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DOI: 10.1055/s-0029-1233427
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Plädoyer für eine differenzierte Unterscheidung zwischen Dunkler Nacht und Depression im Sinne des Johannes vom Kreuz Zum Beitrag von Kraetschmer K.
Publication History
Publication Date:
06 July 2009 (online)
Zum Beitrag von Kraetschmer K. Die Depressionsforschung am Beginn der Neuzeit und ihre Bedeutung für die Gegenwart: Johannes vom Kreuz. Psychiat Praxis 2009; 36: 85-88
In dem Beitrag "Die Depressionsforschung am Beginn der Neuzeit..." [1] legt Kurt Kraetschmer sehr kenntnisreich die Beschreibungen depressiver Zustände durch Johannes vom Kreuz dar. Dies ist zunächst sehr zu würdigen, weil dadurch deutlich wird, dass im Rahmen der spirituellen Tradition sehr früh, grundlegend bereits im Alten Mönchtum des 4.-6. Jahrhunderts, eine kenntnisreiche Sicht auf psychische Zustände und Entwicklungen zu finden ist. Dies liegt daran, dass für die geistliche Tradition Selbst- und Gotteserkenntnis die gleiche Bewegung beschreiben und daher die genaue und feine Beobachtung und Beschreibung psychischer Phänomene als wesentlicher Teil geistlicher Begleitung (Seelenführung) verstanden wurde.
K. Kraetschmer setzt nun in seinem Beitrag das Phänomen der Dunklen Nacht und die Depression gleich. Dies bestreite ich, weil es zwar Ähnlichkeiten in der Phänomenologie gibt, allerdings auch zu benennende Unterschiede. Dies zu beschreiben würde meinen Beitrag sprengen, deshalb darf ich auf die publizierten Beiträge eines interdisziplinären Symposions hinweisen, das das Institut für Spiritualität 2008 genau zu diesem Thema "Dunkle Nacht und Depression" veranstaltet hat [2].
In diesem Beitrag möchte ich beim zitierten Autor Johannes vom Kreuz ansetzen, denn es stimmt einfach nicht, dass Johannes nur an einer Stelle von "melancholia" spricht, wie K. Kraetschmer [1] behauptet. Die spanische Konkordanz der Werke weist neben der zitierten Stelle vier weitere Textbelege auf. Das scheint nicht viel zu sein, ist jedoch für das Verständnis der Dunklen Nacht entscheidend. Im 9.Kapitel des ersten Buches der Dunklen Nacht benennt Johannes Anzeichen wie man erkennt, ob eine Dunkle Nacht, eine Nachlässigkeit oder eine schlechte Gemütsverfassung - letztere meint Melancholie wie sich später zeigt - vorliegen. Unter anderem schreibt er: "Wenn man weder etwas von oben noch etwas von unten schmecken kann, könnte dies aber auch von einem Unwohlsein oder einer schwermütigen Gemütsverfassung [span.: melancholia] herrühren, denn letztere lässt den Menschen oft an gar nichts Geschmack finden. Darum sind [für die Dunkle Nacht] ein zweites Anzeichen [neben des Verlustes des Geschmacks] und eine zweite Vorbedingung erforderlich" [3]. Melancholie, wie er es nennt, und Dunkle Nacht sind sich im Sinne des Unwohlsein und des Geschmacksverlustes durchaus ähnlich, aber bei der Dunklen Nacht kommt die Sehnsucht nach Gott hinzu. "Mag in diesem Fall der Sinnenbereichauch sehr bedrückt und schlapp und schwach sein, um wirken zu können, so ist der Geist doch willig und stark" [4].
Im 4. Kapitel des ersten Buches spricht er hinsichtlich sexueller Fantasien davon, dass Menschen davon nicht befreit werden, "solange sie nicht von dieser Gemütsverfassung [Melancholie] geheilt sind. Das aber geschieht nicht, es sei denn, der Mensch tritt in die dunkle Nacht ein, die ihm allmählich alles entzieht" [5]. Hier wird also nicht nur unterschieden, sondern die Dunkle Nacht als Therapie zur Befreiung von Melancholie verstanden.
Ein Ergebnis des oben genannten Symposions - darin stimmten Psychologen/Psychologinnen und Theologinnen/Theologen überein - war, dass eine Differenzierung in der Betrachtung der Phänomene dazu beiträgt, Menschen in diesen Krisenerfahrungen besser helfen zu können. Die Dunkle Nacht bezeichnet eine spirituelle Krise, die auch heute noch vorkommt und weiter verbreitet ist als gemeinhin vermutet wird (prominentes Beispiel ist etwa Mutter Teresa von Kalkutta).
Michael Plattig, Münster
Email: plattig@gmx.de
Literatur
- 01 Kraetschmer K . Die Depressionsforschung am Beginn der Neuzeit und ihre Bedeutung für die Gegenwart: Johannes vom Kreuz. Psychiat Praxis. 2009; 36 85-88
- 02 Bäumer R . Plattig M . (Hrsg). "Dunkle Nacht" und Depression. Geistliche und psychische Krisen verstehen und unterscheiden. Ostfildern: Grünewald, 2008.
- 03 Johannes vom Kreuz . Die Dunkle Nacht. Vollständige Neuübersetzung. Freiburg: Herder, 1995: 62.
- 04 Johannes vom Kreuz . Die Dunkle Nacht. A.a.O.: 63.
- 05 Johannes vom Kreuz . Die Dunkle Nacht. A.a.O.: 45.