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DOI: 10.1055/a-2516-9896
Palliative Care multiprofessionell



Zweifellos zählt eine multiprofessionelle Herangehensweise zu den Kernmerkmalen der Palliative Care. In ihr spiegeln sich die unterschiedlichen Dimensionen der Leiderfahrung unheilbar kranker und sterbender Menschen wider, sie ist Grundvoraussetzung für eine angemessene Erfassung und Behandlung ihrer Nöte und Bedarfe. Vor diesem Hintergrund entwickelten Roman Rolke, Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin am Universitätsklinikum RWTH Aachen und Veronika Schönhofer-Nellessen, Leiterin des Bildungswerks Aachen und Geschäftsführerin des Palliativen Netzwerks für die Region Aachen, das Konzept des hier besprochenen Lehrbuchs. Ausgehend von Fallvignetten werden in 24 Kapiteln im Sinn eines fallbasierten Lernens Fragen formuliert, die von multiprofessionellen Autorenteams bearbeitet und beantwortet werden. Die ersten 3 Kapitel behandeln grundsätzliche Aspekte der palliativen Versorgung von Patienten mit lebenslimitierenden onkologischen, kardiovaskulären und neurologischen Erkrankungen. Elf Kapitel widmen sich relevanten belastenden körperlichen und psychischen Symptomen (darunter auch so besondere Themen wie „Umgang mit Unruhezuständen und Schlafstörungen bei Demenz“). Kommunikative Schwerpunktthemen mit einer weiten Spannweite vom Umgang mit Todeswünschen bis hin zum Familiengespräch sind detailliert in 4 weiteren Kapiteln dargestellt. Die übrigen Kapitel befassen sich mit ethischen Fragestellungen, mit Trauer, Angehörigenarbeit und interkulturellen Herausforderungen.
Die jedes Kapitel einleitenden Fallvignetten – von den Herausgebern zu Recht als „Herzstück“ der Texte bezeichnet – fesseln und berühren durch die detaillierte und realistische Darstellung der jeweiligen Patientensituationen und sind bereits für sich genommen lehrreich, da sie paradigmatisch die Komplexität und Multidimensionalität der Leiderfahrung unheilbar kranker Menschen und ihrer Angehörigen verdeutlichen; man spürt unmittelbar die große praktische Erfahrung der insgesamt 75 Autor:innen, die diese Vignetten in Anlehnung an reale Patientensituationen entworfen haben. Auf jede Fallvignette folgt zunächst ein Abschnitt mit allgemeinen Fragestellungen (typischerweise: „Welche Gefühle/Gedanken löst diese Fallgeschichte bei Ihnen aus?“, „Benennen Sie drei konkrete Behandlungsziele!“) und dann ein weiterer Abschnitt mit spezifischen medizinischen und pflegefachlichen Gesichtspunkten. Je nach Thematik wird abschließend der Blick nochmals durch Einbeziehung der Perspektive weiterer Disziplinen (Physiotherapie, Psychologie, Seelsorge, soziale Arbeit, Eingliederungshilfe) geweitet. Durch die Frage-Antwort-Struktur fühlt man sich als Leser/Leserin unmittelbar angesprochen und zum Überlegen herausgefordert, und ist seinerseits gespannt auf die sehr differenzierten Lösungsvorschläge der jeweiligen Expert:innen. Auf diese Weise ist das Buch nicht nur für das individuelle Studium geeignet, sondern – wie von den Herausgebern vorgeschlagen – auch für Fort- und Weiterbildungskurse oder für kürzere Team-Fortbildungen. Alle Kapitel zeichnen sich durch eine sehr gute Lesbarkeit und Verständlichkeit aus. Ob ihre Lektüre allerdings auch für An- oder Zugehörige (so das Anliegen der Herausgeber) ohne entsprechendes fachliches Vorwissen hilfreich ist, erscheint dem Rezensenten eher fraglich. Zu betonen ist auch, dass „Palliative Care multiprofessionell“ kein palliativmedizinisches Lehrbuch ersetzt. So enthalten manche Kapitel sehr konkrete Dosierungsangaben für Medikamente, während sich andere mit dem Hinweis auf den Medikamentennamen begnügen. Hier und da fallen auch missverständliche Formulierungen auf, wenn beispielsweise im Kapitel zur malignen intestinalen Obstruktion „in jedem Fall“ das Angebot einer Entlastungssonde empfohlen wird oder der Hinweis auf radiologisch-interventionelle Verfahren zur Anlage einer PEG-Sonde bei Kontraindikationen für die endoskopische Platzierung fehlt. Sehr zu begrüßen ist es, dass alle Kapitel für interessierte Leser:innen weiterführende Literaturangaben zu Leitlinien und aktuellen Fachartikeln enthalten.
Für eine zweite Auflage würde es der Rezensent begrüßen, wenn im Autor:innenverzeichnis durchgehend die berufliche Qualifikation und ggf. Fachdisziplin benannt wird und dass das Stichwortverzeichnis bereinigt wird im Hinblick auf weniger sinnvolle Schlagwörter (z. B. „Trikuspidalklappe“) oder solche, die zwar im Text auftauchen, aber dort nicht wirklich erörtert werden (z. B. „Suizidprävention“).
Zusammenfassend ist Herausgeber und Herausgeberin sowie den Autor:innen mit diesem Buch zweifellos ein großer Wurf gelungen, dem eine weite Verbreitung in allen Settings der Palliative Care zu wünschen ist. In diesem Zusammenhang zu guter Letzt noch ein Tipp: Wer Krankenkassen oder kaufmännische Leitungen davon überzeugen muss, dass für unheilbar kranke Menschen, „bei denen nichts mehr zu machen ist“, eine so personalintensive multiprofessionelle Betreuung notwendig und sinnvoll ist, wenn Palliative Care kein Etikettenschwindel sein soll, der sollte „Palliative Care multiprofessionell“ auf den Verhandlungstisch legen und ein beliebiges Kapitel zur Lektüre empfehlen – jedes wird dazu geeignet sein, auch den widerspenstigsten Verhandlungspartner zur Einsicht zu bringen!
Martin Weber, Mainz
Publication History
Article published online:
04 March 2025
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