Gesundheitswesen 2009; 71(11): 707-708
DOI: 10.1055/s-0029-1242726
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Scientific Impact

M. Wildner
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Prof. Dr. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85762 Oberschleißheim

Email: manfred.wildner@lgl.bayern.de

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Publication Date:
23 November 2009 (online)

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„Miss alles, was sich messen lässt und mach alles messbar, was sich nicht messen lässt”. – so soll es Galileo Galilei (1564–1642) formuliert haben. Mit dieser Haltung zählt er mit Francis Bacon (1561–1626) und Rene Descartes (1596–1650) zu den Begründern eines rationalen, aufgeklärten Zeitalters. Dass diese Form wissenschaftlicher Herangehensweise an die Welt große Erfolge gezeitigt hat, ist unbestritten. Wir messen Längen und Zeiten, inzwischen mit atomarer Genauigkeit, im Größten (Galaxien) wie im Kleinsten (Mikrowelten und Nanowelten). Wir werfen unsere messtechnischen Netze über unser Ökosystem (Stichwort Klimawandel) genauso wie über komplexe psychometrische Fragestellungen, wie z. B. die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Und wir tun dies erfolgreich. So kann die Gretchenfrage nicht ausbleiben: Und wie steht es mit der Wissenschaft selbst?

Wissenschaft versucht, diesem (Selbst-)Anspruch gerecht zu werden. „Szientometrie” heißt der einschlägige Wissenschaftszweig, der sich mit wissenschaftlicher Forschung als solcher beschäftigt. Begründet wurde sie von Derek de Solla Price, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Yale Universität [1] und dem US-amerikanischen Bibliothekswissenschaftler Eugene Garfield. Dieser hatte bereits 1955 vorgeschlagen, wissenschaftliche Publikationen und ihre Zitationen systematisch zu erfassen [2] [3]. 1960 gründete er aufbauend auf dieser Idee der „Bibliometrie” das Institute for Scientific Information (ISI) und stellte 1963 den ersten, mit Fördermitteln des National Institute of Health (NIH) erstellten Science Citation Index (SCI) vor. In diesem wurden zunächst die Zitationen von naturwissenschaftlichen Fachartikeln ab 1945 gesammelt. Zitationen sind die Nennungen eines Fachartikels als Referenz in einem späteren Fachartikel. Hinzu kamen später Zitationen in den Sozialwissenschaften (Social Sciences Citation Index, SSCI; Zitationen ab 1956) sowie in den Geisteswissenschaften (Arts and Humanities Citation Index, A&HCI; Zitationen ab 1975). Nach Eugene Garfields Ausscheiden als Institutsleiter 1992 übernahm das ursprünglich kanadische Medienunternehmen Thomson Corporation das Institut und führt es als Thomson Scientific weiter. 2008 wurde von diesem Unternehmen auch die Nachrichtenagentur Reuters übernommen, was zu der Neubenennung als Thomson Reuters führte (www.thomsonreuters.com, „The world's leading source of intelligent information”).

Welche Fragen stellt die Szientometrie? Forschungsfragen der Szientometrie und der verwandten Forschungszweige Bibliometrie, Informetrie (Erforschung der Verbreitung von neuen Begriffen) und Webometrie (Untersuchung der diesbezüglichen Internetstrukturen) sind z. B.: Kann man wissenschaftliche Arbeit messen und vergleichen? Welche Faktoren beeinflussen die wissenschaftliche Quantität und Qualität? Wie ist wissenschaftliche Kooperation strukturiert? Welche Umsetzungen und Auswirkungen haben wissenschaftliche Erkenntnisse? Beeinflussen sich unterschiedliche Wissensgebiete gegenseitig?

„L’art pour l’art?” Abgehobene Wissenschaft um ihrer selbst willen? Wer in der Forschung, z. B. an den Universitäten, tätig ist, weiß, dass diese Art der „Wissenschaftsmessung” für das eigene Fortkommen und auch für das erfolgreiche Einwerben von Drittmitteln höchste praktische Relevanz hat. Zunächst ist es der „Journal Impact Faktor” (JIF) einer Zeitschrift, in der ein Forscher publiziert hat, der zentral ist. Dieser gibt an, wie häufig die Artikel eines 2-Jahres-Zeitraums im Durchschnitt im darauf folgenden dritten Jahr zitiert werden. Je höher dieser Impact Faktor, desto höher das wissenschaftliche Renommee der Zeitschrift. Bemerkbar macht sich dies z. B. bei Habilitationsverfahren und Lehrstuhlbesetzungen. Hier wird der Impact Faktoren der Veröffentlichungslisten der Bewerber aufsummiert, oder es werden die 5 wichtigsten Publikationen betrachtet, oder es wird zunehmend auch der „h-Faktor” gebildet. Der nach dem amerikanischen Physiker Jorge Hirsch benannte h-Faktor von z. B. 3 sagt aus, dass der Autor 3 Arbeiten publiziert hat, die selbst mindestens 3 Mal zitiert wurden. Damit soll ein Ranking der wissenschaftlichen Leistungen der Bewerber möglich werden.

Das dies nicht unumstritten ist, ist nachvollziehbar: Haben nicht große Fachbereiche mit reger wissenschaftlicher Publikationstätigkeit Vorteile gegenüber kleinen Fachgebieten? Wie steht es mit Fachgebieten, welche sich mit spezifischen gesellschaftlichen Fragestellungen beschäftigen, wie nationaler (Sozial-)Gesetzgebung und naturgemäß nur in der Landessprache veröffentlicht werden (JIF deutlich unter 1)? Sind sie nicht benachteiligt gegenüber Publikations- und damit Zitationsmöglichkeiten in Englisch, der derzeitigen weltweiten „lingua franca” der Wissenschaft, deren führende Zeitschriften einen JIF von 30 und darüber aufweisen? Und wie steht es mit Themen, die länger als zwei Jahre benötigen, um von der wissenschaftlichen Gemeinschaft rezipiert zu werden?

Hier klingt ein weiterer Aspekt derartiger Szientiometrie an, nämlich der der „Informationsexplosion” und der „wissenschaftlichen Halbwertszeit”. Dass die Quantität an wissenschaftlichen Publikationen seit dem 17. Jahrhundert mit einer Verdopplungsrate von 10–20 Jahren exponentiell ansteigt („Informationsexplosion”), wurde für Bücher von Fremont Rider [4] und für die Wissenschaft insgesamt von Derek De Solla Price gezeigt [1]. Etwa 1/3 der zitierten neuen Information eines Fachgebietes wird dabei von jeweils einigen wenigen „Kernzeitschriften” bereitgestellt. Im medizinischen Bereich wären u. a. die wohl bekannten Fachzeitschriften New England Journal of Medicine und The Lancet zu nennen. Umgekehrt zur „Informationsexplosion” nimmt die Zitierhäufigkeit neuer Artikel ebenfalls exponentiell ab, mit einer geschätzten Halbwertszeit von etwa 5 Jahren [5] [6]. Gleichzeitig gewinnt das Internet mit seinen überragenden Suchmöglichkeiten in wissenschaftlichen Datenbanken an Bedeutung. Sie wollen wissen, wie häufig Ihr letzter online-Artikel angesehen worden ist? Die „clicks” auf der Seite lassen sich problemlos zählen. Sie suchen wissenschaftliche Artikel eines Kollegen im Internet? Google scholar assistiert Ihnen (http://scholar.google.de/). Von besonderer Bedeutung für den „gewöhnlichen” Nutzer ist der kostenfreie Zugang der Datenbank „PubMed” der US-amerikanischen National Library of Medicine (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/ [7]). Schwerpunkt sind medizinische Artikel bezogen auf den gesamten Bereich der Biomedizin einschließlich öffentliches Gesundheitswesen, Psychologie, Biologie, Genetik, Biochemie, Zellbiologie, Biotechnologie u. s. w. Im deutschen Sprachraum übernimmt eine vergleichbare Funktion das 1969 gegründete Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (www.dimdi.de). Wissenschaftliche Fachzeitschriften bieten inzwischen neben der Publikation als Druck häufig vorab eine zeitnahe Internet-Publikation an (z. B. E-First) oder auch einen freien Zugang im Internet zu ausgewählten Artikeln als sog. „open access”-Publikation.

Festzuhalten ist eine erstaunliche Bereitschaft, Information bereitzustellen, auszutauschen und zu einer gemeinsamen wissenschaftlichen Sprache zu finden, die in Tokio genauso gesprochen und verstanden wird wie in Toronto, am MIT wie in München, in Harvard genauso wie in Heidelberg. Eine Mühe, die ihre Unvollkommenheiten aufweist und gleichzeitig ihre großen Erfolge. Es ist die Sprache der Wissenschaft und der Künste (einschließlich der „reinen Kunst” Musik), die Sprache von „Verstand” und „Herz”, welche global gesprochen und verstanden wird. Der gut gemeinte linguistisch inspirierte Versuch einer neuen Sprachschöpfung in Form der einheitlichen Weltsprache „Esperanto” Ludwik Lejzer Zamenhofs von 1887 hat sich dem gegenüber nicht durchgesetzt. Ist diese offenkundige Fähigkeit zur gemeinsamen Sprache für Verstand und Herz Hinweis auf eine Universalität des Menschlichen bei aller kultureller, zivilisatorischer und individueller Differenziertheit? Eine gewichtige Frage, zu der wiederum die Wissenschaft grundlegende Erkenntnisse beitragen kann und wird: z. B. in Form der Repräsentation von sprachlichen Begriffen oder Emotionen in neuronalen Strukturen. Eine interessante diesbezügliche Diskussion wäre, in wieweit die analysierende, auf Partikel und Subpartikel reduzierende Physik als Leitwissenschaft des 20. Jahrhunderts eine Ergänzung durch Wissenschaften finden wird, welche die zunehmende Komplexität des Lebendigen einschließlich des Wissens zum Gegenstand haben (Systemwissenschaften, Systembiologie, Evolutionsbiologie, Neurowissenschaften) [8] [9].

Konsequenzen für die Öffentliche Gesundheit? Dass die Beschäftigung mit dem Gesundheitswesen aus bevölkerungsmedizinischer Perspektive genau einen solchen Perspektivwechsel beinhaltet – von der reduktionistischen Sichtweise herkömmlicher Naturwissenschaft zur komplexen Sichtweise der Systemwissenschaften – ist beinahe eine Tautologie und liegt im „Forschungsgegenstand Gesundheitssystem” begründet. Wichtige befruchtende Impulse aus den oben genannten Wissenschaftszweigen sind zu erwarten, gerade auch für die Gesundheitswissenschaften und für die Praxis Öffentlicher Gesundheit. Dies stellt wiederum Anforderungen an die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Diese absehbare Entwicklung wird die naturwissenschaftliche Fundierung nicht in Frage stellen, sie jedoch in übergreifenden Zusammenhängen neu bewerten.

Offen bleibt, ob sich die „Wissenschaft und Praxis” von öffentlicher Gesundheit/Public Health mit der eingeführten Erfolgsmessung über den Social Sciences Citation Index (SSCI) zufrieden geben darf. Ende der 90er Jahre hat die Deutsche Koordinierungsstelle für Gesundheitswissenschaften an der Universität Freiburg Anstrengungen unternommen, den „Scientific Impact” durch einen „Practice and Policy Impact” zu ergänzen. Es handelte sich um den Versuch, das in der Praxis der Gesundheitsversorgung wie auch in ihrer politischen Gestaltung Bewirkte quantitativ abzubilden, analog zur Impakt-Messung im wissenschaftlichen Sektor.

Daran erkenn ich den gelehrten Herrn! Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern, was ihr nicht fasst, das fehlt euch ganz und gar, was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr, was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht, was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht!” So lässt Johann Wolfgang von Goethe im Faust II den Mephistopheles sprechen (Vers 4 917 ff.). Ob er schon eine Ahnung vom SSCI hatte? Dass die Fokussierung auf das Messbare und das Ausblenden des Nichtmessbaren auch eine „mephistophelische” Seite hat, sei damit in Erinnerung gerufen.

Und welche uns gerade eben nicht aus der Mühe um Erkenntnis entlässt. Im vorliegenden Heft bezieht sich dieses Mühen unter anderem auf Prävention und Gesundheitsförderung im 21. Jahrhundert, entscheidungsanalytische Modellierung im Kontext des deutschen Sozialrechts und als besonderen Schwerpunkt die komplexe Problematik multiresistenter Erreger.

Sie wollen den JIF von „Das Gesundheitswesen” wissen? Aktuell 0,746 mit leicht steigender Tendenz gegenüber dem Vorjahr – wir freuen uns auf Ihre Zitation!

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Literatur

  • 1 De Solla Price D. Little Science, Big Science. 1963 New York: Columbia University Press [Deutsch: Derek J. de Solla Price: Little Science, Big Science, Suhrkamp, 1974]
  • 2 Garfield E. Citation indexes for science.  Science. 1955;  122 ((3159)) 108-111
  • 3 Garfield E. Citation analysis as a tool in journal evaluation.  Science. 1972;  178 ((4060)) 471-479
  • 4 Rider F. The scholar and the future of the research library, a problem and its solution. New York, Hadham Press 1944 S. 8
  • 5 Umstätter W, Rehm M, Dorogi Z. Die Halbwertszeit in der naturwissenschaftlichen Literatur.  Nachr f Dok. 1982;  33 ((2)) 50-52 http://www.ib.hu-berlin.de/∼wumsta/pub18.html (Stand 31.01.2000), Zugriff am 20.09.2009 
  • 6 Száva-Kováts E. Unfounded attribution of the „Half-life” index-number of literature obsolescence to Burton and Kebler: A literature science study.  J Am Soc Inf Sci Tech. 2002;  53 ((13)) 1098-1105
  • 7 McEntyre J, Lipman D. PubMed: bridging the information gap.  Canad Med Ass J. 2001;  164 1317-1319
  • 8 Bamme A. Wird die Biologie zur Leitwissenschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts?.  Naturwissenschaften. 1989;  76 ((10)) 441-446
  • 9 Mayr E. Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1998
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Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85762 Oberschleißheim

Email: manfred.wildner@lgl.bayern.de

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Literatur

  • 1 De Solla Price D. Little Science, Big Science. 1963 New York: Columbia University Press [Deutsch: Derek J. de Solla Price: Little Science, Big Science, Suhrkamp, 1974]
  • 2 Garfield E. Citation indexes for science.  Science. 1955;  122 ((3159)) 108-111
  • 3 Garfield E. Citation analysis as a tool in journal evaluation.  Science. 1972;  178 ((4060)) 471-479
  • 4 Rider F. The scholar and the future of the research library, a problem and its solution. New York, Hadham Press 1944 S. 8
  • 5 Umstätter W, Rehm M, Dorogi Z. Die Halbwertszeit in der naturwissenschaftlichen Literatur.  Nachr f Dok. 1982;  33 ((2)) 50-52 http://www.ib.hu-berlin.de/∼wumsta/pub18.html (Stand 31.01.2000), Zugriff am 20.09.2009 
  • 6 Száva-Kováts E. Unfounded attribution of the „Half-life” index-number of literature obsolescence to Burton and Kebler: A literature science study.  J Am Soc Inf Sci Tech. 2002;  53 ((13)) 1098-1105
  • 7 McEntyre J, Lipman D. PubMed: bridging the information gap.  Canad Med Ass J. 2001;  164 1317-1319
  • 8 Bamme A. Wird die Biologie zur Leitwissenschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts?.  Naturwissenschaften. 1989;  76 ((10)) 441-446
  • 9 Mayr E. Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1998
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