Aktuelle Dermatologie 2009; 35(7): 287-289
DOI: 10.1055/s-0029-1214809
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Epithetik – gestern und heute

Epithetik (Anaplastology) – Yesterday and TodayE.  Stoiber1
  • 1vormals Konservatorin der Moulagensammlung des Universtitätsspitals Zürich
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Elsbeth Stoiber

Kniebrechstraße 6
CH-8135 Langnau am Albis

Email: elsbeth.stoiber@bluewin.ch

Publication History

Publication Date:
01 July 2009 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Entstellungen des Gesichtes können mit erheblichen psychosozialen Folgen einhergehen. Seit Jahrtausenden sind Anstrengungen nachweisbar, fehlende oder verformte Teile des Gesichtes, beispielsweise Augen, Nase und Ohren, durch Fremdmaterialien abzudecken oder zu ersetzten. Die Epithetik setzt sich mit modernen Techniken auseinander. Dieser Bericht einer früheren Epithetikerin und Moulageurin beschreibt erlebte Geschichte dieses (Kunst-)Handwerks in der Schweiz [1].

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Abstract

Disfigurement of the face can result in severe psychologic and social constraint. Since millennia, missing or deformed areas of the face, especially eyes, nose and ears, are covered or replaced by the use of various materials. Epithetik (Anaplastology) uses modern technology. This eye-witness account by a former Epithetician and Moulageuse reports the history of this craft in Switzerland.

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Einleitung

Einzigartiges Erkennungsmerkmal des Menschen ist sein Gesicht, solange dessen Strukturen unversehrt sind. Der Wunsch, das Antlitz eines bedeutenden Menschen oder eines geliebten Angehörigen nach dessen Tod zu bewahren, fand in der Totenmaske seine Erfüllung. In der vornehmen römischen Gesellschaft war es Brauch, Wachsbildnisse von Verstorbenen im Atrium des Hauses aufzustellen und zu verehren. Dabei sah man im Bienenwachs den Träger einer überlieferten Unsterblichkeitssymbolik.

Jede Versehrtheit des Gesichtes infolge von Missbildungen, Krankheit oder Gewalteinwirkung wurde von der Gesellschaft als Entstellung wahrgenommen. Der unglücklich Betroffene wurde gemieden, teils aus Furcht vor Ansteckung, teils aus dem Unvermögen heraus, ihn ohne Grauen ansehen zu können. Das Anliegen, den Gesichtsversehrten durch die Nachbildung der ihm fehlenden Strukturen sozial zu rehabilitieren, hatte Vorrang vor dem Bestreben, die Funktionen des Gesichtsschädels wiederherzustellen.

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Frühe Geschichte der Epithesen

In vorchristlicher Zeit wurden mit Metallen und ihren Legierungen, mit Leder, Horn, Holz, Elfenbein oder Papiermaché Defekte an Gesicht und Schädel nachgebildet oder verdeckt.

Aus dem 16. Jahrhundert ist die Herstellung einer Nasenepithese, mit und ohne Bart, durch den Militärarzt Ambroise Paré überliefert, ebenso wie ein künstliches Auge, das an einem von der Ohrmuschel gehaltenen Draht befestigt war.

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Epithesen im 19. Jahrhundert

Erst im 19. Jahrhundert kamen Werkstoffe wie Kautschuk, Celluloid, Kunstharze, Gelatine als bevorzugtes Material der Heilstätte Hornheide/Münster sowie Mouladon, die Moulagenmasse der Dermatologischen Klinik Zürich, ein Bienenwachs-Harzgemisch, zur Anwendung. Für Gelatine-Epithesen musste durch einen Kunstgießer nach dem Wachsmodell eine 3-teilige Aluminium-Form hergestellt werden, die im Archiv verblieb. Aus dieser Form wurden in wöchentlichen Intervallen die Epithesen aus einer Mischung von Speise-Gelatine, Fischleim und Glyzerin gegossen und farblich angepasst. Die Befestigung geschah mittels einer hautfreundlichen Gummilösung. Die Vorteile der Mouladon-Epithesen lagen in der Unabhängigkeit von Metallgießern, in der langen Haltbarkeit und im natürlichen Aussehen dank der Moulagentechnik. Sie waren jedoch nicht unzerbrechlich.

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Epithetik im 20. Jahrhundert

Durch die großen Fortschritte in der Tumorchirurgie während der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten die Heilungsaussichten der Patienten verbessert werden, es entstanden jedoch große offene Defekte, die nur mit Hilfe neu entwickelter zahntechnischer Werkstoffe ästhetisch und funktionell befriedigend versorgt werden konnten. 1962 entdeckte ich an einer Spitalmesse in Zürich ein weichbleibendes Methylmetacrylat, Palamed, der Firma Kulzer Bad Homburg, das ich modifizieren konnte, um Zonen von weich bis hart in derselben Epithese vereinen zu können. Damit war die Herstellung kompliziertester Epithesen möglich geworden. Bei dieser Technik wird das Wachsmodell wie bisher modelliert und im eigenen Labor in eine 2 – 3-teilige Gipsform direkt in die Metallküvette zur späteren Polymerisation übergeführt. Epithesen mit weichen Zonen der Oberlippe und mit halbharten Regionen der Nase wurden, mit einem hautfreundlichen Adhäsiv versehen, das sich am Abend gut lösen lässt, an der Haut befestigt. So konnte der Patient die Brille wechseln. Die Suche nach anatomischen Verankerungen von Epithesen führte auch zu Misserfolgen. Es waren zum Beispiel eine sehr schlechte Haftung und Entzündungen bei ausgebohrten Knochenhöhlen im Warzenfortsatz zur Aufnahme eines Haltebalkens auf der Rückseite der Epithese öfter zu beobachten. Gut gelang hingegen die Montage von Orbital- und Nasen-Epithesen an einem Brillengestell, wobei im Falle von Acrylat-Epithesen eine chemische Verbindung entweder durch Aceton allein oder mittels eines Celluloidsteges und Aceton erreicht werde konnte.

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Fallbeispiele für Fortschritte der Epithesentechnik

Fall 1: Rezidivierende Basaliome der Kopfhaut waren in die Kalotte eingewachsen ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Epithetische Versorgung bei Kalottendefekt.

Der operativ entstandene Defekt bot keine Möglichkeit für ein Implantat und wurde äußerlich gedeckt. Das Epithesenmaterial musste zum Schutz des Gehirns über der Knochenlücke hart sein, jedoch einen weichen Kleberand zur Fixierung aufweisen. Die Anzahl der Ventilationslöcher wurde experimentell ermittelt und entsprechend der Verdunstung des auf der Innenseite entstehenden Kondenswassers festgelegt. Eine diesen Umstand berücksichtigende Perücke schloss die Versorgung ab. Der Patient lebte damit angstfrei mehr als zehn Jahre.

Fall 2: Ein invasiv wachsender maligner Tumor mit Metastasen hatte zum Verlust von Teilen an Nase und Oberkiefer geführt. Mastikation und Artikulation waren nicht mehr möglich. Eine Palamed-Epithese mit weichen und härteren Zonen über einer Obturator-Prothese diente zur Wiederherstellung von Funktionen und Aussehen.

Fall 3: Spontanblutungen machten die notfallmäßige Entfernung eines riesigen Basalioms notwendig, nachdem der Patient zuvor jeden Eingriff verweigert hatte. Danach musste er durch eine Magensonde ernährt werden. Eine von der kieferchirurgischen Klinik hergestellte 3-teilige Resektionsprothese ermöglichte es dem Patienten, zu essen und zu sprechen. Die Prothese konnte nur durch die Epithese, mit einem Haltebügel und an einer Brille befestigt, in Position gehalten werden.

Fall 4 : 1973 wurde bei einer 37-jährigen Patientin ein Basaliom exzidiert und nachbestrahlt ([Abb. 2]).

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Abb. 2  Epithese mit integrierter Heizung.

Es traten mehrere Rezidive auf, bis 1981 die Nasen-Amputation erfolgte. Danach kam die Patientin nicht mehr zur Kontrolle. 1985 hatte der infiltrierend wachsende Tumor das gesamte Mittelgesicht und beide Augen zerstört. Eine totale Entfernung einschließlich eines 3 × 3 cm großen Teils der Dura mater wurde vorgenommen. Die nunmehr blinde Patientin war mobil und hätte mit einem Blindenhund ausgehen können, aber das spürbare Erschrecken fremder Menschen bei ihrem Anblick nur mit Verband war für sie unerträglich. Die Wiederherstellung ihrer Gesichtszüge, die ich aus der Erinnerung modellieren konnte, sowie der Schutz der entstandenen Höhle waren dringend geworden. Die Nachbildung ihres Gesichtes war nicht schwierig. Die Epithese wurde an einem Brillengestell montiert, das Gewicht konnte von zwei dem Oberkiefer aufliegenden Stegen aufgefangen werden. Leider stellten sich im Freien starke Schmerzen als Folge von Kältereizen auf den Nervus trigeminus ein. Zur Abhilfe dachte ich an eine Heizung der Epithese durch einen Heizdraht und mitgetragenen Akku, wie sie um 1964 von Brinkrolf [2] aus der Fachklinik Hornheide/Münster für eine Nasen-Epithese beschrieben worden war. Bei meiner Patientin war dieses Vorgehen wegen des großen Energiebedarfes nicht möglich. Max Anliker, Direktor des Instituts für Biomedizinische Technik, Zürich, erbat die Lösung des Problems von zwei seiner Studenten als Semesterarbeit [3]. Nach mehrmonatiger Zusammenarbeit und der Überwindung von Materialschwierigkeiten konnten wir 1987 die elektrische Widerstandsheizung in die Epithese einbauen. Die Patientin konnte sich nun auch bei Kälte ca. 3 Stunden im Freien aufhalten, wobei sie den flachen 12-Volt-Bleiakkumulator in einer Tasche mit sich führte.

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Die Epithetik in Zürich

Die Nachfrage nach Palamed ging trotz seiner hervorragenden Eigenschaften wegen der schwierigen Verarbeitung so stark zurück, dass die Produktion in den 90er-Jahren eingestellt wurde. Heute, im Zeitalter der Biomechanik, werden vermehrt Silikon-Epithesen hergestellt, die aus Gründen der mangelhaften Klebefähigkeit meistens an implantierten Metallträgern mittels Druckknöpfen, Magnetelementen oder Schrauben abnehmbar befestigt werden, sofern dies bei strahlengeschädigtem Gewebe und nach Entfernung maligner Tumoren möglich ist. Die Epithesenabteilung am Universitätsspital Zürich wurde 2008 geschlossen. Die Universitäts-Kliniken für Kieferchirurgie in Basel und Zürich planen die Einrichtung von Zentren für die epithetische Versorgung von Gesichtsversehrten.

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Literatur

  • 1 Stoiber E. Chronik der Moulagensammlung und der angegliederten Epithesenabteilung am Universitätsspital Zürich von 1956 – 2000. Adliswil; Eigenverlag, Druck Buchdruckerei Zollinger 1955
  • 2 Ehring F, Drepper H, Schwenzer N. Die Epithese zur Rehabilitation des Gesichtsversehrten. Fachklinik Hornheide in Münster-Handorf. Münster; Quintessenz 1987
  • 3 Niederer P, Raggenbass A, Siegenthaler M, Stoiber E. Normalisierung der Temperaturverteilung einer Gesichtsepithese. Semesterarbeit Institut für Biomedizinische Technik, Universität und Eidgenössische Technische Hochschule. Zürich; 1987

Elsbeth Stoiber

Kniebrechstraße 6
CH-8135 Langnau am Albis

Email: elsbeth.stoiber@bluewin.ch

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Literatur

  • 1 Stoiber E. Chronik der Moulagensammlung und der angegliederten Epithesenabteilung am Universitätsspital Zürich von 1956 – 2000. Adliswil; Eigenverlag, Druck Buchdruckerei Zollinger 1955
  • 2 Ehring F, Drepper H, Schwenzer N. Die Epithese zur Rehabilitation des Gesichtsversehrten. Fachklinik Hornheide in Münster-Handorf. Münster; Quintessenz 1987
  • 3 Niederer P, Raggenbass A, Siegenthaler M, Stoiber E. Normalisierung der Temperaturverteilung einer Gesichtsepithese. Semesterarbeit Institut für Biomedizinische Technik, Universität und Eidgenössische Technische Hochschule. Zürich; 1987

Elsbeth Stoiber

Kniebrechstraße 6
CH-8135 Langnau am Albis

Email: elsbeth.stoiber@bluewin.ch

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Abb. 1 Epithetische Versorgung bei Kalottendefekt.

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Abb. 2  Epithese mit integrierter Heizung.