Gesundheitswesen 2009; 71(2): 94-101
DOI: 10.1055/s-0028-1102939
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die ambulante vertragsärztliche Versorgung aus der Perspektive der Versicherten – Methodik und Ergebnisse der KBV-Versichertenbefragung 2006: Inanspruchnahme, Versorgung beim Hausarzt, Bereitschafts- und Notdienstpraxen

Statutory Ambulatory Medical Care through the Eyes of the Health Insurance Beneficiaries – Methods and Results of the 2006 NASHIP Health Insurance Beneficiary Survey: Care Utilisation, Primary Care, and Emergency Medical ServicesG. Blumenstock 1 , 4 , K. Balke 2 , B. Gibis 2 , D. von Stillfried 3 , A. Walter 2 , H. K. Selbmann 4
  • 1Institut für Medizinische Biometrie der Universität Tübingen
  • 2Kassenärztliche Bundesvereinigung, Berlin
  • 3Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin
  • 4Institut für Medizinische Informationsverarbeitung der Universität Tübingen
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Publication History

Publication Date:
28 January 2009 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Erhebung: Mittels einer 2006 erstmalig durchgeführten repräsentativen Versichertenbefragung hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung das Ziel verfolgt, valide Informationen über die Beurteilung der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung aus Sicht der Versicherten zu erhalten. Die Befragung sollte bei den Patienten die Inanspruchnahme, die Erfahrungen und das Ausmaß der Zufriedenheit mit der ambulanten Versorgung ermitteln und Hinweise für die Weiterentwicklung versichertenbezogener Dienstleistungsangebote liefern.

Methodik: Im Zeitraum vom 22. Mai bis 8. Juni 2006 wurden bundesweit 4 315 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zwischen 18 und 79 Jahren mittels computergestützter telefonischer Interviews (CATI) befragt. Der Fragenkatalog beinhaltete 51 Fragen aus sechs Themenfeldern und umfasste neben einem Kern-Fragensatz einzelne Vertiefungsfragen und ausgewählte Spezialthemen. Ein Schwerpunkt der Befragungsrunde 2006 war unter anderem die ambulante Bereitschafts- und Notdienstversorgung. Die Auswertung der Erhebung erfolgte gewichtet unter Anpassung an die amtliche Statistik nach Alter und Geschlecht.

Ergebnisse: 82% der Befragten waren in den letzten 12 Monaten zu einem Arztbesuch in einer Praxis, und 93% aller Befragten gaben an, einen Hausarzt als erste Anlaufstation bei Krankheit oder medizinischen Fragen zu haben. Bezogen auf alle 4 315 Befragten, lag die mittlere Zahl aller Praxiskontakte bei 5 Besuchen pro Jahr. Über 90% der Befragten, die einen Hausarzt haben, erreichen innerhalb von 20 Minuten dessen Praxis. Dass ihr Hausarzt auch Hausbesuche macht, ist für insgesamt 61% der Befragten mit Hausarzt sehr wichtig oder wichtig. 90% derer, die in den letzten 12 Monaten ihren Hausarzt aufgesucht haben, bewerten die medizinische Versorgung durch den Hausarzt als sehr gut oder gut. Die Anlaufstellen bei ärztlichem Hilfebedarf außerhalb der Praxiszeiten variieren deutlich nach Region und nach dem Alter der Befragten. Während jüngere Befragte das Krankenhaus als erste Anlaufstation nennen, wird mit zunehmendem Alter der Hausarzt häufiger angegeben. Insgesamt wenden sich 29% aller Befragten primär an ein Krankenhaus oder an eine Klinikambulanz, weitere 25% an den ärztlichen Bereitschafts- oder Notdienst und knapp 16% an ihren Hausarzt. Den ärztlichen Bereitschafts- oder Notdienst für sich oder einen nahen Angehörigen schon einmal in Anspruch genommen haben 61% der Befragten. In 3 von 5 Fällen sind die Patienten beim letzten Kontakt selbst zur Bereitschafts- oder Notdienstpraxis gefahren. Die Versorgung durch die ärztliche Bereitschafts- oder Notdienstpraxis bewerten insgesamt 74% der Patienten als sehr gut oder gut. Im Falle längerer Wartezeiten auf den Arzt oder in der Praxis fallen die Bewertungen weniger günstig aus.

Schlussfolgerung: Die Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist Ausdruck einer gewachsenen Dienstleistungs- und Patientenorientierung. Sie liefert belastbare Informationen zur ambulanten ärztlichen Versorgung aus Sicht der Versicherten und zeichnet ein von hoher Zufriedenheit der Versicherten und großem Vertrauen in die Kompetenz ihrer Ärzte gekennzeichnetes Bild einer gesicherten und wohnortnahen hausärztlichen Versorgung. Auch die Bewertung der Versorgung durch den ärztlichen Bereitschafts- und Notdienst stellt sich insgesamt positiv dar, lässt zugleich aber noch weitere Verbesserungspotenziale erkennen.

Abstract

Objective: The aim of this study was to obtain valid information on the delivery of ambulatory medical care from the point of view of the health insurance beneficiaries. The National Association of Statutory Health Insurance Physicians (NASHIP) conducted in 2006 for the first time a nationally representative telephone survey. The survey set out to gather information on health care utilisation, patients’ experiences and satisfaction with care delivery, and to provide an indication for the further development of the services offered.

Methods: Between 22 May and 8 June 2006, a random sample of 4 315 inhabitants from 18 to 79 years of age was interviewed using a computer-assisted telephone interview (CATI). The questionnaire included 51 questions relating to six topics, and consisted of a core set of questions and supplementary questions dealing with further details or special issues. One section of the 2006 survey focused on emergency medical services. In the analysis, samples were weighted to reflect the distribution of the population by age and sex.

Results: 82% of survey participants have visited a doctor's office in the last 12 months, and 93% indicated to have a regular general practitioner (GP) they consult for medical problems or health advice. Referring to all respondents, the mean number of consultations in a doctor's office was about 5 per year. Over 90% of respondents having a regular GP arrive at the office within 20 min, and for 61% home visits by their regular doctor are very important or important. 90% of respondents having seen the GP during the last 12 months assess the medical care received as very good or good. The places contacted when the regular office is closed are clearly varying by region and respondent's age. Whereas younger people primarily consult the hospital emergency department, the importance of the general practitioner in the case of an emergency increases with age. Overall, 29% preferentially turn to a hospital or hospital emergency department, another 25% to outpatient emergency medical services, and scarcely 16% to their regular GP. 61% of survey participants or their close relatives have already utilised emergency medical services (EMS). Regarding the last case of a medical emergency, in 3 out of 5 cases patients went themselves to the emergency service. A total of 74% of patients assess the care received by the emergency medical service as very good or good. Evaluations are less favourable in the event of prolonged waiting time for the emergency medical doctor at home or in the EMS office.

Conclusion: The NASHIP health insurance beneficiary survey reflects a broadening patient and service orientation and provides valid information on ambulatory medical care through the eyes of the insurance beneficiaries. The survey depicts high overall satisfaction with primary care, a high degree of trust in the doctor's medical competence, and easily accessible services. Patient evaluations of outpatient emergency medical care are mainly positive, but still show room for improvement.

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Korrespondenzadresse

Dr. G. Blumenstock

Institut für Medizinische Biometrie der Universität Tübingen

Westbahnhofstr. 55

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Email: gunnar.blumenstock@med.uni-tuebingen.de