Pneumologie 2009; 63(11): 656-661
DOI: 10.1055/s-0029-1215098
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neues zum beruflichen Umgang mit Isocyanaten

New Data on Occupational Exposure to IsocyanatesX.  Baur1 , L.  T.  Budnik1
  • 1Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin, Hamburg
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Prof. Dr. med. Xaver Baur

Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin

Seewartenstraße 10
20459 Hamburg

eMail: baur@uke.uni-hamburg.de

Publikationsverlauf

eingereicht 4. 8. 2009

akzeptiert nach Revision 10. 8. 2009

Publikationsdatum:
18. September 2009 (online)

Inhaltsübersicht

Zusammenfassung

In den letzten Jahrzehnten hat die industrielle Nutzung von Isocyanaten dank einer riesigen Produktpalette mit unterschiedlichsten Materialeigenschaften erheblich zugenommen. Dieser rasanten Entwicklung hinken diesbezüglich relevante Arbeitsschutzregularien weit hinterher. Gesundheitsschädigende Wirkungen gehen vor allem von der inhalativen Exposition gegenüber Isocyanaten aus. Daneben kann aber auch Hautkontakt zu toxischen und allergischen Reaktionen führen. Die heute technisch ganz im Vordergrund stehenden oligo- und polymeren Isocyanate werden lediglich in den Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) 430, nicht aber in der rechtsverbindlichen Arbeitsmedizinischen Vorsorgeverordnung berücksichtigt. Trotz der z. T. bedenklichen Vereinfachungen der Risikoabschätzung (Berücksichtigung eines sich auf die Tröpfchengröße beziehenden Aerosol-Penetrationsfaktors; Beurteilung nur der tierexperimentell ermittelten akuten Reizwirkung der oligo- und polymeren Isocyanate bei der Festlegung des Beurteilungswertes) greift die TRGS 430 nach eigener Beobachtung bisher nicht in der Praxis.

Abstract

During recent decades the industrial use of isocyanates has expanded enormously due to the huge product palette with a variety of different properties. As opposed to the fast technical development, there is a delay in the formulation of respective occupational health and safety regulations. Adverse health effects of isocyanates are mainly due to inhalative exposure. In addition, cutaneous contact causes toxic as well as allergic reactions. Oligomeric and polymeric isocyanates that are mostly used in the industry are only regulated in the Technical Rules for Hazardous Substances 430 (TRGS 430), but not by the mandatory occupational medical surveillance directive (Arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung). Although the TRGS 430 facilitates risk assessment (e. g., the aerosol penetration factor is related to the size of aerosols; only the acute irritative effect of oligomeric and polymeric isocyanates as shown in animal studies is taken into consideration in the case of defining a so-called evaluation factor), so far this new regulation has not yet been implemented in practice according to our own findings.

Einleitung

Isocyanate zählen weltweit zu den häufigsten Ursachen des berufsbedingten Asthma bronchiale und anderer Atemwegserkrankungen [1] [2] [3] [4]. In Deutschland werden unter der Berufskrankheit Nummer 1315, die bis auf Hautaffektionen alle Isocyanat-bedingten Berufskrankheiten zusammenfasst, jährlich etwa 50 Fälle neu anerkannt. Die Diagnostik ist oft schwierig, da in lediglich etwa 20 % der Fälle spezifische IgE-Antikörper nachweisbar sind und Arbeitsplatzsimulationsteste aufgrund ihres großen Aufwands nur in wenigen Zentren erfolgen [5]. Die geringe Sensitivität allergologischer Verfahren kann nur z. T. durch deren unzureichende Sensitivität mit nicht optimalen Isocyanat-Konjugaten erklärt werden. Es ist davon auszugehen, dass nicht-allergische Pathomechanismen dominieren.

Arbeitsbedingte Expositionen

Isocyanate sind moderne Syntheseausgangsstoffe für die Herstellung von Weich-, Hart-, Integral-, Isolier-Schaumstoffen und anderen Kunststoffen, Lacken und sonstigen Oberflächen-Beschichtungen, Vergussmassen, Elastomeren, Klebern, Härtern, Pharmazeutika, Pestiziden und weiteren Erzeugnissen der chemischen Industrie. Anwendungsbereiche sind vor allem die Kraftfahrzeug-, Flugzeug-, Metall-, Möbel-, Textil-, Bekleidungs- und holzverarbeitende Industrie, das Baugewerbe, der Bergbau (Gebirgsverfestigung), Gießereien und der Sportbahnbau. Gelegentlich werden Isocyanate mit anderen Systemen kombiniert, z. B. mit Epoxid-haltigen und Alkydharz-Bindemitteln.

Von gesundheitsrelevanter Bedeutung sind in erster Linie Isocyanat-haltige Dämpfe und Aerosole. Letztere entstehen vornehmlich beim Spritzlackieren von Lacken mit Isocyanathärtern. Da der Dampfdruck stark temperaturabhängig ist, können auch im Rahmen der exotherm ablaufenden Polyurethan(PUR)-Schaumstoffherstellung hohe Luftkonzentrationen auftreten. Mit einer Gesundheitsgefährdung muss sowohl bei der Anwendung von Isocyanat-haltigen 2-Komponenten-Reaktionssystemen (Reaktionspartner sind hier meist mehrwertige Alkohole, z. T. auch Amine und Wasser) als auch von 1-Komponenten-Produkten (diese härten mit dem Wasserdampf der Luft aus) gerechnet werden. Großflächig aufgetragen können Isocyanate durch verdunstende Lösemittel mitgerissen werden.

Beim Erhitzen, Verschwelen und Verbrennen von ausgehärteten Polyurethanen (PUR) werden neben anderen, großteils toxisch wirkenden Produkten verschiedene Isocyanate gebildet und freigesetzt. Dies gilt v. a. für das Schweißen von PUR-lackierten oder -beschichteten Metallen, für das Ein- oder Abbrennen von PUR-Lackschichten, das Stahl- und Aluminiumgießen in MDI-gefestigten Sandkernen und anderen Formen, das Schneiden von Hartschaumplatten, die mechanische Bearbeitung unter Hitzeentwicklung von Isocyanat-verleimten Spanplatten, das Anschleifen von PUR-Anstrichen, Wohnungs- und Autobrände. Auch starkes Erhitzen und Verbrennen von stickstoffhaltigen Materialien, wie Phenol-Formaldehyd-Harnstoff-Harz (Bakelite, u. a. Chip-Platinen) und beschichteter Steinwolle, können zur Bildung und Freisetzung von Isocyanaten führen [6] [7] [8]. In der Regel entstehen bei den vorgenannten Prozessen unter hohen Temperaturen (über 350 ° C) niedermolekulare Monoisocyanatverbindungen wie Isocyansäure (HNCO; ICA) und Methylisocyanat (CH2NCO; MIC).

Neben der inhalativen Aufnahme kann Hautkontakt zu einer Isocyanat-Inkorporation führen. Hierdurch werden nach tierexperimentellen Befunden sowohl lokale Reizerscheinungen als auch respiratorische Überempfindlichkeitsreaktionen ausgelöst [9] [10].

Peroral ist eine Isocyanat-Aufnahme beim Rauchen oder beim Essen im Arbeitsbereich möglich.

Was wissen wir über die heutigen Arbeitsplatzkonzentrationen?

In der heutigen Arbeitswelt werden ganz überwiegend oligo- und polymere Isocyanate eingesetzt. Ihre Luftkonzentration hängt von den jeweiligen Arbeitsbedingungen, der Temperatur und den verarbeiteten Mengen ab. Woskie et al. [11] wiesen NCO-Konzentrationen zwischen 0,02 und 3120 µg/m3 Luft in Lackierereien nach. Ähnliche Ergebnisse fanden Pronk et al. [12]. Auch Untersuchungen in England ergaben in Lackierereien und in der Elastomeren-Herstellung teilweise erhöhte Isocyanat-Luftkonzentrationen [13] [14] s. auch [Abb. 1]. Entsprechende Aussagen lieferten neuere Biomonitoringuntersuchungen bei verschiedenen Isocyanatanwendungen [13] [14] [15] [16] [17] [18] [19] [20]. Dabei konnte Jones [21] belegen, dass die Aufklärung der Beschäftigten zu einer beachtlichen Verbesserung der Arbeitshygiene und zur Reduktion der inneren Belastung führte.

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Abb. 1 55 Mitarbeiter einer Lackierhalle wurden wegen vermuteter gesundheitsgefährdender Belastung durch das Isocyanat MDI einer Biomonitoring-Diagnostik unterzogen. Urinproben wurden unmittelbar nach der Arbeitsschicht gesammelt und mittels GC-MS ermittelt. Anstelle des in den Datenblättern des Lackhärters angegebenen Isocyanats MDI fanden sich in den Proben mehrerer Beschäftigter Zeichen einer hohen Belastung mit den Isocyanaten TDI und HDI (gemessen wurden die entsprechenden Diaminderivate TDA und HDA).

Arbeitsplatzregularien

Einen Biologischen Grenzwert (BGW; TRGS 903) [22] gibt es lediglich für das Diisocyanat MDI (10 µg/g Kreatinin für den im Urin nachweisbaren Metaboliten 4,4'-Diaminodiphenylmethan, MDA).

Anlage 1 gibt die aktuellen rechtsverbindlichen Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) der Isocyanate wieder, die sich ausschließlich auf Di- und zwei Monoisocyanate beziehen und im Allgemeinen bei 5 ppb liegen. Für die industriell ganz im Vordergrund stehenden oligo- und polymeren Isocyanate wurden in Deutschland bisher keine Arbeitsplatzgrenzwerte festgesetzt.
Die American Conference of Governmental Industrial Hygienists [23] schlug kürzlich für TDI einen deutlich niedrigeren Arbeitsplatzgrenzwert (TWA, 8-Stunden-Mittelwert), nämlich von 0,007 mg/m3 (1 ppb), und einen 15-Minuten-Kurzzeitwert von 0,021 mg/m3 (3 ppb) vor.

Die Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) 430 „Isocyanate – Exposition und Überwachung” [24], aktualisiert im März 2009, beinhalten eine umfassende Darstellung der Isocyanatanwendungen in den verschiedensten Industriezweigen. Diese ist hilfreich für die vom Arbeitgeber zu erstellende Gefährdungsbeurteilung, die die Gesamt-Isocyanatexposition anhand eines Bewertungsindex berücksichtigen soll, also auch die in Aerosolen befindlichen Isocyanatanteile. Dabei werden ein sog. Aerosol-Penetrationsfaktor (basiert auf dem Durchmesser der Aerosole) und bei oligomeren und polymeren Isocyanaten ein Expositionsbeurteilungswert (EBW; erfasst ausschließlich die lokale Reizwirkung und ist vom Hersteller anzugeben) zugrunde gelegt. Die Intensität der Exposition wird im Einzelnen unter Berücksichtigung folgender Parameter beurteilt:

  • der klinischen Natur des Isocyanates,

  • dem Arbeitsplatzgrenzwert für Diisocyanate nach TRGS 900 [25] „Luftgrenzwerte in der Luft am Arbeitsplatz” und Arbeitsmedizinischer Vorsorgeverordnung (2009),

  • der Dampfbildung (durch Aerosole aus dem Kondensat),

  • der Aerosolbildung (durch Aerosole aus dem Applikationsverfahren); bei Oligo- und Polymeren s. Beurteilungswert,

  • dem Eindringvermögen in die Lunge (Aerosol-Penetrationsfaktor, APF),

  • dem Ausmaß des Hautkontaktes.

Der Beurteilungsindex (BI) für den jeweiligen Arbeitsplatz leitet sich aus der Summe der Verhältniszahlen a) der Konzentration (C) der monomeren Isocyanate (i)/AGW und b) der Konzentration der oligo- und polymeren Isocyanate (Poly) × APF/EBW ab:

BI = Σ(Ci/AGWi + CPoly × APF/EBW)

Neu ist die in der TRGS 430 [24] vorgenommene Festlegung eines Expositionsleitwertes, der alle Isocyanate in der Raumluft berücksichtigt und 0,018 mg/m3 beträgt.

Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung [26]

Isocyanat-exponierte Beschäftigte sind einer speziellen arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung [27] zu unterziehen, wenn die Luftkonzentration 0,05 µg/m3 überschreitet oder wenn regelmäßiger oder ständiger Hautkontakt gegeben ist [28]. Unverständlicherweise wurde in dieser neuen rechtsverbindlichen Verordnung die bisherige Verpflichtung des Arbeitgebers zu einer Angebotsuntersuchung bei geringerer Exposition nicht übernommen.

Zu Recht wird in der Arbeitsmedizinischen Vorsorge G 27 [27] auf das erhöhte Gesundheitsrisiko von Personen mit vorbestehenden Atemwegserkrankungen und bronchialer Hyperreagibilität hingewiesen. Nicht richtig ist allerdings, dass Personen mit umweltbedingten Allergien ein erhöhtes Gesundheitsrisiko haben. Das Gegenteil ist der Fall [29].

Notwendigkeit einer verbesserten Prävention

Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt, dass die gesundheitsadversen Effekte der Isocyanate konzentrationsabhängig sind [4] [30] [31]. Durch geeignete primärpräventive Maßnahmen (geschlossene Systeme, verbesserte Luftabsaugungen, elektrostatisch arbeitende Spritzverfahren etc.) und durch Sekundärprävention (Atemmasken, Schutzanzüge, Handschuhe) lässt sich die Exposition in praktisch allen Arbeitsbereichen in gesundheitlich unbedenkliche Bereiche absenken.
Die in Deutschland nach wie vor ausschließlich für Di- und Monoisocyanate geltenden Arbeitsplatzgrenzwerte erfuhren, wie dargestellt, nun eine Ergänzung in der TRGS 430 mit Berücksichtigung der Gesamt-Isocyanat-Belastung. Allerdings geht in den dort aufgeführten, eher einem sicherheitstechnischen Standard entsprechenden Bewertungsindex nur die lokale, tierexperimentell ermittelte Atemwegsirritation ein, anzunehmende verzögerte Reizwirkungen, Allergenität und evtl. Kanzerogenität bleiben hierbei unberücksichtigt. Es bleibt zu hoffen, dass der Arbeitsschutz beim Umgang mit Isocyanaten (Probleme bestehen vorwiegend in Klein- und Mittelbetrieben) durch Umsetzung dieser TRGS und durch Schaffung einer besseren Datenbasis bezüglich der nach wie vor nicht befriedigenden Risikoabschätzung der oligo- und polymeren Isocyanate optimiert wird.

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Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

Prof. Dr. med. Xaver Baur

Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin

Seewartenstraße 10
20459 Hamburg

eMail: baur@uke.uni-hamburg.de

Literatur

Prof. Dr. med. Xaver Baur

Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin

Seewartenstraße 10
20459 Hamburg

eMail: baur@uke.uni-hamburg.de

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Abb. 1 55 Mitarbeiter einer Lackierhalle wurden wegen vermuteter gesundheitsgefährdender Belastung durch das Isocyanat MDI einer Biomonitoring-Diagnostik unterzogen. Urinproben wurden unmittelbar nach der Arbeitsschicht gesammelt und mittels GC-MS ermittelt. Anstelle des in den Datenblättern des Lackhärters angegebenen Isocyanats MDI fanden sich in den Proben mehrerer Beschäftigter Zeichen einer hohen Belastung mit den Isocyanaten TDI und HDI (gemessen wurden die entsprechenden Diaminderivate TDA und HDA).

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