Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Qualitätsmanagement ist auch in der Notfallmedizin in aller Munde – zu Recht, denn wer sich nicht hinterfragt, kann sich nicht verbessern. Für ein kritisches Hinterfragen notfallmedizinischer Strukturen und Behandlungspfade sind valide Daten unabdingbar. Aktuell erfolgen beispielsweise relativ flächendeckende Erhebungen spezieller Patientensubpopulationen nach (Poly-)Trauma und Reanimation in entsprechenden Registern wie dem Trauma-Register DGU und dem Deutschen Reanimationsregister, wodurch Evidenz generiert wird. Trotz berechtigter Kritikpunkte an diesen Registern (ungenügende Abbildung der präklinischen Situation, Datenqualität etc.) ist dieser Weg zweifellos richtig und sollte weiter beschritten werden.
Wir möchten mit dem vorliegenden Editorial den Blick jedoch erneut auf eine Patientengruppe richten, die für die Analyse notfallmedizinischer Behandlungsqualität ein erhebliches Potenzial aufweist, wissenschaftlich und praktisch aber nur wenig Beachtung erfährt: verstorbene Notfallpatienten. 2021 verstarben in Deutschland 1023687 Menschen, 576214 davon außerhalb von Krankenhäusern und damit potenziell im Zuständigkeitsbereich des Rettungsdienstes [1]
[2].
Der dem spanischen Arzt und Theologen Michael Servetus (1511–1553) zugeschriebene Ausspruch „Mortui vivos docent“ („Die Toten lehren die Lebenden“) ist keine ganz neue Maxime, schien aber bis vor Kurzem doch ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Die wiedererkannte Bedeutung der Obduktion kann als ein positiver Aspekt der überstandenen Coronapandemie angesehen werden. Die Obduktion ist aber auch der Goldstandard für eine (notfall-)medizinische Qualitätskontrolle im Todesfall. Hier lohnt es sich, etwas näher hinzusehen: Wenn bei der Leichenschau ein nicht-natürlicher (in einigen Bundesländern auch ungeklärter) Tod bescheinigt wurde, gelangen – trotz insgesamt beschämend geringer Obduktionsquoten in Deutschland von etwa 2–5% aller Verstorbenen [3] – Todesfälle wie Suizide, Traumatote oder insgesamt jüngere Verstorbene überzufällig häufig zur gerichtlichen Sektion. Die staatsanwaltschaftliche Beantragung einer gerichtlichen Sektion erfolgt nach rechtsmedizinischer Erfahrung häufiger, wenn der Tod präklinisch eingetreten ist. Diese Menschen sind zuvor regelmäßig notfallmedizinisch behandelt worden. So kann nicht selten die notfallmedizinische Behandlungsqualität bei der Obduktion wissenschaftlich evaluiert werden – sowohl im konkreten Einzelfall als auch gelegentlich unter epidemiologischen Gesichtspunkten. Beispiele hierfür sind interdisziplinäre Arbeiten zur (präklinischen) Traumaletalität oder zur Inzidenz der Stanford-A-Dissektion, die neben der Beschreibung des Ist-Zustandes auch zu einer Änderung von präklinischen Therapieregimen geführt haben [4]
[5].
Für andere notfallmedizinische Einsatzsituationen, z. B. bei Lagen mit einem Massenanfall von Verletzten (MANV-Lagen), erweitert sich das Potenzial einer notfall- und rechtsmedizinischen Kooperation um einen weiteren Aspekt: die psychische Entlastung zur Vermeidung einer sekundären Viktimisierung. Die rechtsmedizinische Darstellung und Einordnung von Obduktionsbefunden kann neben einem medizinischen Erkenntnisgewinn auch zu einer relevanten psychischen Erleichterung für Ersthelfer und professionelle Rettungskräfte führen – insbesondere dann, wenn notfallmedizinisch vermeidbare Todesfälle trotz initialem Ressourcenmangel nicht vorliegen bzw. notfallmedizinische Maßnahmen als suffizient bzw. zumindest situations-/ressourcenadäquat eingeordnet werden können. Dies wurde beispielsweise nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19.12.2016 deutlich. Auf einem internen „Lessons Learned“-Symposium wenige Wochen nach der Tat erfolgte u. a. die rechtsmedizinische Darstellung der Obduktionsbefunde sowie die jeweilige Einordnung hinsichtlich „definitiv“, „potenziell“ oder „nicht“ vermeidbarer Todesfälle. Vermeidbare Todesfälle lagen nicht vor. Dies wurde spürbar entlastend wahrgenommen – vor allem, da nahezu ausschließlich stumpfe Traumata mit äußerlich nicht sicher erkennbarem (aber nicht überlebbarem) Verletzungsmuster vorlagen (sog. „Casper-Zeichen“).
Nun können medizinische Sachverhalte in nicht-natürlichen bzw. ungeklärten Todesfällen mit laufenden staatsanwaltschaftlichen Todesermittlungsverfahren und polizeilich beschlagnahmten Leichen natürlich nicht beliebig kommuniziert werden. Verfahrensherrin ist stets die ermittlungsführende Staatsanwaltschaft, die im Vorwege die Erlaubnis zur externen Informationsweitergabe geben muss. Diese Erlaubnis sollte durch die Kolleg*innen der Rechtsmedizin eingeholt werden, da hier ein regelmäßiger Austausch mit den Staatsanwaltschaften besteht. Erteilen diese eine Erlaubnis, sind Fallkonferenzen mit den beteiligten Ärzten generell durchführbar.
Insgesamt weist die Kooperation zwischen den Trägern von Notfall- und Rechtsmedizin nicht nur ein notfallmedizinisches Fortbildungspotenzial auf, sondern auch die Möglichkeit der retrospektiven Evaluation präklinischer Behandlungsqualität. Aktuell stellen derartige Kooperationen in Deutschland jedoch eine Ausnahme dar. Perspektivisch werden hierbei Studiennetzwerke an Bedeutung gewinnen.
Rechtsmedizin und Notfallmedizin weisen mehr Berührungspunkte auf, als auf den ersten Blick erkennbar ist, und können sich zum Wohl zukünftiger Patienten sinnvoll ergänzen. Wir möchten Sie mit diesen Zeilen ermutigen, Ihre zuständige Rechtsmedizin auch unter potenziellen Qualitätsaspekten zu kontaktieren.