Z Orthop Unfall 2009; 147(3): 277-278
DOI: 10.1055/s-0029-1225602
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview - Mögliche Berufskrankheit Karpaltunnelsyndrom

- Die neurologische Einschätzung -
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Publication Date:
23 June 2009 (online)

 
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Ein Karpaltunnelsyndrom (KTS) kann im Sinne einer "Beschäftigungsneuropathie" auch im Zusammenhang mit kraftvollen repetitiven Tätigkeiten im Hand-Handgelenksbereich sowie bei gehäufter Vibrationsbelastung auftreten. Sollte es zur Einführung einer BK "Karpaltunnelsyndrom" kommen, würde die Erfassung über Aussagen zu manuellen Tätigkeiten und nicht über eine Definition von Berufsgruppen erfolgen. Über die Hintergründe befragen wir Professor Dr. Martin Tegenthoff, Neurologische Klinik und Poliklinik des BG-Universitätsklinikums Bergmannsheil Bochum.

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Professor Dr. Martin Tegenthoff

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Welche Berufsgruppen sind prädestiniert?

Das entsprechende Merkblatt der aktuell existenten BK2106 führt besonders betroffene Berufsgruppen wie z.B. Schleifer, Metzger und andere, die gehäuft typische repetitive Bewegungen im Hand- oder Ellenbogengelenk ausführen auf. Im Einzelfall ist eine genaue Evaluation des Arbeitsprozesses durch den technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Berufsgenossenschaften oder den arbeitsmedizinischen Gutachter im Hinblick auf mögliche Zwangshaltungen und repetitive Bewegungen erforderlich. Bedeutsam ist, dass das Karpaltunnelsyndrom aktuell grundsätzlich nicht zu dieser Berufskrankheit 2106 zu rechnen ist. Die BK-Reife des Karpaltunnelsyndroms wird derzeit vom ärztlichen Sachverständigenbeirat (ÄSVB) gesondert geprüft. Mit Wahrscheinlichkeit ist mit der Anerkennung des KTS als BK und der Einführung einer eigenen neuen BK-Ziffer in diesem Jahr zu rechnen.

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Wie oft muss der Orthopäde/Unfallchirurg mit einem KTS rechnen?

Das Karpaltunnelsyndrom stellt die häufigste, nicht traumatische periphere Nervenläsion dar. Bedeutsam ist, dass die Prävalenz wesentlich von den entsprechenden Diagnosekriterien abhängt. Bei Einbeziehung einer differenzierten klinischen und insbesondere neurophysiologischen Diagnostik ergeben sich Prävalenzraten von etwa 2 bis 4%, während die Prävalenz unter Zugrundelegung lediglich der subjektiven Beschwerdesymptomatik mit bis zu 15 bis 18% angegeben wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Karpaltunnelsyndrom in etwa 60 bis 80% der Fälle auch beidseits auftreten kann. Grundsätzlich sind Frauen im Verhältnis von 3 bis 4 zu 1 deutlich häufiger betroffen als Männer. Diese Daten unterstreichen die hohe klinische und auch sozioökonomische Bedeutung des Karpaltunnelsyndroms.

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Hintergrund

Berufskrankheiten (BK) fallen nach SGB VII in den Leistungsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung. BK sind dabei nur solche Krankheiten, die in der vom Gesetzgeber erstellten BK-Liste innerhalb der Berufskrankheitenverordnung (BKV) aufgezählt sind. Schädigungen des peripheren Nervensystems werden vornehmlich im Rahmen der BK-Gruppe 21 (mechanische Einwirkung) aufgeführt, "Drucklähmungen der Nerven" finden sich in der Regel unter der BK 2106. Dabei handelt es sich um Schädigungen peripherer Nerven, die durch arbeitsbedingte wiederholte mechanische oder druckbedingte Einwirkungen hervorgerufen werden.

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Was sind die wesentlichen Ursachen?

Wesentlicher ursächlicher Faktor für die Entstehung eines KTS ist eine Volumen- und Druckerhöhung im Bereich des Karpaltunnels. Als Risikofaktoren ist in dieser Richtung ein anlagebedingter enger Karpaltunnel zu nennen, der familiär gehäuft auftreten kann. Bedeutsam sind weiterhin eine Vielzahl anderer Erkrankungen wie z.B. Diabetes mellitus, Hypothyreose, Akromegalie, Dialysepflichtigkeit und hormonelle Umstellungen im Rahmen von Schwangerschaft und Menopause oder rheumatische Erkrankungen. Unter Berücksichtigung der aktuellen Literatur ist allgemein anerkannt, dass ein KTS im Sinne einer "Beschäftigungsneuropathie" auch im Zusammenhang mit kraftvollen repetitiven Tätigkeiten im Hand-Handgelenksbereich sowie bei gehäufter Vibra-tionsbelastung auftreten kann.

Wie bei der BK 2106 (siehe oben) hat die Festlegung und Erfassung der Expositionskriterien auch hier ggf. – sollte es zur Einführung einer BK "Karpaltunnelsyndrom" kommen - durch den Arbeitsmediziner oder den TAD zu erfolgen. Dies soll beim KTS über die Definition manueller Tätigkeiten und nicht über eine Definition von Berufsgruppen erfolgen. Beispielhaft werden diesbezüglich z.B. repetitive Tätigkeiten mit Beugung und Streckung im Handgelenk mit einer Frequenz von mehr als zwei pro Minute und einer Kraft von mehr als 6 Kilogramm innerhalb einer 4-stündigen Schicht genannt.

Bemerkenswert ist, dass Büroarbeiter am häufigsten an einem KTS erkranken, was jedoch auf die hohe Zahl dieser Berufsgruppe zurückgeführt wird. Letztlich existieren aktuell keine Hinweise darauf, dass eine PC-Tätigkeit ein KTS begünstigen kann. Im Wesentlichen als ursächlich angesehen werden Tätigkeiten mit vibrierenden Werkzeugen und Tätigkeiten mit einem repetitiv hohen Kraftaufwand für Beugung und Streckung im Bereich des Handgelenks. Insofern werden berufsbedingte Karpaltunnelsyndrome bei vielen unterschiedlichen Berufsgruppen beschrieben [1].

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Klinische Symptomatik?

Die klinische Symptomatik eines KTS setzt sich aus Reizsymptomen wie nächtlichen Parästhesien (Brachialgia parästhetica nocturna), Spontanschmerzen mit proximaler Ausstrahlung, dem "Schüttelzeichen" mit Verschwinden der Symptomatik nach Ausschütteln der Hände sowie typischen Provokationstests (Tinel’sches Zeichen, Phalen-Test) und Ausfallssymptomen zusammen. Zu den letzteren gehört eine Muskelschwäche, beginnend typischerweise mit einer Parese der Daumenabduktion, eine Muskelatrophie im Thenarbereich sowie lokalisierte, dem Versorgungsgebiet des N. medianus entsprechende sensible Ausfallserscheinungen, Störungen der Schweißsekretion und trophische Störungen. Ein wesentlicher reproduzierbarer objektivierbarer Parameter ist eine pathologische Veränderung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit. Einer EMG-Untersuchung kommt nur in Ausnahmefällen eine diagnostische Bedeutung zu.

Für den Neurologen wird insofern aufgrund der zum Teil unspezifischen subjektiven Beschwerdesymptomatik im Rahmen der Begutachtung einer möglichen BK-KTS in erster Linie eine Objektivierung neurogener Ausfalls- und Reizerscheinungen von Bedeutung sein. Auch unter Berücksichtigung der AWMF-Leitlinien spielt in diesem Zusammenhang die neurophysiologische Diagnostik mittels Nervenleitgeschwindigkeiten (s.o) zur Diagnosesicherung eine unverzichtbare Rolle. Wesentliche Aufgabe des klinisch-neurologischen Gutachters ist weiterhin eine differentialdiagnostische Abgrenzung konkurrierender Erkrankungen wie z.B. von Polyneuropathien oder anderweitigen peripher neurogenen (System-) Erkrankungen. Von Interesse werden die Verwaltungsvorgaben insbesondere hinsichtlich der Frage sein, ob eine Exposi-tionsvermeidung mit Besserung der Symptomatik - was aus klinischer Sicht zu erwarten wäre- bei der gutachterlichen Bewertung zu berücksichtigen sein wird.

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Abb. 1 Einblick in den Karpalkanal einer rechten Hand. Ansicht von palmar. Das Lig. carpi transversum ist durchscheinend dargestellt; die Guyon-Loge mit A. und N. ulnaris ist eröffnet. Beachte den oberflächlichen Verlauf des N. medianus im Canalis carpi sowie den Abgang des motorischen R. thenaris zur Thenarmuskulatur unmittelbar distal vom Retinaculum (variable Abgänge des Thenarastes). Bei der operativen Spaltung des Lig. carpi transversum (Karpaltunnelsyndrom) muss der Handchirurg den variablen Verlauf kennen, da sonst der Thenarast versehentlich durchtrennt werden kann! Der R. palmaris superficialis der A. radialis verläuft in diesem Fall auf dem Lig. carpi transversum, häufig zieht er jedoch auch durch die Thenarmuskulatur. (Quelle: Prometheus. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Grafik M. Voll. Stuttgart: Thieme 2004).

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Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein KTS als Berufskrankheit anerkannt wird und zu einer Rentenzahlung führt?

Letztlich ist aus neurologisch-gutachterlicher Sicht hervorzuheben, dass die gutachterliche Bewertung einer kompletten distalen Medianusläsion im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung eine MdE von 25 (in seltenen Fällen bis maximal 30)% begründet. Da ein KTS zumindest in Mitteleuropa in aller Regel aufgrund der frühzeitigen Erkennung und der guten Therapiemöglichkeiten nicht zu einer kompletten Medianusläsion, sondern allenfalls zu einer leichtgradigen sensomotorischen Ausfalls- oder Reizsymptomatik führen wird, folgt, dass eine rentenberechtigende MdE in diesem Zusammenhang kaum festzustellen sein wird. Ruft man sich in diesem Zusammenhang ins Gedächtnis, dass es sich bei einem KTS um ein weit verbreitetes Krankheitsbild handelt, und dass die Diagnosesicherung zusätzlich von den eingesetzten Untersuchungsverfahren abhängt, sollte die Kommunikation bezüglich einer möglichen BK-KTS von medizinischer Seite, sowie gleichfalls von Seiten der Verwaltung und auch der Politik differenziert und mit "Fingerspitzengefühl" [2] erfolgen, um hier bei KTS-Erkrankten nicht unberechtigte Hoffnungen und Erwartungen auf Anerkennung oder gar Entschädigung einer BK zu wecken.

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Literatur

  • 01 Palmer K. T . Harris E. C . Coggon D . Carpal tunnel syndrome and its relation to occupation: a systematic literature review Occup Med (Lond).  2007;  57 57-66
  • 02 Stresemann E . Diagnose "Berufskrankheit": Fingerspitzengefühl erforderlich.  Dtsch Ärztebl.. 2002;  99 (12) A-769/B-631/C-591
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Literatur

  • 01 Palmer K. T . Harris E. C . Coggon D . Carpal tunnel syndrome and its relation to occupation: a systematic literature review Occup Med (Lond).  2007;  57 57-66
  • 02 Stresemann E . Diagnose "Berufskrankheit": Fingerspitzengefühl erforderlich.  Dtsch Ärztebl.. 2002;  99 (12) A-769/B-631/C-591
 
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Professor Dr. Martin Tegenthoff

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Abb. 1 Einblick in den Karpalkanal einer rechten Hand. Ansicht von palmar. Das Lig. carpi transversum ist durchscheinend dargestellt; die Guyon-Loge mit A. und N. ulnaris ist eröffnet. Beachte den oberflächlichen Verlauf des N. medianus im Canalis carpi sowie den Abgang des motorischen R. thenaris zur Thenarmuskulatur unmittelbar distal vom Retinaculum (variable Abgänge des Thenarastes). Bei der operativen Spaltung des Lig. carpi transversum (Karpaltunnelsyndrom) muss der Handchirurg den variablen Verlauf kennen, da sonst der Thenarast versehentlich durchtrennt werden kann! Der R. palmaris superficialis der A. radialis verläuft in diesem Fall auf dem Lig. carpi transversum, häufig zieht er jedoch auch durch die Thenarmuskulatur. (Quelle: Prometheus. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Grafik M. Voll. Stuttgart: Thieme 2004).