Schlüsselwörter
Feminismus - Körper - Kunst - Queerness - Sexualität
Key words
Feminism - body - art - queerness - sexuality
Am 19. November 1971 um 19:45 Uhr wurde dem damals 25-jährigen Chris Burden aus fünf Metern
Entfernung mit einem Kleinkalibergewehr in den linken Oberarm geschossen. Eine kleine Gruppe von rund zehn
geladenen Gästen beobachtete das Geschehen, das sich in der F Space Gallery im kalifornischen Santa
Ana abspielte ([Ward 2001]). Niemand stoppte den Vorgang. Auch nicht die
beiden Freunde von Burden, die anwesend waren. Einer von ihnen war der Schütze, der andere der Fotograf der
Szene. „Shoot“ ist eine der bislang bekanntesten Kunst-Performances. Nicht nur, weil der Künstler Chris
Burden in extremer Weise mit dem eigenen Körper arbeitete, sondern auch, weil Waffengewalt in den USA ein so
großes Thema war und ist. Burdens Performance zeigte auf, dass Waffengewalt nicht abstrakt und weit weg
stattfindet, etwa im damals noch andauernden Vietnam-Krieg, im Ghetto oder im Fernsehkrimi, sondern dass sie
direkt vor Ort präsent sein kann. Der Künstler zwang sich, sie am eigenen Leibe zu erleben. Dabei
konfrontierte die Performance das umstehende Publikum nicht nur mit dessen eigener Verwundbarkeit, sondern
auch mit der Frage, ob es richtig war, untätig zuzusehen. In der Presse wurde Burden gleichermaßen bewundert
wie verlacht, galt wahlweise als Held oder als Verrückter, der „für die Kunst auf sich selber schoss“ ([Ward 2001]). Als im Zuge der Behandlung von Burdens Schusswunde das
zuständige Krankenhaus die Polizei einschaltete, erzählte der Künstler eine frei erfundene Geschichte von
einem ganz allein zu verantwortenden Jagdunfall; die Identität des Schützen wurde bis heute geheim gehalten
([Ward 2001]).
Der vorliegende Beitrag führt ein in die Performance-Kunst und konzentriert sich dabei auf ihre Bezüge
speziell zu Sexualität und Geschlecht, wobei das Thema Gewalt oft präsent ist und auch zwei weitere
Schusswaffen auftauchen werden. Exemplarisch werden zehn bekannte Kunst-Performances vorgestellt und im
Kontext aktueller Sexualitätsdiskurse kommentiert.
Die Sexualforschung hat zwar vereinzelt Interesse an Sexualitätsdarstellungen in der Kunst gezeigt, was sich
auch in vergangenen Beiträgen in der „Zeitschrift für Sexualforschung“ spiegelt, dabei aber vor allem
bildnerische und literarische Arbeiten untersucht ([Döring 2025]). Daher
möchte dieser Beitrag die Aufmerksamkeit auf Performance-Kunst lenken, ein Kunst-Genre, das sich in den
1960er-Jahren mit ausdrücklich gesellschaftskritischem Impetus entwickelt hat und heute teilweise im
Mainstream des Kunstbetriebs angekommen ist.
Kunst-Performances, die Sexualität und Geschlecht thematisieren, sind unter anderem deswegen praxisrelevant,
weil sie im Rahmen der Sexuellen Bildung als unerwartete und facettenreiche Gesprächsanlässe dienen können.
Darüber hinaus sind sie für die Sexualforschung fruchtbare Untersuchungsgegenstände. Da die
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Performance-Kunst von hermeneutischen Studien geprägt ist, kann die
empirische Sexualforschung hier ergänzende Beiträge liefern, etwa indem sie die Wahrnehmung und Wirkung von
sexuellen Kunst-Performances bei unterschiedlichen Personengruppen und in unterschiedlichen Kontexten durch
Beobachtungsmethoden, mündliche Interviews oder schriftliche Befragungen erfasst. Es ist ausdrücklich nicht
Ziel des vorliegenden Beitrags, konkrete Studiendesigns vorzustellen oder sexualpädagogische Methoden zu
entwickeln. Vielmehr möchte er interessierte Fachleute aus der Sexualforschung und Sexualpädagogik zur
weiteren Beschäftigung mit sexualitätsbezogener Performance-Kunst anregen.
Performance-Kunst und Sexualität
Performance-Kunst und Sexualität
Performance-Kunst (engl. performance art) ist eine Kunstform, bei der die Handlungen der
Künstler*innen – oft in Interaktion miteinander und/oder mit dem Publikum – die künstlerische Arbeit
darstellen ([Goldberg 2011]). Dabei folgen die Handlungen und
Interaktionen einem bestimmten künstlerischen Konzept, wobei der Körper der Künstler*innen oft im
Mittelpunkt steht ([Benkel 2015]). Die Kunst-Performance braucht in der
Regel als zentrale Elemente die Künstler*innen und ihre Körper, einen Ort, eine Zeit und ein Publikum ([Coogan 2015]). Zudem können weitere Objekte und Materialien (z. B. Gewehr,
Schere, Federn, Ton) sowie auch andere Kunstformen einbezogen werden, etwa indem während einer
Kunst-Performance literarische Texte verlesen, Tanz- und Musikstücke vorgetragen werden, sodass es zu
Verschmelzungen unterschiedlicher Kunstformen kommt. Performance-Kunst entfaltet sich typischerweise als
Live-Ereignis, das grundsätzlich überall stattfinden kann und an dem sich prinzipiell alle
Publikumsmitglieder beteiligen können. [
1
]
Entwickelt wurde Performance-Kunst in den 1960er-Jahren, ausdrücklich in kritischer Distanz zu anderen
darstellenden und bildenden Künsten, die innerhalb der Performance-Szene nicht selten als bürgerlich und
kapitalistisch galten ([Goldberg 2011]). Über die letzten Jahrzehnte hat
sie sich im globalen Norden und Süden ausdifferenziert entwickelt und ist heute teilweise auch im Mainstream
des Kunstbetriebs angekommen. Da Kunst-Performances typischerweise als situativ einmalige Aktionen vor und
mit relativ kleinem Publikum stattfinden, entziehen sie sich stärker als andere Kunstgattungen der
Vermarktung. Doch Text-, Foto- und Video-Dokumentationen sowie die in den Performances genutzten Artefakte
werden auf dem Kunstmarkt gehandelt und ausgestellt und Performances werden auch re-inszeniert.
Für die Beschäftigung mit Sexualität und Geschlecht ist Performance-Kunst von großer Bedeutung. Denn der
Umstand, dass Performance-Künstler*innen mit dem eigenen bekleideten oder unbekleideten Körper arbeiten und
dabei das Publikum zur Interaktion einladen, führt relativ schnell dazu, dass Fragen von Geschlechtlichkeit
und Sexualität im Raum stehen. Weiterhin sind die gesellschaftskritischen Wurzeln der Performance-Kunst dazu
angetan, dass sich hier insbesondere auch Künstler*innen mit feministischem und/oder queerem Hintergrund
einbringen, für die Fragen rund um Körperlichkeit, Identität, Macht, Gewalt und Sexualität eine wichtige
Rolle spielen. Daher beschäftigen sich eine Reihe von bekannten Kunst-Performances direkt oder indirekt mit
sexuellen Themen.
Im Folgenden werden Schnittstellen zwischen Sexualität und Kunst am Beispiel von zehn ausgewählten
Kunst-Performances aus den 1960er bis 2020er-Jahren vorgestellt. Der Beitrag erhebt dabei keinen Anspruch
auf Repräsentativität, vielmehr waren der klare Bezug zu Sexualität und Geschlecht sowie die Bekanntheit der
Arbeiten und der Künstler*innen bei der Auswahl leitend. Zudem wurde auf Vielfalt geachtet: So sind
Künstler*innen unterschiedlicher Geschlechter, sexueller Identitäten, Ethnizitäten, Herkunftsländer und
körperlicher Voraussetzungen vertreten.
Ein umfassender Eindruck von einer Kunst-Performance ist in der Regel nur durch ein Miterleben der
Live-Aktion möglich. Die im vorliegenden Beitrag genutzten textlichen Beschreibungen der Abläufe sind somit
naturgemäß beschränkt. Sie werden aber ergänzt durch zahlreiche Fußnoten-Verweise auf Foto- und
Video-Dokumentationen, welche die Atmosphäre vor Ort rückwirkend zumindest erahnen lassen. Es ist daher
empfehlenswert, beim Lesen die Fußnoten-Verweise zu beachten. Um den Zugang zu den Kunst-Performances zu
erleichtern, werden zusätzlich einige Hintergrundinformationen zu den Künstler*innen sowie zur Rezeption
ihrer Arbeiten geliefert. Auch diese Informationen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern
wollen wichtige Aspekte anreißen und Interessierte zur weiteren Beschäftigung anregen.
Yoko Ono: „Cut Piece“ (1964)
Yoko Ono: „Cut Piece“ (1964)
Lange bevor Yoko Ono das Beatles-Mitglied John Lennon kennenlernte und 1969 im Alter von 36
Jahren in dritter Ehe heiratete, war sie bereits als Künstlerin in Japan und den USA aktiv und erfolgreich.
Sie gilt unter anderem als bedeutende Vertreterin der avantgardistischen Fluxus-Bewegung, die sich
gegen elitäre Hochkunst wendet und innerhalb der daher Performance-Kunst eine wichtige Rolle spielt ([Kurth 2024]). Man findet Onos offizielle Profile auf X/Twitter (https://x.com/yokoono) und Instagram (https://www.instagram.com/yokoono).
Yoko Onos wohl bekannteste Kunst-Performance ist „Cut Piece“, die erstmals am 20. Juni 1964 in der
Yamaichi Concert Hall im japanischen Kyoto stattfand ([Bryan-Wilson
2003]). Dazu saß die Künstlerin in festlicher Kleidung bewegungslos und schweigend in der
traditionellen, ehrerbietigen japanischen Sitzhaltung seiza auf dem Boden der Bühne. Vor ihr lag eine
große Schere. Personen aus dem Publikum waren eingeladen, nacheinander die Bühne zu betreten und mit der
Schere Stücke aus ihrer Kleidung herauszuschneiden, die sie behalten durften. Hier war es also nicht an der
Künstlerin zu entscheiden, was sie dem Publikum geben wollte, vielmehr konnte das Publikum selbst
entscheiden, was es sich nehmen wollte ([Rhee 2005]).
Das Publikum beginnt, wie die Foto- und Video-Dokumentationen einer Aufführung der Performance 1965 in den
USA zeigen [
2
], zunächst zögerlich, kleine Stücke aus dem linken Ärmel ihrer Blazerjacke zu schneiden. Mit der Zeit
wird es forscher. Schließlich betritt ein Mann die Bühne, der systematisch das Oberteil aufschneidet, die
Träger durchschneidet und das ganze Unterhemd entfernt. Auch in der Distanz der Videodokumentation wirkt
diese Szene beklemmend, zeigt sie doch buchstäblich einschneidend weibliche Verletzlichkeit und männliche
Gewalt. Die Geräuschkulisse des gleichzeitig im Hintergrund redenden und lachenden Publikums macht es nicht
besser. Die Künstlerin, die sich die ganze Zeit nichts anmerken lässt, kann sich beim Durchschneiden der
Träger ihrer Unterwäsche ein Augenrollen nicht verkneifen.
Viele Beobachter*innen sehen „Cut Piece“ vor allem auch als feministische Performance, welche die
Objektifizierung von Frauen, den auf sie gerichteten männlichen Blick und die ubiquitäre sexualisierte
Gewalt illustriert ([Rhee 2005]). Tatsächlich zeigt die Fotodokumentation
als Schlussbild der Performance die Künstlerin, wie sie weiterhin auf dem Boden sitzend sich mit letzten
Fetzen ihrer Kleidung die nackten Brüste bedeckt, eine Szene, die gewaltsam anmutet.
Yoko Ono selbst wollte sich indessen mit einer eindeutig feministischen Lesart nicht so recht
identifizieren. Im Laufe der Jahre wiederholte sie die Performance an unterschiedlichen Orten und bot immer
wieder neue Interpretationsmöglichkeiten an ([Bryan-Wilson 2003]). Im
Kontext ihres Engagements als Friedens- und Menschenrechtsaktivistin lud sie beispielsweise im Jahr 2003 im
Zuge einer Re-Interpretation, bei der sie im langen weißen Kleid auftrat, das Pariser Publikum ein, sich
postkartengroße Stücke aus ihrem Gewand herauszuschneiden, um sie als Liebesbotschaften an ihre Nächsten zu
versenden ([The Guardian 2003]).
Aktuell ist „Cut Piece“ bis heute. Rund 60 Jahre später wurde die Performance im Jahr 2023 in der Berliner
Nationalgalerie [
3
] durch eine von Yoko Ono autorisierte Performance-Künstlerin erneut dem Publikum angeboten ([Wetzel 2023]). Anders als bei der Erstaufführung 1964, als
Performance-Kunst noch neu und die konkrete Performance völlig unerwartet war, konnte das Publikum 2023 auf
eine lange Rezeptionsgeschichte zurückblicken. So beschreibt die Berichterstattung über die aktuelle
Neu-Performance teilweise ganz andere Interaktionen als bei der Erstaufführung: Galeriebesucher*innen, die
zur Schere griffen, zollten gleichzeitig der Künstlerin Respekt, zogen ihre Schuhe aus, bevor sie den hellen
Teppich betraten, auf dem sie saß, einige verbeugten sich vor ihr. Die Berichterstattung über die
Performance hebt zudem einen männlichen Galeriebesucher hervor, der sich ein Stück aus seinem eigenen
schwarzen T-Shirt herausschnitt, um damit die inzwischen entblößte Schulter der Künstlerin zu bedecken
([Wetzel 2023]). Ein anmutiger symbolischer Akt der Wiedergutmachung
und Fürsorge? Oder eine männliche Anmaßung, die Performance der Künstlerin durch eine eigene Performance
übertrumpfen und sich selbst in den Vordergrund spielen zu müssen? Und wie hätte man selbst auf die
Performance reagiert? Eine Journalistin, die vor Ort öffentlich zur Schere griff, berichtet: „Der Nachhall
der Performance ist eine Gefühlsmischung aus Respekt, Rührung, Forschheit und Schuld, die ich so im Kontext
mit Kunst bisher nicht erlebt habe“ ([Wetzel 2023]).
VALIE EXPORT: „Aktionshose: Genitalpanik“ (1969)
VALIE EXPORT: „Aktionshose: Genitalpanik“ (1969)
Während in „Cut Piece“ die Künstlerin sich in passiver, geradezu unterwürfiger Pose dem Publikum zeigt, ist
„Aktionshose: Genitalpanik“ eine Performance, die aggressiv auf das Publikum zugeht. Die österreichische
Künstlerin VALIE EXPORT (https://www.valieexport.at/), die ihren in Versalien geschriebenen Künstlerinnennamen selbstironisch
an eine Zigarettenmarke erinnern lässt, trat am 22. April 1969 bekleidet mit einer schwarzen Lederjacke und
ihrer Aktionshose vor das Publikum im Münchner Programmkino Augusta Lichtspiele ([Robinson 2013]).
Ihre Aktionshose ist eine dunkle Jeanshose der Marke Mustang, bei der die Künstlerin im Schritt ein
großes Dreieck herausgeschnitten hat und die sie ohne Unterwäsche trägt, sodass ihre behaarte Vulva deutlich
sichtbar ist. In diesem Outfit schreitet sie über die Bühne und durch den Publikumsraum, wobei sich ihre
Genitalien genau auf Gesichtshöhe des sitzenden Publikums befinden ([Robinson
2013]). Das Publikum gerät – wie von der Künstlerin erwartet – in regelrechte Genitalpanik. Es
wirkt erschrocken und erstarrt, einige Zuschauer*innen verlassen Erzählungen zufolge fluchtartig das Gebäude
([Robinson 2013]). Die von der Künstlerin verkörperte Frau, die keine
schamhafte Zurückhaltung zeigt, sondern ihr Geschlecht öffentlich zeigt, war 1969 – mehrere Jahre vor der
Legalisierung von Video-Pornografie in Deutschland – eine erhebliche Provokation.
VALIE EXPORT führte die Performance einige Monate später weiter, indem sie im Look und in der Pose einer
Guerilla-Kämpferin mit wilder, hochtoupierter Haarmähne und einer Thompson-Maschinenpistole in den Händen
breitbeinig in ihrer Aktionshose für Fotoaufnahmen posierte. [
4
] Poster dieser Aufnahmen hängte sie überall in Wien auf. „Aktionshose: Genitalpanik“ codiert die
typische Darstellung der Frau als süßes und serviles Sexualobjekt um und stellt sie stattdessen als
selbstbestimmtes und wehrhaftes Sexualsubjekt dar. [
5
]
Das feministische Kunstprojekt zur Genitalpanik ist heute nach wie vor aktuell. Denn die ungewollte
Sexualisierung von Frauen hält trotz jahrzehntelanger Kritik an. So war es beispielsweise bei den
olympischen Sommerspielen 2024 in Paris immer noch notwendig, dass das Internationale Olympische
Komitee Richtlinien für gendergerechte Berichterstattung in der männlich dominierten Presse
herausgibt. Diese Richtlinien wiesen unter anderem darauf hin, dass in der Sportberichterstattung Kommentare
zu Frisur, Nägeln und Make-up der Athlet*innen unterbleiben sollen, und dass Nahaufnahmen ihres
Genitalbereichs, ihrer Brüste und ihres Gesäßes nicht angemessen sind ([International Olympic Committee 2024]: 14). Während die Objektifizierung durch Dritte
veralltäglicht ist, bleibt es dennoch skandalisierbar, wenn Frauen sich selbst mit Bezügen zu
Geschlechtlichkeit öffentlich präsentieren. Das zeigt das Beispiel von Kiran Gandhi, die 2015 den
London Marathon während ihrer Monatsblutung mitlief und dabei Free Bleeding praktizierte, also keine
Periodenprodukte verwendete, sodass sich im Genitalbereich ein deutlicher Blutfleck auf ihrer Laufhose
abzeichnete. Das zeigt auch das Beispiel von Emma Pallant-Browne, die als Triathletin während eines
Wettkampfes im Jahr 2023 auf Ibiza überraschend ihre Tage bekam und das Foto mit dem Periodenfleck im
Genitalbereich ihres Badeanzugs unretuschiert auf ihrem Instagram-Profil postete ([Döring et al. 2024]). Beide Fälle lösten eine öffentliche Debatte darüber
aus, ob Frauen sich so zeigen dürfen. Diese Debatte scheint unter anderem durch zeitgenössische Genitalpanik
getrieben zu sein und dabei nicht einmal Nacktheit zu benötigen.
VALIE EXPORT arbeitete im Umfeld des Wiener Aktionismus, einer rein männlichen Künstlergruppe, und
entwickelte ihren eigenen Ansatz eines „feministischen Aktionismus“ im Sinne feministischer
Performance-Kunst ([EXPORT 1980]). Ende der 1960er- und Anfang der
1970er-Jahre war sie mit dem 2023 verstorbenen Peter Weibel (https://www.peter-weibel.at/), einem Vertreter des Wiener Aktionismus, liiert. Beide entwickelten
gemeinsam einflussreiche sexuelle Kunst-Performances. Dazu gehören das „Tapp und Tastkino“ (1968), bei dem
VALIE EXPORT mit einem vor die nackte Brust geschnallten Kasten durch die Straßen Wiens läuft und
Passant*innen einlädt, durch einen Vorhang hindurch in den Kasten hineinzugreifen und ihre nackten Brüste zu
betasten. [
6
] Peter Weibel unterstützte die Performance durch Foto- und Video-Dokumentationen und theoretische
Reflexionen. [
7
] Das „Tapp und Tastkino“ beschäftigt sich – ähnlich wie „Aktionshose: Genitalpanik“ – mit der
sexuellen Objekt- und Subjektrolle der Frau. Ebenfalls 1968 führte VALIE EXPORT den auf allen vieren
laufenden, vollständig mit Mantel und Hut bekleideten Peter Weibel an einer Hundeleine durch die Wiener
Innenstadt. Diese als „Aus der Mappe der Hundigkeit“ bezeichnete Performance, die auf Machtverhältnisse
zwischen den Geschlechtern und BDSM-Praktiken wie Pet Play anspielt – sorgte für heftige Irritationen
und diverse Zwischenfälle mit Passant*innen. Bilddokumente dieser Performance sind auf den Websites von
EXPORT [
8
] und Weibel [
9
] zu finden.
VALIE EXPORT war zudem ihrer Zeit weit voraus, als sie sich 1970 im Rahmen der Performance „Body Sign
Action“ [
10
] den Verschluss eines Strumpfhalters auf den linken Oberschenkel tätowieren ließ als Symbol dafür,
wie stark die Rolle des Sexualobjekts in den Frauenkörper eingeschrieben ist. Heute sind Tätowierungen von
Strumpfhaltern und Strumpfbändern zum Mode-Accessoire geworden.
Vito Acconci: „Seedbed“ (1972)
Vito Acconci: „Seedbed“ (1972)
Wer im Januar 1972 die neu eröffnete Sonnabend Gallery (https://sonnabendgallery.com/) in New York City betrat, befand sich in einem leeren Raum. Weder
Bilder noch Skulpturen waren zu sehen. [
11
] Dafür war über Lautsprecher eine Männerstimme zu hören. Diese formulierte sexuelle Fantasien über
die eintretenden Personen, kommentierte ihre sich nähernden Schritte und beschrieb Details einer
imaginierten intimen Begegnung. [
12
] Was das Publikum hörte, waren die Worte des US-amerikanischen Künstlers Vito Acconci. Er
hatte in einen Raum der Galerie einen erhöhten Holzboden einziehen lassen, unter den er sich legen konnte.
Das Publikum, das über diesen Holzboden lief, konnte ihn nicht sehen, und er konnte das Publikum nicht
sehen, nur die Schritte der Besucher*innen und ihre Gespräche drangen zu ihm durch. Diese benutzte er als
Aufhänger für sexuelle Fantasien über die Besucher*innen, die er aussprach und die über Lautsprecher dem
Publikum zugespielt wurden. Nicht nur durch den Inhalt der Fantasien, sondern auch durch Stimmlage, hörbares
Atmen und Stöhnen wurde dem Publikum dann bald klar, dass der Künstler nicht nur fantasierte, sondern
gleichzeitig masturbierte.
Der Titel „Seedbed“ (deutsch: Saatbeet) ist doppeldeutig zu verstehen. Einmal wörtlich, da der Künstler zwei
Tage pro Woche jeweils acht Stunden lang unter dem Holzboden lag und masturbierte, also den Boden mit seinem
Samen tränkte ([Greenman 2011]). Zum anderen metaphorisch, da diese
Performance einen fruchtbaren Boden bereiten wollte für ein neues Nachdenken über das Verhältnis von
Künstler und Publikum, von Künstler und Raum, von Privatheit und Öffentlichkeit. Im Interview beschreibt
Acconci die Performance so (Sherwin 2011):
I could hear visitors’ footsteps on top of me, I could build sexual fantasies on those footsteps, those
sexual fantasies could keep my activity going, keep my masturbation going – but the visitors had to know
what I was doing, so, just as I heard visitors’ footsteps on top of me, they had to hear me under them – so
I spoke my fantasies aloud: I came, a visitor might think I was doing it just for her, just for him – my
goal of producing seed led to my interaction with visitors and their interaction, like it or not, with
me…
Acconci berichtet, er habe „Seedbed“ in den 1970er Jahren gleichzeitig als Beginn und Ende seiner
künstlerischen Laufbahn betrachtet (Sherwin 2011). Denn was sollte nach dem Erfolg dieser Aufsehen
erregenden Performance noch kommen? Zwar blieb „Seedbed“ seine bekannteste Arbeit, doch die Sorge um seine
weitere Karriere war unberechtigt. Der 2017 verstorbene Vito Acconci war ein ausgesprochen vielseitiger
Künstler, der sich nicht nur mit Performance-Kunst, sondern auch mit Literatur und Poesie, Video- und
Medienkunst, Skulpturen und Architektur beschäftigte. Spätestens ab Mitte der 1980er-Jahre stand sein
Interesse an der Gestaltung des öffentlichen Raumes im Vordergrund und er verstand sich weniger als
Künstler, sondern eher als Designer (Sherwin 2011), was auch die auf der Website seines Studios gezeigten
Werke unterstreichen (http://acconci.com/).
Seine Performance-Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre war stark auf die Interaktion mit dem Publikum bezogen.
Nicht ganz so intim wie „Seedbed“ war die Performance „Following Piece“ (1969), bei der Acconci einzelne
Passant*innen auf den Straßen New Yorks auswählte und ihnen so lange zu Fuß durch die Stadt folgte, bis sie
in einem Gebäude verschwanden. [
13
] Aus heutiger Sicht wirken Performances wie „Seedbed“ und „Following Piece“ aufdringlich bis
übergriffig. Denn der Künstler zieht das Publikum in Interaktionen hinein, die persönliche Grenzen betreffen
und daher Konsens erfordern würden. Können diese Performances heute noch einen sinnvollen Beitrag zur
ausdifferenzierten Konsens-Debatte liefern? Oder sind sie veraltet, gar obsolet? Unter welchen Bedingungen
könnte eine nordamerikanische oder europäische Galerie „Seedbed“ heute re-inszenieren? Müsste es
Triggerwarnungen geben, eine Alterskontrolle am Einlass und schriftliche informierte Einwilligung? Die
Frage, ob und unter welchen Bedingungen seine frühen Kunst-Performances illegal sein könnten, hat Acconci
selbst beschäftigt. In einem Zeitschriftenaufsatz diskutiert er drei seiner Werke, darunter „Seedbed“, mit
Blick auf mögliche Illegalität ([Acconci 1991]): Er betont, dass er sich
über rechtliche Grenzen bei der Entwicklung seiner Performances damals gar keine Gedanken gemacht habe, dass
die Kunst einen Freiraum biete und per se Normen in Frage stelle, dass letztlich Diskussionen über Grenzen
der Legalität von Kunstwerken ihrer Wirkung sogar zugutekämen.
Mit dem Gesetz in Konflikt kam Acconci im Jahr 1980, als er in der italienischen Kleinstadt Spoleto ein
partizipatives Skulpturenprojekt realisierte: Er bat zehn Einwohner*innen der Stadt, auf dem Dach ihrer
Autos Stoffskulpturen installieren zu dürfen, die sich während der Fahrt entfalteten und beim Stehenbleiben
wieder in sich zusammenfielen. Dabei handelte es sich um neun überdimensionale erigierte Penisse und eine
überdimensionale weibliche Brust. Das Projekt hieß „Gang Bang“ und lebte davon, dass nach dem Zufallsprinzip
gemäß den Autofahrten der beteiligten Einwohner*innen die Penisse und die Brust im Straßenbild auftauchten,
sich aufeinander zu- und voneinander wegbewegten. Dieser künstlerische „Gang Bang“ wurde jedoch umgehend vom
Bürgermeister verboten ([Acconci 1991]).
Marina Abramović: „Rhythm 0“ (1974)
Marina Abramović: „Rhythm 0“ (1974)
Die Galerie Studio Morra (https://www.fondazionemorra.org/) im italienischen Neapel lud am 2. Oktober 1974 um 20 Uhr zu
einer Performance der jungen serbischen Künstlerin Marina Abramović ein. Die Künstlerin stand in
schwarzer Hose und schwarzem T-Shirt bekleidet hinter einem Tisch. Auf dem Tisch lagen 72 Gegenstände
bereit. Die Künstlerin erklärte, dass sie sich nun für die kommenden sechs Stunden dem Publikum frei zur
Verfügung stellen würde. Sie übernehme die volle Verantwortung für sämtliche Folgen – einschließlich ihres
möglichen Todes. Auf diese mitgedachte Konsequenz spielt vermutlich auch der Titel der Performance an:
„Rhythm 0“ lässt sich unter anderem als „Nulllinie“ nach dem Herzstillstand lesen ([Enßlen 2003]).
Tatsächlich befanden sich unter den vorbereiteten Objekten unter anderem eine Schere, Nadeln, ein Hammer,
eine Säge, ein Tranchiermesser, eine Axt und eine Pistole samt Kugel. Gleichzeitig befanden sich unter den
Objekten aber auch eine Feder, eine Rose, eine Zeitung, ein Teddybär, eine Haarbürste, ein Halstuch, ein
Lippenstift, ein Glas Wein, ein Stück Kuchen, Honig, Schokolade, Äpfel, Weintrauben und eine Kerze.
Der Aufforderungscharakter der bereitgelegten Gegenstände war somit weit gefächert und reichte von
romantisch und erotisch bis zu brutal. Marina Abramović, die als eine der einflussreichsten und bekanntesten
Performance-Künstler*innen weltweit gilt, ist für ihr Durchhaltevermögen bekannt. Dementsprechend hart und
lang war auch diese Performance angesetzt, die körperliche Auslieferung, Macht und Vertrauen thematisiert
und deren Beginn die Künstlerin in ihrer Autobiografie so beschreibt (Abramović 2016: 94):
Während der ersten drei Stunden passierte nicht viel – die Leute waren mir gegenüber schüchtern. Ich stand
einfach da und starrte ins Leere; hin und wieder gab mir jemand die Rose in die Hand oder legte mir das
Halstuch um die Schultern oder jemand küsste mich.
Schließlich, zuerst ganz langsam, dann immer schneller, ging es los. Es war wahnsinnig interessant: Sehr
viele Frauen im Publikum sagten ihren Männern, was sie mit mir machen sollten, anstatt es selbst zu tun
(später, als jemand mir eine Nadel in die Haut stach, wischte eine Frau mir die Tränen fort). Die meisten
Männer waren ganz normale Galeriebesucher aus dem italienischen Kunstestablishment mit ihren Ehefrauen. Ich
glaube, dass ich letztlich nur deswegen nicht vergewaltigt wurde, weil die Frauen da waren.
Im Lauf des Abends entwickelte sich eine animalische Spannung, bis die ganze Atmosphäre im Raum sexuell
aufgeladen war. Das ging jedoch nicht von mir aus, sondern vom Publikum. Wir waren in Süditalien, wo die
katholische Kirche sehr mächtig ist und das Verhältnis zu Frauen stark geprägt ist von der Dichotomie
Madonna/Hure. Und da stand ich, eine junge Frau in Hose und T-Shirt: teilnahmslos, verletzlich.
In den kommenden Stunden wurden die Aktionen immer aggressiver (Abramović 2016: 94f.): Die Schere wurde –
ähnlich wie bei „Cut Piece“ – genutzt, um ihr die Kleider vom Leib zu schneiden. Mit der Rasierklinge wurde
in ihren Hals geritzt und das Blut abgeleckt. Besucher*innen trugen sie umher, traktierten sie mit Nadeln,
fuchtelten mit dem Messer zwischen ihren gespreizten Beinen, benutzten den Lippenstift, um auf ihren
entblößten Oberkörper zu schreiben. Jemand drückte ihr die geladene Pistole in die Hand und richtete sie
dann auf ihren Kopf.
Als der Galerist um 2 Uhr nachts das Ende der Performance verkündete, befand sich die Künstlerin in einem
deutlich zugerichteten, verweinten und verstörten Zustand, wie die Foto-Dokumentationen zeigen. Ihr Versuch,
sich mit dem Publikum über die Performance auszutauschen, scheiterte. Denn in dem Moment, in dem sie die
passive Performance-Rolle ablegte und auf das Publikum zuging, verließen die Anwesenden schnellstmöglich die
Galerie. Offenbar wollten sie nicht mit dem konfrontiert werden, was sie getan hatten (Abramović 2016:
94f.).
Die Details von „Rhythm 0“ sind nicht umfassend dokumentiert und Berichte teilweise widersprüchlich. Da es
keine Video-Aufzeichnungen und auch kein vollständiges schriftliches Protokoll gibt, weiß man nicht, wer
genau wann was getan hat. Einige Berichte behaupten, es habe sogar eine Schlägerei im Publikum gegeben
zwischen denjenigen, die dem Geschehen ein Ende setzen und die Künstlerin beschützen und denjenigen, die
ungestört weitermachen wollten ([Enßlen 2003]). Fraglich ist auch die
Legalität der Aktion: Woher stammte die Schusswaffe? War sie funktionsfähig? Und wie war ihre öffentliche
Bereitstellung samt Munition rechtlich abgesichert? Aber unabhängig von diesen Details zeigt die Performance
auf, wie schnell Menschen, einschließlich des kulturbeflissenen Galerie-Publikums, Macht zum Machtmissbrauch
und sexuellen Übergriff nutzen.
Von 1976 bis 1988 lebte Marina Abramović in einer Partnerschaft mit dem deutschen Performance-Künstler
Ulay (Frank Uwe Laysiepen), teilweise reisten sie ihm Wohnmobil quer durch Europa (Abramović
2016). Viele ihrer gemeinsamen Performances thematisieren Beziehungsfragen rund um Vertrauen, Hingabe, Macht
und Gewalt. Ähnlich wie sie in „Rhythm 0“ die Kontrolle abgab und ihr Leben aufs Spiel setzte, ist auch die
Performance „Rest Energy“ (1980) konzipiert [
14
]: Abramović und Ulay stehen sich gegenüber. Sie hält einen großen Schießbogen, er hat ihn gespannt
und den Pfeil in der Hand, der auf ihr Herz zielt. Für gut vier Minuten harren sie in der Position aus, ihr
sich durch die Anstrengung und Aufregung beschleunigender Herzschlag wird durch Lautsprecher hörbar gemacht.
In der gemeinsamen Performance „Light/Dark“ (1977) [
15
] sitzen sie kniend voreinander in einem dunklen Raum, die Gesichter jeweils durch eine Lampe
beleuchtet und geben sich abwechselnd Ohrfeigen – so lange, bis eine*r aufhört.
Spektakulär und vielschichtig ist auch ihre Performance „The Lovers – The Great Wall Walk“ (1988) [
16
]: Drei Monate lang laufen sie Tag für Tag auf der Chinesischen Mauer aufeinander zu. Er startet im
Westen in der Wüste Gobi, sie im Osten am Gelben Meer. In der Mitte des Weges treffen sie sich. Ursprünglich
als Metapher für die Annäherung unter Liebenden geplant, wurde das Projekt zum Symbol des Abschieds. Denn
während der achtjährigen Vorbereitungsphase des Projekts, die langwierige Verhandlungen mit der chinesischen
Regierung beinhaltete, begann ihre Beziehung zu kriseln. Beide werfen sich rückblickend Untreue vor und Ulay
bekam am Ende ein Kind mit einer am Projekt beteiligten Dolmetscherin. Daher markierte das Zusammentreffen
nach wochenlanger Wanderung am 3. Juni 1988 in der Mitte der Chinesischen Mauer die offizielle Trennung
dieses legendären Power-Paares der Performance-Kunst.
Sowohl Abramović als auch Ulay äußerten sich über die miteinander verwobenen privaten und künstlerischen
Dimensionen ihrer Partnerschaft immer wieder öffentlich. Abramović hat nicht nur eine Autobiografie
vorgelegt (Abramović 2016), sondern auch gemeinsam mit der schweizerischen Psychoanalytikerin Jeanette
Fischer ihren Lebensweg und ihre Kunst umfassend reflektiert [
17
] ([Fischer 2018]). Bis heute ist Abramović (http://www.marinaabramovic.com/bio.html) sowohl
als führende Vertreterin als auch als bedeutende Kuratorin globaler Performance-Kunst aktiv, unter anderem
mit dem Marina Abramović Institut (https://www.mai.art/).
Carolee Schneemann: „Interior Scroll“ (1975)
Carolee Schneemann: „Interior Scroll“ (1975)
Die 2019 verstorbene Carolee Schneemann (https://www.schneemannfoundation.org/) war eine feministische Künstlerin aus den USA, die sich
vor allem als Malerin verstand, aber auch wegweisende Beiträge zur Performance- und Video-Kunst geliefert
hat. Fragen von Körperlichkeit, Sexualität und Geschlechterrollen beschäftigten sie dabei sehr ([Schneemann 2002]). 1964 zeigte sie beim „Festival of Free Expression“ in
Paris ihre Performance „Meat Joy“, die damit beginnt, dass den vier weiblichen und vier männlichen
Performer*innen – wie bei gesellschaftlichen Anlässen üblich – Essen gereicht wird. Was folgt, ist jedoch
kein gesittetes bürgerliches Abendessen. Stattdessen wälzen sich die leicht bekleideten Beteiligten
miteinander und mit den servierten Fisch- und Fleischstücken samt Würsten und Soßen auf dem Boden. [
18
]
Das Thema der fleischlichen Lust greift Schneemann in ihrem Experimentalfilm „Fuses“ (1964–1967) wieder auf.
Der collageartige Film zeigt aus der Perspektive der Katze der Künstlerin das Liebesleben von Schneemann mit
ihrem damaligen Partner, dem Musiker James Tenney. Der Film enthält explizite Nackt- und Sexszenen,
mit denen Schneemann beispielsweise untersuchte, inwiefern sich in der filmischen Darstellung das subjektive
Erleben der Intimität widerspiegeln kann und wie Sexualität jenseits objektifizierender Pornografie
darstellbar ist. „Fuses“ polarisierte stark. Während einerseits Zuschauerinnen berichteten, dass sie die
Darstellung weiblicher Nacktheit und Sexualität in „Fuses“ als befreiend empfanden [
19
], verurteilten manche Feministinnen den Film als pornografisch ([Johnson
2010]) und verpönten vor allem männliche Kritiker das Werk als bedeutungslos, selbstverliebt und
geschmacklos.
Schneemann reagierte auf die letztgenannte Kritik und auf die generell männerdominierte Kunstwelt mit ihrer
vermutlich bekanntesten Performance „Interior Scroll“ (1975), die sie erstmals bei der New Yorker
Ausstellung „Women Here and Now“ präsentierte. [
20
] Für die Performance stieg sie, in ein Laken gehüllt, auf einen Tisch und las zunächst eine Passage
aus ihrem Buch „Cezanne, She was a Great Painter“ vor ([Schneemann
1974]). Dann entkleidete sie sich und zog eine lange schmale, schlangenartige Schriftrolle (engl.
scroll) aus ihrer Vagina, von der sie einen Text ablas. Dieser Text beschreibt ihr Zusammentreffen mit einem
männlichen Filmemacher auf einem Filmfestival. Der Kollege bestätigt ihr herablassend, dass sie ja durchaus
eine charmante Frau sei, und fügt hinzu, dass er sich aber ihre Filme nicht ansehen könne, die seien ihm zu
narzisstisch und schmuddelig (engl. „a mess“). Kritik an Schmuddeligkeit von einer feuchten, frisch aus der
Vagina gezogenen Schriftrolle abzulesen, war ein treffsicherer Kommentar. In ihrer veröffentlichten
Briefkorrespondenz hat Carolee Schneemann zudem angesichts der häufigen Kritik an ihrer künstlerischen
Arbeit mit dem eigenen nackten Körper erklärt: “I do not ‘show’ my naked body! I AM BEING MY BODY”. [
21
]
Bob Flanagan: “NAILED!” (1989)
Bob Flanagan: “NAILED!” (1989)
Am 10. November 1989 zeigte Bob Flanagan um 20 Uhr in den Räumen des Künstler*innenkollektivs
Southern Exposure im kalifornischen San Francisco erstmals seine Live-Performance „NAILED!“. Der
Eintrittspreis betrug 7 Dollar. Und der Einladungsflyer fügte hinzu: „Nichts für schwache Nerven“ (Juno und
Vale 2020). Die Performance war Teil einer Veranstaltungsreihe zur Körperkunst, in der es unter anderem um
Tattoos und Piercings ging. Bob Flanagan trat nackt auf, hatte ein Holzbrett, einen Hammer und Nägel dabei
und nagelte als Höhepunkt der Performance seinen Hodensack an das Holzbrett, während er den fröhlich
klingenden und auf den Kommunismus anspielenden Welthit „If I had a Hammer“ intonierte. Flanagan berichtet
in Interviews, dass eigentlich bei jeder Inszenierung von „NAILED!“ jemand in Ohnmacht fiel (Juno und Vale
2020). Besonders gefiel ihm, wie geschockt Männer reagierten. Doch die Performance ist nicht auf reine
Schock-Wirkung ausgelegt, sondern hat vielschichtige Bedeutungen.
Der Schriftsteller und Performance-Künstler Bob Flanagan wurde ebenso wie seine beiden Schwestern mit
Mukoviszidose (auch: Cystische Fibrose) geboren. Während seine Schwestern im Kindesalter starben, überlebte
er bis zum Alter von 43 Jahren. Sein Leben war von Schmerzen, wiederkehrenden Krankenhausaufenthalten und
ständig drohendem Tod geprägt. Seine Gegenmittel waren Kunst und BDSM. Selbstironisch nannte er sich
„Super-Masochist“ in Anspielung auf Supermann (Juno und Vale 2020: 3):
In a bizarro, alternative universe kind of way, I sort of resemble Superman. […] Despite my skinny physique
and frail sensitivities, I possess certain powers and abilities far beyond those of so-called normal human
beings. I was born with a genetic illness that I was supposed to succumb to at two, then ten, then twenty,
and so on, but I didn’t. And, in a never-ending battle not just to survive but to subdue my stubborn
disease, I’ve learned to fight sickness with sickness.
Indem er Wege fand, Schmerz selbstbestimmt zu erleben, künstlerisch darzustellen und in BDSM-Kontexten zu
genießen, konnte Flanagan die Einschränkungen seines Körpers in Stärken umwandeln. Sein Werk hat mit dazu
beigetragen, den Blick auf chronische Krankheiten und soziale Behinderungen sowie auf BDSM zu verändern.
Denn allzu oft wird körperliche Beeinträchtigung mit Asexualität ([Döring
2021]) und auch mit fehlender Männlichkeit assoziiert ([Sandahl
2000]). Zusammen mit seiner Partnerin, der Fotografin Sheree Rose, organisierte Flanagan in den
1980er Jahren die ersten BDSM-Gruppen in San Francisco und konzipierte gemeinsame Performances. Dazu gehört
auch „Visiting Hours“ (1992): Für diese Performance re-inszenierte er im Santa Monica Museum of Art
ein Krankenzimmer einschließlich Wartebereich, wobei seine Behandlung als Patient die Grenzen zwischen
medizinischen Eingriffen und BDSM-Praktiken verschwimmen ließen (Juno und Vale 2020). Mit seinen
Performances war Flanagan einer der ersten, der private BDSM-Praktiken öffentlich sichtbar machte und dabei
durch seine ebenfalls sichtbare Erkrankung und submissive Rollenübernahme tradierte Männlichkeitsbilder
infrage stellte (Sandahl 2020).
Mit der Frage, warum er überhaupt so extrem anmutende Praktiken vollziehen und zeigen wollte, wurde er
sicher oft konfrontiert. In seinem Gedicht „WHY:“ beantwortet er sie so (Flanagan 2020: 64f.):
Because it feels good; because it gives me an erection; because it makes me come; because I’m sick; because
there was so much sickness; because I say FUCK THE SICKNESS; because I like the attention; because I was
alone a lot; because I was different; because kids beat me up on the way to school; […] because once upon a
time I had such a high fever my parents had to strip me naked and wrap me in wet sheets to stop the
convulsions; because my parents loved me even more when I was suffering; because I was born into a world of
suffering; because surrender is sweet; because I’m attracted to it; because I’m addicted to it; because
endorphins in the brain are like a natural kind of heroin; because I learned to take my medicine; because I
was a big boy for taking it; because I can take it like a man; because, as somebody once said, HE’S GOT MORE
BALLS THAN I DO; because it is an act of courage; because it does take guts; because I’m proud of it;
because I can’t climb mountains; because I’m terrible at sports; because NO PAIN, NO GAIN; because SPARE THE
ROD AND SPOIL THE CHILD; because YOU ALWAYS HURT THE ONE YOU LOVE.“
Annie Sprinkle: „A Public Cervix Announcement” (1990)
Annie Sprinkle: „A Public Cervix Announcement” (1990)
Die Sexarbeiterin, Pornodarstellerin und Performance-Künstlerin Annie Sprinkle begann 1990 mit ihrer
Show „A Postporn Modernist“ erst durch die USA und dann durch Europa zu touren. Mit dem Postpornografischen
ist dabei in sexpositiven feministischen Kreisen eine Abkehr von männerzentrierter Pornografie gemeint
entsprechend Sprinkles Diktum, die Antwort auf schlechten Porno sei nicht kein Porno, sondern besserer
Porno. In ihrer Show erzählt Sprinkle aus ihrem privaten und beruflichen Leben als Sexarbeiterin, berichtet
beispielsweise von ihren schlimmsten und besten sexuellen Erfahrungen, lädt das Publikum aber auch zur
Teilnahme an verschiedenen Performances ein. Dazu gehört die Performance „A Public Cervix Announcement“, die
sie laut Dokumentation auf ihrer Archiv-Website (https://anniesprinkle.org) folgendermaßen einleitet [
22
]:
I have really enjoyed performing here in (name of the city.) I was thinking, what could I do to give
something back to this wonderful city and the wonderful people here? I thought maybe I could show you all my
cervix. It’s a lot of fun and I think you’d all enjoy it. Would you like to see it? OK great.
Nach dieser Ankündigung bereitet sie sich auf die öffentliche Muttermund-Besichtigung vor. Spielerisch fragt
sie, ob ihr jemand helfen könne, ihr Höschen auszuziehen. Dann wäscht sie sich auf der Bühne und bietet das
Papiertuch, mit dem sie sich abgetrocknet hat, als Souvenir an. Schließlich setzt sie sich auf einen Stuhl,
öffnet die Beine und hält die Vulvalippen auseinander. So lädt sie das Publikum, das inzwischen aufgestanden
ist und auf der Bühne eine Warteschlange gebildet hat, dazu ein, nach und nach in gebückter Haltung mit
einem Spekulum und einer Taschenlampe einen Blick auf ihren Muttermund zu erhaschen. Für die allermeisten
Besucher*innen dürfte es das erste und letzte Mal im Leben sein, dass sie mit dem Spekulum in eine Vagina
schauen. Die von der Künstlerin hergestellte Situation ist neu, das Publikum konfrontiert mit einer
Gefühlsmischung aus Neugier, Unsicherheit, Nervosität und Scham. Im Kontrast dazu steht die
unerschütterliche Souveränität der erfahrenen und körperbewussten Performerin Sprinkle, die jedes einzelne
Publikumsmitglied, das zwischen ihre Beine tritt, fröhlich begrüßt und persönlich anspricht. Die Performance
verschmilzt Aspekte einer intimen interpersonalen Interaktion, einer gynäkologischen Untersuchung, einer
feministischen Selbstuntersuchung, einer pornografischen Ausstellung der Genitalien und einer, gängige
Regeln im Umgang mit dem weiblichen Körper sprengenden, Kunstaktion.
Kritiker*innen werfen Sprinkle vor, pornografische Kunst zu produzieren, während Befürworter*innen
argumentieren, dass sie womöglich schon immer Künstlerin war und sich auch ihre früheren Tätigkeiten als
Stripperin, Masseurin, Pornodarstellerin und Sexarbeiterin als Performances verstehen lassen. Es gelinge ihr
eine Präsentation der weiblichen Genitalien, die gerade nicht obszön ([Aulombard-Arnaud und Leifer 2021]) und nicht pornografisch ([Williams 1993]) sei. In ihrer Würdigung von Sprinkles Werk hebt die Filmwissenschaftlerin Linda
Williams, eine Pionierin der Pornografie-Forschung ([Döring
2019a]), hervor, dass 1990 bei einer Aufführung in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio sogar die
Sittenpolizei eingriff und die Verwendung des Spekulums während der Performance verbot ([Williams 1993]). Ironischerweise sei die Sittenpolizei aber nie auf den
Plan getreten, als Sprinkle in Cleveland in Strip-Lokalen als Tänzerin vor männlichem Publikum auftrat.
Annie Sprinkles sexpositive Kunst-Performances arbeiten selbstbestimmt mit dem eigenen nackten Körper, wie
das auch viele ihrer feministischen Kolleginnen tun. Zudem leisten ihre Performances einen Beitrag zum
Schließen der Orgasmuslücke zwischen den Geschlechtern, die nicht nur die private Praxis ([Döring und Mohseni 2022]), sondern auch die Performance-Kunst zu prägen
scheint. Neben Acconci und Flanagan integriert auch sie öffentliches Masturbieren einschließlich
öffentlicher Orgasmen in ihre Auftritte. Im Rahmen der „Postporn Modernist“ Show nennt sie die Performance,
in deren Rahmen sie sich in sexuelle Ekstase begibt „The Temple of the neo-scacred prostitute“ mit Verweis
auf jene historischen Rituale, die der weiblichen Sexualität Heilkraft zuschrieben. [
23
]
Heute ist Annie Sprinkle zusammen mit ihrer langjährigen Partnerin und Künstlerinnenkollegin Beth
Stephens weiterhin aktiv mit multimedialen Kunstprojekten rund um Sexualität, Liebe und Queerness,
wobei in ihrem Werk jetzt die Ökosexualität eine bedeutende Rolle spielt, also die erotische Verbindung
zwischen Mensch und Natur (https://sprinklestephens.ucsc.edu/).
Coco Fusco und Guillermo Gómez-Peña: “The Couple in the Cage” (1992)
Coco Fusco und Guillermo Gómez-Peña: “The Couple in the Cage” (1992)
Genau 500 Jahre nach der sogenannten Entdeckung Amerikas 1492 durch den italienischen Seefahrer Christoph
Kolumbus, realisierten die Künstler*innen Coco Fusco und Guillermo Gómez-Peña ihre
interaktive Performance „The Couple in the Cage: Two Undiscovered Amerindians Visit the West“ (1992). Dazu
präsentierte sie sich mit Gesichtsbemalung und er sich mit Gesichtsmaske in einer Mischung aus ethnischer
(z. B. Bastrock) und US-amerikanischer (z. B. Markenturnschuhe) Bekleidung in einem Käfig auf öffentlichen
Plätzen und in Museen in den USA, Spanien, Großbritannien und Australien ([MoMA
2022]).
Dem Publikum wurde mitgeteilt, dass es sich in dem Käfig um zwei vermeintlich gerade neu entdeckte
Ureinwohner*innen von der mexikanischen Insel Guatinau handelte, also um Guatinauer*innen. Die Inszenierung
parodierte die im 19. Jahrhundert etablierte Praxis, Menschen aus den Kolonien im Westen auszustellen. Nicht
wenige Beobachter*innen nahmen die Parodie für bare Münze und steckten den Künstler*innen beispielweise
Bananen durch die Gitterstäbe des Käfigs, um sie zu füttern. Die Performance ist in dem Film „The Couple in
the Cage: Guatinaui Odyssey“ von Coco Fusco und Paula Heredia (1993) dokumentiert. [
24
] In diversen Interviews lässt der Film das Publikum zu Wort kommen und offenbart dabei ein hohes
Ausmaß an Stereotypisierung von Schwarzen, Indigenen und People of Color (engl. BIPoC: Black, Indigenious
and People of Color).
Die Performance bot dem Publikum die Möglichkeit, sich für einen Dollar mit den „Eingeborenen“ fotografieren
zu lassen und für 50 Cent die „Eingeborenen-Frau“ für sich tanzen zu lassen – womit nicht nur die
Objektifizierung, sondern auch die Sexualisierung solcher kolonialen Menschenausstellungen einbezogen wurde.
In der Rezeption wurde diese Kunst-Performance oft als umgekehrte Ethnografie (engl. reverse
ethnographie) verstanden, in der nicht die „fremde“ Kultur, sondern die eigene westliche Kultur zum Objekt
der Betrachtung wird ([Martínez-Sáez 2018]).
Die US-amerikanisch-kubanische Künstlerin, Autorin und Kuratorin Coco Fusco (https://www.cocofusco.com/) berichtet, dass sie bis heute täglich
auf die Käfig-Performance angesprochen wird ([MoMA 2022]). Sowohl Fusco
als auch ihr mexikanischer Künstler-Kollege Guillermo Gómez-Peña (https://www.guillermogomezpena.com/) haben ein
umfassendes Werk vorgelegt, in dem Performance-Kunst eine wichtige Rolle spielt und Fragen rund um Post- und
Dekolonialismus und Rassismus oft im Zentrum stehen. Diese Themen sind im Kontext von Sexualität von großer
Bedeutung, da Rassifizierung, Exotisierung und Fetischisierung oft Hand in Hand gehen.
Narcissister: “The Dollhouse” (2011)
Narcissister: “The Dollhouse” (2011)
Narcissister verschmilzt in ihrem Künstlerinnennamen den „Narzissmus“ und die „Sister“. Die in New
York lebende Künstlerin hat jüdisch-marokkanische und afroamerikanische Wurzeln. Ihre Identität hält sie
geheim, tritt in ihren Performances stets mit einer puppenhaften Gesichtsmaske, auffälligen Perücken und oft
mit einem kraushaarigen Schamhaar-Toupet auf. Auf ihrer Website beschreibt sie ihren künstlerischen Ansatz
so [
25
]:
Narcissister, my character, employs humor and spectacle to explore gender, racial identity, and sexuality.
As Narcissister, I wear stripper gear, pneumatic breasts, outlandish wigs, and trompe l’oeil costumes to
deconstruct stereotypical representations. […] Through Narcissister, I question fetishism, particularly
sexual fetishism, which is notorious in its fixing of racist and gendering stereotypes. Rather than abandon
this contaminated site, I dive headlong into the muck, into the depths of the fantasy and fetish itself, to
expose and deconstruct their power.
In ihrer Arbeit verbindet Narcissister in furioser Weise Elemente von Burlesque, Striptease und
afrikanischem Tanz, Werbe- und Grafik-Design, Video- und Performance-Kunst. Ihre Grenzgänge führen dazu,
dass sie zuweilen zu hören bekommt, ihre Arbeiten seien für den Entertainment-Sektor zu anspruchsvoll und
für die Kunstszene zu populärkulturell ([Barber 2020]: 21). Sie
dokumentiert Aufnahmen ihrer Performances und weitere künstlerischer Arbeiten auf Ihrer Website (https://www.narcissister.com/), ihrem Instagram-Account (https://www.instagram.com/therealnarcissister)
und Vimeo-Kanal (https://vimeo.com/user6671233).
In ihrer Performance „Every Woman“ (2008) zeigt sie beispielsweise einen umgekehrten Striptease: Sie tritt
nackt nur mit Gesichtsmaske, Afroperücke und Schamhaartoupet auf die Bühne und tanzt zu Chaka Khans Discohit
„I’m Every Woman“ (1978). [
26
] In Anspielung an Carolee Schneemanns „Interior Scroll“ zieht sie dann nach und nach Kleidungsstücke
und Strümpfe aus ihrer Vagina und bekleidet sich damit. Die Performance ist ein Kommentar zur
Objektifizierung und Fetischisierung insbesondere auch schwarzer Frauen und eine Parodie auf den Songtext,
der beginnt mit „Whatever you want, whatever you need. Anything you want done baby, I’ll do it naturally.
Cause I’m every woman. It‘s all in me, it‘s all in me” ([Barber 2020]).
In ihrer Performance „Hot Dog“ verwandelt sie sich von einem überdimensionalen Hot Dog in die heiße
Bedienung im Stripper*innen-Look, deren Brüste Senf und Ketchup spenden. [
27
]
Ihre Performance „The Dollhouse“ bzw. “Upside Down” (2011) zeigte sie an verschiedenen Veranstaltungsorten
und schließlich auch in der populären Fernsehsendung „America’s Got Talent“ [
28
], dem US-Pendant von „Deutschland sucht den Superstar“. In der Dollhouse-Performance tanzt sie vor
einem Puppenhaus und verkörpert dabei selbst eine Wendepuppe. Auf dem Kopf trägt sie zwei schwarze
Gesichtsmasken, sodass sie in Vorder- und Hinteransicht das Publikum aus ihrer Puppenmaske anschaut. Dann
springt sie in den Handstand, die Röcke fallen nach unten und zwischen ihren Beinen erscheint eine weitere,
weiße Gesichtsmaske. Die tänzerisch-akrobatische Performance, in deren Verlauf sie auch auf dem Puppenhaus
steht, erhält zusätzliche Bedeutungsebenen durch die wechselnde Musik ([Barber
2020]).
Im Digitalzeitalter wird vor allem Mädchen und jungen Frauen oft vorgeworfen, sich übermäßig selbstverliebt
in Selfies und auf Social-Media-Profilen darzustellen ([Döring 2019b]).
In diesem Kontext sind die öffentlichen Selbstdarstellungen von Narcissister relevant, die sexualisierte
Darstellungsnormen parodieren und offensive Selbstliebe mit Maskierung verbinden.
Cassils: “Up to and Including their Limits” (2020)
Cassils: “Up to and Including their Limits” (2020)
Das Gardiner Museum (https://www.gardinermuseum.on.ca/)
im kanadischen Toronto hat einen großen Bestand an Keramikkunst, die in Glasvitrinen ausgestellt werden.
Davon inspiriert, ließ Cassils für sich selbst eine riesige transparente Plexiglasbox herstellen.
Während der 2020 erstmals im Gardiner Museum gezeigten Performance „Up to and Including their Limits“ hängt
Cassils, nur mit Shorts bekleidet, bäuchlings an einem Gurt von der Decke und schwingt zwischen den Wänden
der Box. Die Wände der Box sind von innen mit einer dicken Schicht von frischem Ton bedeckt. Cassils Aufgabe
besteht darin, in möglichst kurzer Zeit mit Händen und Füßen den Ton von einer der Wände der Box abzukratzen
und unter sich zu einem Haufen zu sammeln. Das um die Box stehende Publikum beobachtet diesen körperlich
anstrengenden Vorgang und hört Cassils Keuchen und Stöhnen. Ziel der Performance ist es, am Ende auf dem
Lehmhaufen zu stehen und durch die freigekratzte Scheibe vom Publikum gesehen werden zu können. Cassils
(https://www.cassils.net/) versteht sich als nichtbinäre trans
Künstler*in, der*die den eigenen Körper zum Material und zur Hauptfigur der Kunst macht. So ist „Up to and
Including their Limits“ eine Metapher für den kräfteraubenden Weg von trans Personen, Sicherheit und
Sichtbarkeit zu erlangen und nicht länger in der Luft zu hängen.
Die Performance ist gleichzeitig eine Hommage an die im Vorjahr der Aufführung verstorbene Malerin und
Performance-Künstlerin Carolee Schneemann, deren berühmte Performance „Interior Scroll“ oben bereits
vorgestellt wurde. Eine weitere bekannte Performance von Schneemann war „Up to and Including her Limits“
(1973–1976). [
29
] Hier hing Schneemann bäuchlings nackt an einem Gurt von der Decke. Links, rechts und unter ihr
befand sich jeweils eine große Leinwand. Sie hielt bunte Malstifte in der Hand und zeichnete damit im freien
Schwingen auf diese Leinwände, wodurch sich ein chaotisch anmutendes, buntes Liniengeflecht ergab.
Schneemanns Performance war ein Kommentar auf die Aktionskunst von Jackson Pollock: Während der sich
ungehindert um die Leinwand herumbewegen und diese durch spontane Körperbewegungen mit Farbklecksen und
Linien gestalten konnte, befand sie sich im Korsett der Aufhängung, die ihre Bewegungsfreiheit einschränkte
und damit die Situation von Künstlerinnen in der männlich dominierten Kunstwelt symbolisierte. Cassils
übersetzte diese klassische feministische Performance in eine Performance aus nichtbinärer trans
Perspektive. [
30
]
Weitere Performances von Cassils umfassen „Inextinguishable Fire“ (2007–2015), hier lässt sich Cassils vor
Publikum anzünden, um durch diesen kontrollierten Feuer-Stunt das Publikum an Gewaltopfer zu erinnern. In
der Performance „Cuts: A Traditional Sculpture“ (2011–2013) setzt sich Cassils das Ziel, im Verlauf von 23
Wochen durch hartes Training und strikte Diät 23 Pfund Muskulatur aufzubauen. Am Ende posiert Cassils für
Fotos mit einem Körper, der transmaskuline Muskularität, eine weibliche Brust und knallroten Lippenstift
zeigt [
31
], also einerseits den Hype um Körperoptimierung spiegelt, gleichzeitig aber auch geschlechtliche
Binarität unterläuft ([Vaccaro 2018]).
Fazit
Die zehn vorgestellten Kunst-Performances aus den letzten 60 Jahren thematisieren Sexualität und Geschlecht
in einer Weise, die für heutige Debatten in vielerlei Hinsicht aktuell ist. Themen der sexuellen
Objektifizierung von Frauen (z. B. „Cut Piece“) und der sexuellen Gewalt (z. B. „Rhythm 0“), aber auch der
weiblichen Selbstbestimmung als Sexualsubjekt (z. B. „Interior Scroll“, „A Public Cervix Announcement“)
werden behandelt. Performances können für die Sichtbarkeit marginalisierter Identitäten sorgen, etwa im
Hinblick auf sexuelle Vielfalt (z. B. „NAILED!“) und nichtbinäre Geschlechtlichkeit (z. B. „Up to and
Including their Limits“). Auch eine Auseinandersetzung mit Sexualisierung und Fetischisierung von BIPOC
findet statt (z. B. „The Couple in the Cage“, „The Dollhouse“). Das Ausloten des Verhältnisses zwischen
Künstler*in und Publikum ist besonders spannungsgeladen in Performances mit sexueller Aufladung, sei es,
dass Künstler*innen dem Publikum das Heft des Handelns in die Hand geben (z. B. „Cut Piece“, „Rhythm 0“),
oder das Publikum zum Objekt machen (z. B. „Seedbed“).
Es war nicht Ziel des vorliegenden Beitrags, die einzelnen Performances umfassend kunsttheoretisch zu
reflektieren oder Verbindungen zu verwandten Kunstformen wie Konzeptkunst oder Körperkunst zu diskutieren.
Komplexe Fragen der autobiografischen Ebene (z. B. Goodman 2011) und feministischen Dimension (z. B. [Striff 1997]) von Performance-Kunst werden nur angerissen. Auch
Entwicklungslinien der Performance-Kunst über die letzten Dekaden werden nur angedeutet. So ist die
Performance-Kunst trotz ihrer ursprünglich antikommerziellen Haltung inzwischen vielfach kommerzialisiert.
Foto-Dokumente von bekannten Performances erzielen dementsprechend hohe Preise. Ein Foto von VALIE EXPORTS
Poster-Performance „Aktionshose: Genitalpanik“ wurde im Jahr 2015 beispielsweise für 56 000 Euro verkauft.
[
32
] Auch die Distanz zum etablierten Kunstmarkt hat sich reduziert. So ist Performance-Kunst inzwischen
in den etablierten Museen und Galerien vertreten, wie die Fußnoten im vorliegenden Beitrag belegen. Im
Digitalzeitalter werden Performances zunehmend Bestandteile interdisziplinärer Medienkunst. Nicht weiter
vertieft werden konnten hier auch die Fragen, ob und wie Kunst-Performances – in mehr oder minder stark
modifizierter Form – sinnvoll re-inszeniert und wie sie dokumentiert werden können. So führte Marina
Abramović im November 2005 im Guggenheim Museum die Performance-Serie „Seven Easy Pieces“ in sieben
aufeinander folgenden Abenden auf. Dazu gehörten Neuinterpretationen von EXPORTs „Aktionshose: Genitalpanik“
(hier wurde das Live-Publikum mit der Guerilla-Pose und der Maschinenpistole konfrontiert) und von Acconcis
„Seedbed“ (ohne Masturbation und sexuell explizite Fantasien). Eine Ausstellung und ein Symposium im
Kasseler Fridericianum widmete sich Fragen der Dokumentation und Wiederaufführung von Kunst-Performances.
[
33
]
Performance-Kunst ist ein in der Sexualforschung bislang wenig untersuchter Gegenstand, hier sind empirische
Studien zur Wahrnehmung und Wirkung möglich. Im Rahmen der Sexualpädagogik können ausgewählte
Kunst-Performances integriert werden, um Sexuelle Bildung um künstlerische Perspektiven zu erweitern. Wie
dies im Einzelnen umzusetzen ist und welche Chancen für sexuellen Erkenntnisgewinn und Sexuelle Bildung sich
daraus ergeben, könnte in zukünftigen Projekten genauer ermittelt werden.