Dr. Georg Schomerus
Auch in Deutschland sind psychische Störungen unterversorgt. Gemessen an den vielfältigen, wirkungsvollen Möglichkeiten der Behandlung erhalten zu viele Betroffene gar keine Hilfe [1] und diejenigen, die Hilfe aufsuchen, tun dies meistens zu spät – bei Depressionen im Schnitt erst zwei Jahre nachdem die Symptome begonnen haben [2]. Angesichts der hohen Prävalenz psychischer Erkrankungen, ihrer wachsenden Bedeutung bei Krankschreibungen und Frühberentungen und nicht zuletzt wegen des durch sie verursachten Leides muss man fragen, wie man die Inanspruchnahme der vorhandenen Hilfen verbessern könnte. Warum zögern so viele Betroffene, professionelle Hilfe aufzusuchen? Oft wird in diesem Zusammenhang auf das Stigma psychischer Erkrankungen verwiesen, das den Weg zur raschen Hilfe versperre. Schließlich leuchtet es unmittelbar ein, dass man in Erwartung von Benachteiligung und Diskriminierung als zukünftiger Psychiatriepatient zögert, bevor man sich auf den Weg zum Psychiater macht. Das Stigma könnte ein ziemlich großer Stein auf dem Weg zur Hilfe sein.
Von diesen Überlegungen ausgehend haben eine Reihe neuerer Studien die Rolle der Stigmatisierung für die Bereitschaft, professionelle Hilfe für psychische Erkrankungen in Anspruch zu nehmen, untersucht. Die bisher vorliegenden Ergebnisse sind es wert, genauer betrachtet zu werden – wo kann man ansetzen, um die Steine aus dem Weg zu räumen?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie das Stigma psychischer Erkrankungen den Weg zur Hilfe erschweren könnte. Zunächst ist es dabei wichtig, das Schlagwort „Stigma” genauer zu definieren. Die amerikanischen Soziologen Link und Phelan stellen die Stigmatisierung als Prozess dar: Er beginnt mit der Wahrnehmung und Benennung eines Unterschieds (Labeling), und führt, indem dieses Label negative Stereotype und Vorurteile provoziert, zu Ausgrenzung und Diskriminierung [3]. Stigmatisierung läuft also auf eine Benachteiligung der Betroffenen hinaus. Diese Diskriminierung wiederum kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen: Auf der individuellen Ebene, wenn das Verhalten eines einzelnen Menschen einen psychisch Kranken benachteiligt (individuelle Diskriminierung), oder auf der strukturellen Ebene, wenn Strukturen oder Regeln existieren, die systematisch psychisch Kranke benachteiligen (strukturelle Diskriminierung) [4]. Schließlich kann eine Person die negativen Einstellungen ihrer Umgebung verinnerlicht haben, sie im Falle einer Erkrankung dann auf sich selbst anwenden und sich damit selbst abwerten und diskriminieren (Diskriminierung durch Selbststigmatisierung).
Man würde erwarten, dass die Angst vor der Stigmatisierung durch andere das größte Hindernis auf dem Weg zur Hilfe darstellt – der größte Stein also auf der Ebene der individuellen Diskriminierung zu finden ist. Diese Form der Diskriminierung ist deshalb auch in den meisten Studien untersucht worden. Die Ergebnisse lassen allerdings keine plakativen Aussagen zu. So fanden mehrere Untersuchungen in den USA, Australien und Deutschland keinen Zusammenhang zwischen der erwarteten Stigmatisierung durch andere und der Bereitschaft, professionelle Hilfe aufzusuchen [5]
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[8]. Auf der anderen Seite konnte gezeigt werden, dass antizipierte Stigmatisierung mit frühzeitigen Behandlungsabbrüchen bei ambulanten Patienten mit depressiven Störungen assoziiert ist [9], also offenbar die Compliance verschlechtert. Auch konnten Barney et al. in Australien zeigen, dass die Erwartung, von einem Therapeuten herablassend oder abschätzig behandelt zu werden, zumindest schwach mit einer geringeren Bereitschaft assoziiert war, diesen Therapeuten aufzusuchen [10]. Hinsichtlich der Stigmatisierung durch andere scheint es also darauf anzukommen, worauf sich der Effekt bezieht (kaum Einfluss auf das Aufsuchen von Hilfe, aber auf die Fortführung einer bereits begonnenen Therapie), und wer stigmatisiert (abschreckende Wirkung herablassender Therapeuten). Insgesamt ergibt sich jedoch der Eindruck, dass (um im Bild der Überschrift zu bleiben) zumindest die Angst vor den Steinen auf dem Weg kein starker Hinderungsgrund ist, psychiatrische Hilfe aufzusuchen.
Wenn jemand überlegt, professionelle Hilfe für ein seelisches Leiden in Anspruch zu nehmen, dann wird er wohl oder übel zunächst mit seinen eigenen Einstellungen zu psychisch Kranken und psychiatrischer / psychotherapeutischer Hilfe konfrontiert. Deshalb kann auch die Selbststigmatisierung ein Hindernis auf dem Weg zur Hilfe darstellen. Diesbezüglich gibt es weniger Untersuchungen, aber im Gegensatz zur Diskriminierung durch andere sind hier die Befunde einheitlich. So konnte eine amerikanische Studie an Studenten zeigen, dass die Zustimmung zu Aussagen wie „Ich würde mich minderwertig fühlen, wenn ich einen Therapeuten um Hilfe bitten würde” negativ mit dem späteren Aufsuchen von therapeutischer Hilfe korreliert war [11]. Auch in der oben erwähnten Studie von Barney et al. war die Bereitschaft Hilfe zu suchen deutlich geringer, wenn die Probanden der Aussage zustimmten, dass es ihnen peinlich sei zu einem Therapeuten zu gehen [10]. Die ebenfalls oben zitierte deutsche Studie zeigte, dass im Gegensatz zur erwarteten Ablehnung durch andere eine eigene ablehnende Haltung gegenüber psychisch Kranken sehr wohl die Bereitschaft verringerte, mit einer depressiven Störung zum Psychiater zu gehen. Dieses Ergebnis war unabhängig davon, ob und wie stark die Probanden selbst an einem depressiven Syndrom litten [7]. Gefühle von Scham und Minderwertigkeit sowie die eigene Ablehnung anderer Leute, die Hilfe suchen, machen es den Betroffenen offenbar schwer sich zu einer professionellen Behandlung durchzuringen. Um noch einmal das Bild der Überschrift zu verwenden: Selbststigmatisierung scheint ein gewichtiger Stein für die Hilfesuchenden zu sein, dieser Stein liegt allerdings nicht auf dem Weg, sondern eher im Rucksack der Betroffenen.
Schließlich ist die Möglichkeit augenfällig, dass die Hilfesuche durch strukturelle Diskriminierung behindert werden kann: Wer professionelle Hilfe sucht, ist darauf angewiesen, dass diese Hilfe vorhanden und zugänglich ist. Der Weg zur Hilfe kann zum Nachteil der Patienten zu lang oder zu schwierig sein [12]. Zum Einfluss dieser Ebene der Diskriminierung auf das Hilfesuchverhalten gibt es allerdings kaum Studien, Versorgungsforschung ist auch in diesem Zusammenhang dringend notwendig [13]. Umfragen in der Allgemeinbevölkerung zeigen aber, dass psychische Erkrankungen bei der Mittelvergabe im Gesundheitswesen in der Öffentlichkeit weit niedrigere Priorität haben als körperliche [14]. Es ist deshalb zu befürchten, dass auch in der reichen Bundesrepublik psychisch Kranke durch fehlende Behandlungsmöglichkeiten gegenüber anderen Patienten benachteiligt werden, wenn, wie im Augenblick, knapper werdende Mittel Entscheidungen über die Verteilung der vorhandenen Ressourcen erzwingen.
Es ergibt sich also ein differenziertes Bild: Die Angst vor der Stigmatisierung durch andere scheint für die Entscheidung zu psychiatrischer Hilfe weit weniger wichtig zu sein als erwartet, behindert jedoch die Fortsetzung einer einmal begonnenen Therapie. Aber auch das Aufsuchen von Hilfe wird durch das Stigma erschwert: Als „Stein im Rucksack” in Form von Selbststigmatisierung, und möglicherweise auch als „Stein auf dem Weg” in Form von struktureller Diskriminierung psychisch Kranker. Die wichtige Rolle der Selbststigmatisierung zeigt, dass die Bekämpfung des Stigmas psychischer Erkrankungen nicht nur in großen, öffentlichen Kampagnen erfolgen muss, sondern auch in jedem Einzelkontakt. Dabei sind nicht nur Psychiater und Psychotherapeuten aufgerufen, den Betroffenen eine positive, wertschätzende Haltung sich selbst gegenüber zu vermitteln, sondern auch die Hausärzte und die Vertreter anderer Disziplinen, zu denen die Suche nach Hilfe meistens eher führt.