Diabetes aktuell 2009; 7(4): 154-156
DOI: 10.1055/s-0029-1233383
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Nutrigenomik - ein neues Forschungsgebiet - Nahrungsmittel für Prävention und Therapie

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Publikationsdatum:
30. Juni 2009 (online)

 
Inhaltsübersicht

    Prof. Dr. Andreas F. H. Pfeiffer ist Direktor der Abteilung Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin der Charité Universitätsmedizin Berlin und Leiter der Abteilung für Klinische Ernährung am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam. Mit ihm sprach für Diabetes aktuell Susan Röse über das relativ neue Forschungsgebiet "Nutrigenomik" und über Zusammenhänge zwischen der Ernährung und bestimmten Krankheitsbildern wie dem Metabolischen Syndrom und gezielten Präventionsstrategien.

    Das Institut in Rehbrücke erforscht den Anteil nahrungsabhängiger Komponenten an der Pathogenese der häufigsten Zivilisationskrankheiten und betreut Studien zur Bedeutung von Nahrungsmitteln für die Stoffwechselregulation, insbesondere für das Verhindern von Adipositas, Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen.

    ? Welche Risikofaktoren führen zum Metabolischen Syndrom und zu welchen Folgeschäden bzw. Erkrankungen führt es?

    Das Metabolische Syndrom ist definiert als das Zusammentreffen von Fettstoffwechselstörungen, Glukosestoffwechselstörungen, Bluthochdruck und Adipositas, insbesondere der abdominellen Adipositas. Es gibt verschiedene Definitionen, die sich allerdings nur in Details unterscheiden. Gemeinsam ist aber allen, dass ernährungsbedingte Faktoren wesentlich dazu beitragen und dass eine Gewichtsabnahme im Allgemeinen zu einer deutlichen Besserung führt. Zu den wesentlichen Erkrankungen gehört vor allem der Typ-2-Diabetes, hier verdoppelt sich das Risiko etwa pro 4 kg Gewichtszunahme. So hat ein massiv adipöser Mensch ein etwa 30-50-fach größeres Risiko als ein schlanker Mensch. Auch für kardiovaskuläre Erkrankungen steigt beim Adipösen das Risiko etwa um das 4-fache, ebenso für zahlreiche Krebsarten.

    ? Warum spricht man auch vom "Wohlstandssyndrom" oder verwendet Begriffe wie "tödliches Quartett"?

    Das Metabolische Syndrom ist eng assoziiert mit einer Überernährung vom westlichen Stil, das heißt einem relativ hohen Gehalt an gesättigten Fetten, einem relativ hohen Fleischkonsum und prozessierten Nahrungsmitteln mit hoher Energiedichte. Letztere tragen dazu bei, dass man schnell viel Energie zuführen kann, gleichzeitig ist die Geschmacksqualität nach unserer Wahrnehmung offensichtlich sehr attraktiv. Denn das Metabolische Syndrom breitet sich auch in anderen Ländern mit der Zunahme westlicher Ernährung, die dort offensichtlich auch sehr gut akzeptiert wird, schnell aus. Das Wohlstandssyndrom bezieht sich darauf, dass mit den industriellen Fertigungsmethoden diese Nahrung verfügbar wird und dass sich die Menschen diese auch leisten können. Den Begriff "Tödliches Quartett" hat Gerald Reavan geprägt, der besonders die Krankheitsrisiken betont hat, die im Zusammenhang damit auftreten. Das bauchbetonte Übergewicht ist mit den verschiedenen Komponenten des Metabolischen Syndroms höher assoziiert als das Übergewicht an sich, dies scheint mit dem endokrinologisch aktiven intraabdominellen Fett zusammenzuhängen.

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    Bild: Thieme Verlagsgruppe

    ? Können Sie kurz etwas zur Diogenes-Studie sagen, an der Ihr Institut beteiligt ist?

    Die Diogenes-Studie ist eine Interventionsstudie an über 800 Teilnehmern, die in 8 europäischen Interventionszentren durchgeführt wurde. Die Probanden mussten zunächst innerhalb von 8 Wochen durch eine Diät mit sehr wenigen Kalorien 8 % ihres Körpergewichtes abnehmen. Anschließend mussten sie eine aus 4 verschiedenen Diäten auswählen:

    1. eine Kost mit erhöhtem Eiweißanteil und niedrigem Glykämischen Index,

    2. eine Kost mit erhöhtem Eiweißanteil und hohem Glykämischen Index,

    3. eine Kost mit normalem Eiweißanteil und niedrigem Glykämischen Index,

    4. eine Kost mit normalem Eiweißanteil und hohem Glykämischen Index.

    Bei der fünften Diät handelte es sich um eine "Kontrolldiät", die sich an den bestehenden Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin orientierte.

    Die Teilnehmer wurden 6 Monate lang beobachtet, als Endpunkt wurde vor allem die Gewichtsveränderung untersucht. Die Hypothese war, dass eine proteinreiche Ernährung mit einem niedrigen Glykämischen Index eine Gewichtsstabilität unterstützt, wohingegen eine proteinarme Ernährung mit einem hohen Glykämischen Index zu einer Gewichtszunahme führt. Die Studie ist mittlerweile abgeschlossen und wird auf dem ECO-Kongress (European Congress of Obesity) in Amsterdam im Mai 2009 auf einem zweitägigen Symposium vorgestellt. Bis dahin sind die Ergebnisse noch nicht freigegeben.

    ? Können Sie einige Sätze zur Ernährungstherapie und zum Stellenwert einer Änderung des Lebensstils sagen?

    Dazu gibt es 2 große Interventionsstudien. Eine finnische Diabetes-Studie, von Tuomilehto und Mitarbeitern 2001 im New England Journal of Medizin (NEJM) publiziert zeigt, dass man durch eine belaststoffreiche, fettarme, gesunde Ernährung, kombiniert mit täglicher körperlicher Aktivität von 30 Minuten Dauer und einer Gewichtsabnahme von etwa 4 kg das Diabetesrisiko bei Menschen mit Prädiabetes um 58 % senken kann. Die zweite Studie wurde von der Diabetes Prevention Program Research Group in Amerika mit über 3000 Teilnehmern durchgeführt und 2002 ebenfalls im NEJM publiziert. Auch hier kam es durch die Lebensstiländerung zu einer Reduktion des Diabetesrisikos bei Prä­diabetikern um 58 %. Entscheidend neu war die Erkenntnis, dass bereits eine relativ geringe Gewichtsreduktion in Kombination mit einem gesunden Lebensstil bei doch erheblich adipösen Patienten zu einer massiven Reduktion des Diabetesrisikos führt. Würde man die Ergebnisse auf unsere Gesellschaft übertragen, könnte man das Auftreten neuer Diabetesfälle um etwa die Hälfte reduzieren. Das hätte enorme Gesundheitsauswirkungen und würde auch zu einer außerordentlichen Kosteneinsparung im Gesundheitswesen führen.

    Eine relativ neue Erkenntnis in Bezug auf den Lebensstil ist, dass eine Schlafdauer von unter 6 Stunden das Diabetes- und Adipositasrisiko deutlich zu erhöhen scheint. In prospektiven Studien ist das allerdings noch nicht untersucht. Man hat aber gezeigt, dass ein Schlafentzug, weniger als 4 Stunden innerhalb von 3 Tagen, zu einer ausgeprägten Insulinresistenz führen kann. Frau Laposky hat diese Studien durchgeführt, 2008 ist dazu ein Review in den FEBS-Letters erschienen.

    ? Was ist von Nahrungsergänzungsmitteln zu halten?

    Die Wirksamkeit von Nahrungsergänzungsmitteln, insbesondere die zusätzliche Zufuhr von Vitaminen wie z. B. A, C und E, ist nicht belegt. Es gibt im Gegenteil Hinweise darauf, dass eine erhöhte Zufuhr von Vitaminen schädliche Auswirkungen haben kann, insbesondere für die Vitamine A und E ist das gezeigt worden. Wir empfehlen deshalb nicht den Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln, sondern eine abwechslungsreiche gesunde Ernährung. Nur bei der Versorgung mit Vitamin D zeigt sich mittlerweile eindeutig ein Mangel, für den auch z. B. die aus dermatologischer Sicht durchaus empfehlenswerte Verwendung von dermatologischen Präparaten mit Sonnenschutzfaktor verantwortlich sein dürfte.

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    Bild: Digital Vision

    ? Wie stehen Sie zu den heute beworbenen Präparationen, die dem Verbraucher suggerieren, dass sie genauso gut sind wie frisches Obst und Gemüse vom Markt?

    Für diese Produkte ist nicht belegt, dass sie diejenigen Substanzen enthalten, die in frischem Obst und Gemüse das Risiko für Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen reduzieren können. Es kann durchaus sein, dass diese Substanzen in solchen Präparationen bereits kaputt gegangen sind. So enthält zum Beispiel Obstsaft nicht die interessanten Komponenten aus dem Obst, sondern im Wesentlichen nur den Zucker und trägt damit sogar zur Adipositas bei.

    ? Was versteht man unter Nutrigenomik?

    Die Nutrigenomik befasst sich mit dem Zusammenhang von individuellen genetischen Anlagen und der Reaktion auf Nahrungsmittel. Sie bezeichnet also die Veränderung der Genexpression in den verschiedenen Geweben durch Nahrungszufuhr. Darüber gibt es zunehmend informative Studien, seit es mit Genchips oder so genannten Genarrays möglich ist, das gesamte Transkriptom, also die Veränderung aller vorhandenen RNAs zu erfassen. Die Nutrigenetik befasst sich mit dem Einfluss von Genvarianten, insbesondere "Single nucleotide polymorphisms" (SNPs) auf genetische Antworten. Man geht davon aus, dass solche genetischen Varianten für die Unterschiede zwischen Menschen in ihrer Reaktion auf Nahrungsmittel verantwortlich sind. Wir wissen aber jetzt schon, dass die Auswirkung einzelner Genvarianten recht klein ist und dass es eher ein ganzes Konzert von solchen Veränderungen ist, das tatsächlich zu Veränderungen in den Antworten von Individuen auf Nahrung führt. Bisher sind nur ganz wenige Beispiele von solchen Genveränderungen bekannt geworden, sodass bisher keine sinnvolle Aussage durch das Studium von Genvarianten möglich ist. Ein gutes Beispiel dafür ist der Cholesterinstoffwechsel: Es gibt Menschen, die auf Cholesterinzufuhr mit einem Anstieg des Cholesterins im Blut reagieren und solche, die dies nicht tun. Obwohl man viele Gene in diesem ganzem Regulationsprozess des Cholesterinstoffwechsels kennt, kann man dies aber individuell bisher nicht durch eine Genbestimmung vorhersagen. Es gibt einen Apolipoprotein-(Apo)-E3-Polymorphismus, der eine gewisse Assoziation hat, der aber auch keineswegs eine sichere Auskunft erlaubt.

    ? Was sagen die Kritiker?

    Die Kritiker sagen, dass man die Dicken in Ruhe dick sein lassen soll und wehren sich gegen den "Schlankheitswahn". Und wahr ist natürlich auch, dass wir mittlerweile trotz Adipositas in Deutschland im Durchschnitt über 80 Jahre alt werden. Aber das Risiko für viele Erkrankungen nimmt kräftig zu. So muss man sagen, dass besonders jüngere Menschen von der Prävention durch gesundes Verhalten und gesunde Ernährung profitieren. Für ältere Menschen, solche etwa über 65 bis 70 Jahre, ist nicht belegt, dass sie von einer Gewichtsreduktion profitieren. Das ist zwar auch bei Jüngeren nicht der Fall, aber es ist klar belegt, dass mit der Adipositas Erkrankungsrisiken assoziiert sind. Um zu zeigen, dass das Risiko auch tatsächlich reduziert ist, wenn man abnimmt, müssten langfristige Studien durchgeführt werden. Das Problem ist, dass die Durchführung solcher Studien über viele Jahre hinweg schwierig ist.

    ? Wie sieht die Zukunft der Nutrigenomik aus? Welchen Stellenwert hat sie in der Schulmedizin?

    Momentan hat die Nutrigenomik noch keinen Stellenwert in der Schulmedizin, aber dies dürfte sich in Zukunft mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ändern. Wir werden wahrscheinlich in Zukunft doch eine Vielzahl von Genen identifizieren können, die durch die Ernährung und Verhaltensweise betroffen sind. Dann wird man Menschen schon Empfehlungen geben können, wie sie durch eine gewisse Präferenz von Nahrungsmittelgruppen ihr persönliches Erkrankungsrisiko für Diabetes, Arteriosklerose und Krebs reduzieren können. Momentan ist dies aber noch Zukunftsmusik. Je mehr präzise Aussagen möglich werden, desto valider wird jedoch die Ernährungsmedizin. Diese macht bis jetzt ja recht allgemeine Aussagen, die für manche Menschen zutreffen, aber für viele eben auch falsch sein könnten, weil sie halt nicht für das Individuum, sondern nur für den Durchschnitt der Menschen gelten.

    ? Herr Professor Pfeiffer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

     
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    Bild: Thieme Verlagsgruppe

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    Bild: Digital Vision