B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2009; 25(3): 99
DOI: 10.1055/s-0028-1098924
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© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

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Publication Date:
17 June 2009 (online)

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    Liebe Leserinnen, liebe Leser,

    als im Jahre 1967 der Kardiologe und Rehabilitationsmediziner Prof. Dr. Max Halhuber ärzt­licher Direktor der Klinik Höhenried am Starnberger See in Bayern wurde, konnte noch niemand ­ahnen, wie sehr sich die Struktur der kardiologischen Rehabilitationskliniken in Deutschland ­verändern sollte. Sein 1969 erschienener Artikel in der Zeitschrift der Deutschen Rentenver­sicherung über die Anschlussheilbehandlung nach Herzinfarkt war der Startschuss für eine ­umfassende Nachsorge und die Strukturierung eines interdisziplinären kardiologischen Reha­bilitationsteams, in der die dosierte, kontrollierte und überwachte Bewegungstherapie eine ­herausragende Rolle spielte. Es war die Geburtsstunde der wissenschaftlich fundierten kardio­logischen Sporttherapie innerhalb einer Rehabilitationsklinik.

    Die Sportkardiologie entwickelte sich dann explosionsartig Mitte der 80er-Jahre mit der Erweiterung der kardiologischen Funktionsdiagnostik (Koronarangiografie, Myokardszintigrafie, ­Einschwemmkatheter, Echokardiografie, Telemetrie, 24 h-Bandspeicher-EKG, EKG-überwachtes Ergometertraining usw.). Die Beurteilung von hämodynamisch wirksamen Stenosen, der linksventrikulären Pumpfunktion, potenziell lebensbedrohlichen belastungsabhängigen Herzrhythmusstörungen und der Belastungsmyokardischämie ermöglichten eine bessere Abschätzung des Risikos einer körperlichen Belastung und erlaubten differenziertere Dosierungsangaben bei ­Patienten nach Ballondilatation und / oder Revaskularisierung, Herzklappenersatz und schließlich bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz. Es eröffneten sich völlig neue Perspektiven in der Methodik von Freizeitsportarten für den Herzkranken.

    Die Reformen im Gesundheitswesen haben die Sporttherapie gezwungen, noch umfassendere Bewegungstherapieprogramme zu entwickeln und diese an die verkürzten Aufenthaltsdauern im Akuthaus und in der Rehabilitationsklinik anzupassen. Die Sporttherapie war herausgefordert, ihre Effizienz unter Beweis zu stellen, denn es ging um die weitere Positionierung des Sportwissenschaftlers in einer Klinik. Vor 25 Jahren hatten wir eine Gesamtdauer (Akuthaus + Rehabilitation) von 10–12 Wochen, heute wird der Patient nach 1 Woche Akuthaus und 3–4 Wochen Rehabilitation nach Hause entlassen. Engagierte Sportwissenschaftler und der Sporttherapie aufgeschlossen gegenüberstehende Mediziner haben diesen Spagat in Zusam­men­arbeit mit Universitäten exzellent gelöst. Die groß angelegte PROTOS-Studie im Jahre 2000 über die Effekte der Rehabilitation an 15 deutschen Rehabilitationskliniken hat dieses eindrucksvoll belegt.

    Bereits 1992 haben wir mit einer kleinen Gruppe von klinisch tätigen Sportlehrern des DVGS ­innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf­erkrankungen e. V. (DGPR) auf der Jahrestagung in Waldkirch die ersten Richtlinien für die ­Organisation und Dosierung der stationären Bewegungstherapie mit Herzpatienten veröffentlicht.

    Diese bildeten die Grundlage für unsere erweiterten Trainingsempfehlungen im Jahre 2003, die dann 2007 in die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) und der DGPR e. V. integriert wurden. Vier Mitglieder unserer Projektgruppe „Sport- und Bewegungstherapie in der Kardiologie“ des DVGS e. V. wurden in diese Leitliniengruppe unter der Leitung des DRV-Bund berufen. Darauf sind wir sehr stolz.

    Bei genauerer Betrachtung der Leitlinien und Trainingsempfehlungen wird man feststellen, dass sich diese auf alle internistischen Krankheitsbilder übertragen lassen. Die vermehrte körperliche Aktivität und sportliche Betätigung wird das zentrale Thema in der Gesundheitspolitik und der Sekundärprävention. Ein Blick in die Kennzahlen des Gesundheitsberichts des Bundes verdeutlicht dieses. 30 % der deutschen Bevölkerung sind Raucher, 50 % sind übergewichtig, 40 % der über 35-Jährigen haben eine Hypertonie, 5 % + hohe Dunkelziffer sind Diabetiker und nur 13 % (!) erreichen das in den Leitlinien empfohlene Aktivitätsniveau, obwohl 30 % der deutschen Bevölkerung regelmäßig sportlich aktiv sind.

    Bei der Analyse der ersten 100 Einweisungsdiagnosen im Jahre 2007 in deutsche Krankenhäuser und Rehabilitationskliniken fällt auf, dass ca. 40 % die Folgen von Gefäßerkrankungen, des metabolischen Syndroms und des Diabetes mellitus Typ 2 sind und damit ca. 65 % der Gesamtkosten im Gesundheitswesen verursachen. Ein herzinsuffizienter Patient hat durchschnittlich 33 Arztkontakte pro Jahr, wird alle 3 Monate mit Dekompensationszeichen ins Krankenhaus eingeliefert und kostet die Gesetzliche Krankenversicherung ca. 12 000 € pro Jahr ohne Medikamente.

    Die WHO brachte es in ihrer „Globalen Strategie“ bereits im Jahre 2004 auf den Punkt: Nichtrauchen, vermehrte körperliche Aktivität und physiologische Ernährung reduzieren 80 % der Herzerkrankungen, 90 % des Diabetes mellitus Typ 2 und 30 % der Krebserkrankungen. Die ­verhaltens- und verhältnisbedingten Erkrankungen werden also die Herausforderung der ­Gesundheitswissenschaften und der Sport- und Freizeitpädagogik in den nächsten 10–15 Jahren sein.

    Trainingsempfehlungen und Dosierungsangaben für ein kontrolliertes und überwachtes Ausdauer-, Kraft- und Koordinationstraining haben wir genug. Sie sind seit über 30 Jahren bekannt, klinisch erprobt, validiert und haben sich in der praktischen Umsetzung bewährt. Wir brauchen in der kardiologischen Rehabilitation keine neue Herzfrequenzformel und kein neues Laktatschwellenkonzept mehr. Wir müssen das, was wir haben, konsequent umsetzen und müssen schon während der Anschlussrehabilitation einen wesentlich höheren Anteil für Strategien zur Aufrechterhaltung körperlicher Aktivität in das Gesamtkonzept der Sport- und Bewegungs­therapie aufnehmen. Eine 2003 von uns vorgestellte Studie über die Methodik und Dosierung der Bewegungstherapie an deutschen Reha-Kliniken hat die immer noch bestehenden Defizite transparent gemacht. Wir haben noch längst nicht umgesetzt, was wir bereits seit langer Zeit wissen und auch offen und äußerst konstruktiv diskutieren.

    Mit den vorliegenden Beiträgen möchten wir wieder die Grundlagen der kardiologischen Sporttherapie ins Bewusstsein bringen, neue Wege aufzeigen und zu weiteren Diskussionen anregen.

    Ihr
    Uwe Schwan