Gesundheitswesen 2025; 87(01): 15-16
DOI: 10.1055/a-2461-7797
Panorama
Leserbrief – Replik

Replik zum Leserbrief von P. Storz-Pfennig „Evidenz für Politik und Evidenzpolitik“

Zunächst möchten wir uns für die kritische Würdigung unseres Beitrags bedanken und gleichzeitig mit einigen Missverständnissen aufräumen, die der Leserbrief dankenswerterweise explizit macht. Unser Beitrag [1] intendiert zusammen mit den beiden zuvor publizierten Artikeln [2] [3] eine konstruktive Weiterentwicklung der Evidenzbasierten Medizin (EbM) und möchte gleichzeitig eine Erweiterung des derzeitig international vieldiskutierten EbM plus Ansatzes leisten. Wie in unserem Beitrag [1] dargestellt, hat die klassische EbM sehr viele Verdienste und unzweifelhaft zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung beigetragen. Die EbM wurde initial primär für einfache Produktinnovationen entwickelt und hat der damaligen Übermacht von Eminenzen methodische Strenge und empirische Analysen entgegengesetzt. Aufgrund der zunehmenden Entfernung von dem ursprünglich integrativen Sackett’schen Ansatz hin zu einer Reduzierung auf ausschließlich externe Studienevidenz und eine Kollabierung der ordinal skalierten Evidenzhierarchie auf eine binäre RCT ja / nein Entscheidung wird international seit langem aus dem Inner Circle der EbM-Bewegung kritisiert: So forderte Trisha Greenhalgh, die Autorin u. a. des EbM-Klassikers „How to Read a Paper“ bereits vor 10 Jahren mit dem berühmten Artikel „Evidence-based Medicine: A movement in crisis?“ [4] aufgrund ihrer Beobachtung einer zunehmenden Dominanz rigider algorithmischer Vorgehensweisen, die für komplexe Situationen ungeeignet sind, eine Richtungskorrektur der EbM hin zu einer stärkeren Flexibilisierung der EbM mit Integration der unterschiedlichen Methoden und Perspektiven. Verstärkt wurde diese Forderung unter dem Eindruck der Corona-Pandemie, bei der die Limitationen der EbM auch für die Bewertung einfacher Interventionen aufgrund sich rapide ändernder Umweltbedingungen deutlich wurden [5]. EbM plus erweitert vor diesem Hintergrund das ursprüngliche Konzept hin zu einem pluralistischen Ansatz, bei dem neben empirischer Evidenz auch Theorien, qualitative Forschung und mechanistische Evidenz aus der Grundlagenforschung eine Rolle spielen – letztlich ist das auch als eine Rückbesinnung auf die Überlegungen von Bradford-Hill zum Kausalitätsbegriff zu werten [6].



Publication History

Article published online:
15 January 2025

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  • Literatur

  • 1 Pfaff H, Schmitt J. Von der theoretisch besten Evidenz zur praktisch besten Evidenz: ein Ansatz zur Überwindung des Strukturkonservatismus in der evidenzbasierten Medizin und Gesundheitspolitik. Gesundheitswesen 2024; 86: S239-S250
  • 2 Pfaff H, Schmitt J. The Organic Turn: Coping With Pandemic and Non-pandemic Challenges by Integrating Evidence-, Theory-, Experience-, and Context-Based Knowledge in Advising Health Policy. Front Public Health 2021; 9: 727427
  • 3 Pfaff H, Schmitt J. Reducing uncertainty in evidence-based health policy by integrating empirical and theoretical evidence: An EbM+theory approach. J Eval Clin Pract 2023; 29: 1279-1293
  • 4 Greenhalgh T, Howick J, Maskrey N. Evidence Based Medicine Renaissance Group. Evidence based medicine: a movement in crisis?. BMJ 2014; 348: g3725
  • 5 Greenhalgh T, Fisman D, Cane DJ. et al. Adapt or die: how the pandemic made the shift from EBM to EBM+ more urgent. BMJ Evid Based Med 2022; 27: 253-260
  • 6 Maziarz M. Causal Pluralism in Medicine and its Implications for Clinical Practice. J Gen Philos Sci 2023;