren und an einen verantwortlichen Konsum von Alkohol und
Tabak und sind auch kosteneffizienter als vergleichsweise kostspielige Investitionen
in Kuration und Rehabilitation (s.a. [3]). Dass
derartige organisierte Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene einer belastbaren und
transparenten Evidenzbasis bedürfen, dass sie sorgfältig gegenüber der Freiheit des
und der Einzelnen abgewogen werden müssen, einschließlich der Freiheit zum Eingehen
von Gesundheitsrisiken für sich selbst und dass auch gute Absichten keinesfalls in
eine „Gesundheitsdiktatur“ münden dürfen, ist noch einmal ein eigenes Thema.
Sind die Gedanken von Geoffrey Rose heute noch aktuell? Seine Überlegungen wurden von
ihm u. a. an Hand der Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen verdeutlicht: mit den
unterschiedlichen Blutdruckwerten verschiedener Bevölkerungen als Beleg und Ansporn
für das Mögliche, mit der Verteilung der Herzinfarktpatienten vor allem auf auch
niedrige Risikokategorien und anderes mehr [1]
[2]. Auch wenn es aus
individualmedizinischer Perspektive offensichtlich ist, dass Menschen mit
ausgeprägten Risikofaktoren das höchste persönliche Risiko für einen Herzinfarkt
haben, weisen paradoxerweise aus bevölkerungsmedizinischer Perspektive die meisten
Herzinfarktpatienten kein hohes Risiko auf. Diese Beobachtung findet sich auch bei
Schlaganfallpatienten: das Präventionspotential einer Hochrisikostrategie beträgt
hier nur etwa gut ein Zehntel der Fälle gegenüber einem geschätzten
Präventionspotential einer kombinierten bevölkerungsweiten Präventionsstrategie von
über 50% [4].
Seither nichts Neues? Wohl doch, denn mittlerweile ist neben die allegorische
Hygieia, welche die Gesundheit erhält und Wohlstand schenkt, mithin für Prävention
und Gesundheitsförderung durch kluge Lebensführung steht, ihre Schwester Panakeia
(griech. die „Alles Heilende“) getreten. In Hinblick auf bevölkerungsweite
Präventionsstrategien ist teilweise nicht mehr von einer gesunden Lebensweise in
einer gesunden Umwelt die Rede, sondern von einer bevölkerungsweiten medikamentösen
Präventivmedizin mit dem sprichwörtlichen „Panaceum“ einer „Polypill“. Darunter wird
ein Kombinationspräparat von ACE-Hemmern oder Angiotensin-Rezeptor-Blockern,
Statinen, Beta-Blockern und Thrombozytenaggregationshemmern in unterschiedlicher
Zusammensetzung verstanden. Von einer überragenden patientenseitigen Adhärenz wird
berichtet, von einer dadurch möglichen medikamentösen „Kontrolle der Risikofaktoren“
für kardiovaskuläre Erkrankungen, von einer medikamentös vermittelten
Lebensverlängerung für alle durch Primär- und Sekundärprävention [5]
[6]
[7]. Wenn die medikamentöse Kontrolle der
Risikofaktoren nun also die Strategie der erfolgreichen Prävention ist – worauf noch
warten?
Wie so oft lohnt sich dann doch der Blick auf die Details. In der klinischen
Präventivmedizin wurde zunächst, beheimatet im individualmedizinischen
Behandlungsparadigma, auch im neuen Jahrtausend an einer Hochrisikostrategie
festgehalten [4]. Exemplarisch steht dafür die
Publikation von Wald und Law aus dem Jahr 2003: In einer theoretischen Modellierung
kombinierten sie die statistischen Einzeleffekte verschiedener
präventivmedizinischer pharmakologischer Maßnahmen und verkündeten für die über
55jährige Bevölkerung eine dadurch mögliche Reduktion der Herzinfarkte um fast 90%
und der Schlaganfälle um 80% – bei gleichzeitiger Patentanmeldung und Sicherung des
Namens „Polypill“ für ein solches Kombinationspräparat [8]. Die weniger pharmakologisch ausgerichtete Public Health-Gemeinschaft
war da zurückhaltender: In einem Rückblick 20 Jahre nach Rose’s Erstpublikation von
1985 aus der London School of Tropical Medicine and Hygiene wurden seine
Überlegungen als noch immer gültig gewürdigt, bei gleichzeitiger Anerkennung auch
der individualmedizinischen Ansätze der Präventivmedizin. Diese Anerkennung wurde
ergänzt mit einer Warnung gegenüber einer marktförmigen Konsumentenorientierung und
der Vernachlässigung von Gleichheitsaspekten und sozioökonomischen Ursachenketten
bei diesem Ansatz [3]. Rose‘s Präventionsparadox
galt allerdings auch im neuen Jahrtausend: der Großteil der kardiovaskulären
Erkrankungen kommt aus breiten Bevölkerungsschichten mit niedrigem Risiko. Dies
führte in der Konsequenz zur schrittweisen Wandlung der
klinisch-präventivmedizinischen Hochrisikostrategie hin zur bevölkerungsweiten
Strategie einer klinischen Präventivmedizin auch bei geringerem Risiko, zum Ruf nach
einem breiten Einsatz von Medikamenten in Sekundär- und Primärprävention – fast
schon nach „Statinen für Jedermann (bzw. Jederfrau)“. In den Empfehlungen von
Weltgesundheitsorganisation und wissenschaftlichen Fachgesellschaften erfolgte im
Weiteren eine deutliche Absenkung der Schwellen für eine präventive medikamentöse
Behandlung, insbesondere mit Statinen [9]
[10]
[11]
[12].
Aus Public Health-Sicht reibt man sich etwas verwundert die Augen. Bei empirischer
Überprüfung korrigiert sich die für die „Polypill“ vorhergesagte bevölkerungsweite
Reduktion der Herzinfarkte von über 80% auf…? Nichts bis bestenfalls 15%: Ein
Cochrane-Review zum präventivmedizinischen Einsatz von Kombinationspräparaten
berichtet einen nicht nachweisbaren Effekt bezogen auf die Gesamtsterblichkeit und
auf kardiovaskuläre Ereignisse [13]. In einer
neueren systematischen Literaturübersicht wird eine nicht-signifikante Reduktion von
kardiovaskulären Ereignissen um 15% und eine knapp signifikante Reduktion der
Gesamtsterblichkeit um 11% berichtet [6].
Interessiert man sich für den zunehmend beworbenen primärpräventiven Einsatz, fehlt
in den Studien zumeist die Differenzierung der präventiven Strategien nach den
Ansätzen einer individuell indizierten Prävention, einer nach allgemeinen
Merkmalen wie Alter und Geschlecht selektiven Prävention und einer
bevölkerungsweiten generalisierten Prävention. Bezogen auf die „Polypill“
würde man in den zitierten Studien bei differenzierter Sprechweise eher von einer
risikoindizierten Prävention sprechen wollen und nicht von einer selektiven oder gar
generalisierten Primärprävention [5]
[6]
[14]. Davon
noch einmal abzugrenzen sind ein bevölkerungsweites Screening oder
Check-ups als sekundärpräventive Maßnahmen der Krankheitsfrüherkennung
bzw. der Erkennung von kardiovaskulären Risikofaktoren [15]
[16].
Ganz allgemein scheint die Nomenklatur im Umfeld des Panaceums „Polypill“ etwas
verrutscht zu sein: Die im angesehenen New England Journal of Medicine publizierte
SECURE-Studie titelt „Polypill Strategie in der sekundären kardiovaskulären
Prävention“ [7], hat aber die Verhinderung
von solchen Ereignissen erst im Anschluss an einen bereits stattgefundenen
Myokardinfarkt zum Gegenstand, mithin einen tertiärpräventiven Ansatz (s.a. [17]
[18]
[19]). Damit soll dem Wert einer medizinisch
indizierten Cholesterol-Absenkung durch Statine und der diesbezüglich vorliegenden
Evidenz nicht Abbruch getan werden, auch wenn Nebenwirkungen wie hämorrhagische
Schlaganfälle zu berücksichtigen sind (s.a. [20]
[21]
[22]
[23]). Gleichzeitig ist eine sowohl
inhaltliche als auch sprachliche Klärung angezeigt, wenn aus der
individualmedizinisch-pharmakologischen Perspektive der Kardiologie das Feld der
Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Bereich der Bevölkerungsgesundheit
betreten wird: Die Prävention sekundärer kardiovaskulärer Ereignisse ist etwas
anderes als die Sekundärprävention vaskulärer Ereignisse – hier differieren die
Begrifflichkeiten von der eingeführten Public Health-Präventionsnomenklatur. Eine
neutrale und balancierte Information zu Risiken und möglichem Nutzen sowie zu dem
noch fehlenden (Langzeitbehandlungs-)Wissen einer medikamentösen Primärprävention
ist ethisch und ökonomisch geboten, wenn Menschen mit geringem Erkrankungsrisiko
eine Behandlung angeboten werden soll [24]
[25]
[26]
[27].
Steht eine verbesserte Lebenserwartung in der Bevölkerung durch mehr
Herzgesundheit zur Diskussion, greifen pharmakologische (Hochrisiko-)Maßnahmen bei
seltenen, familiär auftretenden Fettstoffwechselstörungen strategisch zu kurz. Auch
wenn eine individuell indizierte medikamentöse Prävention allen Mitgliedern
einer Gemeinschaft offenstehen sollte – vor einer bevölkerungsweiten
generalisierten Prävention stehen zu Recht Hürden. Diese betreffen sowohl
die fachliche Evidenz zu Wirkungen und Nebenwirkungen als auch zu den alternativen
Handlungswegen z. B. eines gestuften familiären Screenings, das
Wirtschaftlichkeitsgebot einer Solidargemeinschaft und nicht zuletzt auch ethische
Aspekte und menschliche Freiheiten. Werden die auch negativen Auswirkungen eines
Screenings und das Recht auf Nicht-Wissen ausreichend berücksichtigt? Ist der
Unterschied zwischen physiologisch wirkenden Nahrungsergänzungsmitteln wie
beispielsweise Jod oder Folsäure und der Gabe von Medikamenten mit
pharmakologischer Wirkung im Organismus wie Statine oder
Thrombozytenaggregationshemmer in der Zielgruppe ausreichend verstanden? Welche
Argumente sprechen für eine pharmakologische Primärprävention der Herzgesundheit bei
welchen Personen, welche Argumente für regulatorische Maßnahmen hinsichtlich der
Energiedichte der einer Bevölkerung angebotenen Lebensmittel und Getränke und ihres
Zucker- und Salzgehaltes? Wie ist der Stand der industriellen Verwendung von sog.
Trans-Fetten? Wie mit Feinstaub umgehen? Welche Empfehlungen zu Stress am
Arbeitsplatz können wie effizient umgesetzt werden? Welche Maßnahmen zur Förderung
von Bewegung und gesunder Ernährung in Familien, Schule und Arbeit im gesamten
Lebenslauf können noch umgesetzt werden, damit aus einer adipogenen Umwelt
gesundheitsförderliche Lebenswelten werden? Gerne wird in diesem Zusammenhang eine
Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation zitiert, welche die Gabe von Statinen als
„best buy“ benennt [28]. Diese gilt allerdings nur
in Bezug auf das Management von kardiovaskulären Erkrankungen nach einem
Herzinfarkt oder bei relevantem Risiko. Eingebettet ist dieses spezielle
Erkrankungs- und Risikomanagement in andersgeartete allgemeine präventive
Empfehlungen, z. B. hinsichtlich einer gesunden Ernährung, der Vermeidung von
Alkohol und Tabakprodukten und einer vermehrten körperlichen Bewegung. Die genannten
Risikofaktoren sind zudem sozial sehr ungleich verteilt, mit Folgen für die soziale
Ungleichverteilung der Herzkreislauf-Erkrankungen. Auch das gehört zum „ganzen
Bild“. Notwendig ist dafür eine gute epidemiologische Datenlage sowie deren
Vermittlung in die Gesellschaft durch eine vertrauenswürdige
Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitskommunikation.
Eine klare Sprache, eine verantwortliche Berichtlegung und eine Offenheit für eine
auch kritische Diskussion sind auch wesentliche Merkmale eines gelingenden
wissenschaftlichen Diskurses. Die Beiträge in diesem Heft berichten in eben dieser
wissenschaftlichen Selbstverpflichtung über die Auswirkungen kritischer Ereignisse
bei Auslandseinsätzen auf die psychische Gesundheit von Militärpersonal, die
Früherkennung von Typ-1-Diabetes durch Inselautoantikörper-Screening – ein
Positionspapier der Fr1da-Studie, die zukünftige Sicherstellung der hausärztlichen
Versorgung aus kommunaler Perspektive, interdisziplinäre Empfehlungen für die
Entwicklung von Gesundheitskiosken als niedrigschwellige, kommunale
Versorgungsstrukturen, die Verteilung gesundheitswissenschaftlicher Public
Health-Fachkräfte in deutschen Gesundheitsämtern, über Leitlinien im und für den
Öffentlichen Gesundheitsdienst als Ergebnis einer Onlinebefragung zu aktuellen
Bedarfen aus der Praxis, über Erkenntnisse aus der Durchführung des
Masernschutz-Gesetzes nach den ersten drei Jahren seit Einführung anhand von
empirischen Daten aus Darmstadt Dieburg (Hessen) und stellen – last but not least –
ein Positionspapier der AG Bewegungsbezogene Versorgungsforschung des DNVF zum Thema
„Bewegungsversorgung im deutschen Gesundheitssystem: gesundheitspolitische Relevanz
und notwendige Rahmenbedingungen“ vor.
Um am Ende den Anfang noch einmal aufzugreifen: Der „best buy“ scheint auch 40 Jahre
nach Geoffrey Rose kein einseitig medikamentöses Panaceum zu sein, sondern ein
abgestimmtes Miteinander generalisierter nicht-medikamentöser primärer und
risikoinduzierter medikamentöser primär-, sekundär- und tertiärpräventiver Ansätze
(s.a. [4]
[24]
[25]
[26]
[27]
[28]). Geoffrey Rose beschloss seinen klassischen Text von 1985 mit einem
bemerkenswerten Gedanken [1]: „Eine
Einzelfall-orientierte Epidemiologie identifiziert eine individuelle
Empfänglichkeit, kann aber die zu Grunde liegenden Ursachen des Auftretens
leicht übersehen. Die Hochrisikostrategie der Prävention ist ein Zwischenbehelf,
der benötigt wird, um anfällige Personen zu schützen, jedoch nur so lange, wie
die zugrunde liegenden Ursachen des Auftretens unbekannt oder unkontrollierbar
bleiben; wenn die Ursachen beseitigt werden können, spielt die Anfälligkeit
keine Rolle mehr. Realistischerweise ist davon auszugehen, dass viele
Krankheiten beider Ansätze bedürfen und glücklicherweise ist ein Wettstreit
zwischen diesen beiden Ansätzen meist unnötig. Dennoch sollte die Entdeckung der
Krankheitsursachen und ihre Beherrschung immer im Vordergrund stehen.“ Diese
Einordnung kann und sollte auch heute noch als Referenz für Strategien der
Prävention genommen werden und spiegelt einmal mehr den Auftrag im Dienst der
öffentlichen Gesundheit: Bedingungen schaffen, in denen Menschen gesund sein
können. Die kommunikative Kehrseite ist die vorhersagbar gegebene
Unsichtbarkeit der damit erfolgreichen Akteure.
Geoffrey Rose selbst war kein langes Leben beschieden. Er starb 1993 mit nur 67
Jahren an Leberzellkrebs. Schon 25 Jahre zuvor hatte er nur knapp einen schweren
Autounfall überlebt – für ihn ein Grund, sein Leben seitdem als geschenkte Zeit zu
betrachten. Es wird berichtet, dass er seine letzte Lebensphase in großer
Dankbarkeit für ein gutes Leben und eine innere Ruhe lebte, die auch aus seiner
religiösen Überzeugung kam [29]. Vielleicht ist in
diesem Detail zum Lebensende auch noch eine mögliche Antwort auf die noch offene
Frage nach dem „Zweck der Ziele“ einer Strategie der Prävention zu finden: die Sorge
um Lebenszeit in bestmöglicher Gesundheit als Teil des Bemühens um ein gelingendes
Leben für sich und andere zu sehen.