Einleitung
Chronische Wunden am Unterschenkel – Ulcera crura – haben vielfältige Ursachen, an erster Stelle ist an eine venöse Genese zu denken, darüber hinaus an ein arteriosklerotisch bedingtes Ulkus, Diabetes mellitus mit diabetischem Fußsyndrom und Malum perforans (in der Regel im Fußbereich), bakterielle Infektionen, z. B. Mykobakterien-Infektionen [1 ], Tumoren, z. B. Plattenepithel- oder Basalzellkarzinome der Haut des Unterschenkels [2 ]
[3 ], ein entzündliches Geschehen, z. B. infolge einer Vaskulitis, das Pyoderma gangraenosum, um nur einige zu nennen. In der dermatologischen Wundambulanz der Universitätsklinik Essen-Duisburg erbrachte eine retrospektive Untersuchung von Patienten mit Ulcus cruris folgende Ätiologie: venöse Beinulzerationen 57 %, kombinierte arteriovenöse Ulzera (Ulcus crurum mixtum) bei 15 % und Vaskulitis mit 13 % an dritter Stelle [4 ]. Ausschließlich arterieller Genese waren 3,7 % der Ulzerationen. Insgesamt 16 verschiedene Ursachen des Ulcus cruris ließen sich nachweisen, jedoch fand sich interessanterweise in dieser universitären Wundambulanz kein posttraumatisches Ulcus cruris unter den 354 Patienten.
Posttraumatische Ulzerationen müssen demnach als relativ selten angesehen werden. Die Behandlung kann, insbesondere bei bakteriell infizierten posttraumatischen Ulzerationen des Unterschenkels, problematisch sein. Bei therapierefraktärem Verlauf ist der Einsatz der Biochirurgie mit Fliegenlarven der Spezies Lucilia sericata zur Reinigung der Ulzerationen, Wundgrundkonditionierung und Granulationsförderung möglich und – wie bei der hier vorgestellten Patientin – erfolgreich.
Patientenbeschreibung
Anamnese
Nach einem Sturz von der Treppe (9. 11. 2008) und mehreren Traumatisierungen an den Beinen traten bei der 62-jährigen Patientin zunächst Rötungen, Schwellungen und Hämatome an der rechten Wade und links prätibial auf. Anamnestisch bekannt ist eine vorbestehende Retropatellararthrose des rechten Kniegelenkes. Elf Tage nach dem Sturz, am 20. 11. 2008, stellte sich die Patientin in der Klinik für orthopädische Chirurgie an der Helios-Klinik Borna vor (ChA Dr. W. Knarse). Dort wurden eine Innenmeniskopathie des rechten Knies, eine Distorsion des rechten oberen Sprunggelenkes, eine Prellung der 5. Zehe rechts sowie eine ausgeprägte Spannungsblase an der rechten distalen Unterschenkelvorderseite diagnostiziert. Die Spannungsblase wurde unter sterilen Kautelen eröffnet und mit Pflaster abgedeckt. Für die funktionelle Behandlung der Distorsion wurden stabilisierende Verbände (elastische Wicklung) empfohlen. Im weiteren Verlauf entwickelten sich zwei hämorrhagische und eitrig belegte Wunden im Sinne von Ulcera crura. Die Patientin nahm wegen der Kniegelenksarthrose Dona 750 Opfermann Filmtabletten (Glucosaminhemisulfat) und wegen einer arteriellen Hypertonie Nebivolol 1A Pharma 5 mg Tabletten ein.
Bildgebende Diagnostik
Magnetresonanztomografie rechtes Kniegelenk (9. 9. 2008, vor der Traumatisierung/Sturz von der Treppe; Radiologische Praxis Dresden, Dres. Trübsach, Dalicho, Marin-Grez & Wojnicki): ausgeprägte retropatellare Chondropathie, laterale Seite Stadium II sowie medial Stadium III. Partielle Verletzung des vorderen Kreuzbandes mit leichtem Ödem. Keine komplette Ruptur. Kleiner retropatellarer Erguss und kleine Bakerzyste. Mukinöse Degeneration des Meniscus medialis. Regelrechte Darstellung des Meniscus lateralis, hinteres Kreuzband, Ligamentum collateralis medialis et lateralis.
Röntgen rechtes Sprunggelenk (10. 11. 2008, MVZ für Radiologie und Nuklearmedizin Leipziger Land, Borna, Dres. M. Beilicke , K. Steingrüber, B. Pero): Z. n. Distorsion. Regelrechte Stellung der Talusrolle in der Malleolengabel bei glatten gelenkbildenden Konturen und frei einsehbarem Gelenkspalt. Deutliche Weichteilschwellung über dem lateralen und medialen Malleolus. Regelrechte Knochenfeinstruktur. Kein Hinweis auf Fraktur.
Röntgen rechter Vorfuß (25. 11. 2008, MVZ für Radiologie und Nuklearmedizin Leipziger Land, Borna, Dres. M. Beilicke, K. Steingrüber, B. Pero): Fraktur des Grundgliedes von D 5 im distalen Drittel mit leichter Stauchung und Verdacht auf Gelenkbeteiligung. Keine sonstigen frischen knöchernen Verletzungen bei regelrechten Stellungsverhältnissen.
Röntgen rechtes Sprunggelenk, rechter und linker Unterschenkel (9. 1. 2009, MVZ für Radiologie und Nuklearmedizin Leipziger Land, Borna, Dres. M. Beilicke, K. Steingrüber, B. Pero): regelrechte Abbildung der ossären Strukturen und Konturen bei regelrechter Stellung im linken Kniegelenk und Sprunggelenk. Kortikalis glatt, kein Nachweis von Osteolysen, jedoch Weichteildefekt/DD Lufteinschluss in den dorsalen Unterschenkelweichteilen links. Rechter Unterschenkel: kein Anhalt für frische oder ältere traumatisch bedingte Läsion, keine altersbedingten degenerativen Veränderungen.
CW-Dopplersonografie (9. 1. 2009, Dipl.-Med. Christiane Wolf, Innere Medizin, Borna): Arteria dorsalis pedis und Arteria tibialis posterior beidseits normal. Kompressionssonografisch fand sich in der Umgebung der infizierten, nekrotischen Ulzerationen kein Anhalt für eine tiefe Venenthrombose oder eine Thrombophlebitis superficialis. Am rechten Unterschenkel imponierte in der Umgebung des Ulkus Flüssigkeit in den subkutanen Gewebsspalten, entsprechend einem Lymphödem. Letztlich schien kein Zusammenhang der Weichteilinfektionen mit einem Gefäßleiden der Unterschenkel/Beine zu bestehen.
Lokalbefund
Am rechten Unterschenkel prätibial sah man bei der Vorstellung am 11. 12. 2008 ein 3,5 × 3,5 cm messendes, tiefes, posttraumatisches Ulkus mit Hämorrhagien und Krusten, weißlich-gelben fibrinösen und schmierigen Belägen sowie ausgeprägten Infektionszeichen. Die Wundumgebung war erythematös, ödematös und überwärmt. Fieber und Schüttelfrost wurden nicht angegeben. An der linken Wade bestand ein gleichartiges Ulkus von 4 × 2,5 cm, welches neben den fibrinösen Belägen zusätzlich schwärzliche Nekrosen aufwies, außerdem ebenfalls Schwellung und Rötung der Wundumgebung ([Abb. 1 a ] und [b ]).
Abb. 1 a Am rechten Unterschenkel prätibial sah man vor Beginn der Larventherapie ein 3,5 × 3,5 cm messendes, tiefes, posttraumatisches Ulkus mit Hämorrhagien und Krusten, weißlich-gelben fibrinösen und schmierigen Belägen sowie ausgeprägten Infektionszeichen der Wundumgebung. b An der linken Wade bestand ein gleichartiges Ulkus von 4 × 2,5 cm, welches neben den fibrinösen Belägen zusätzlich schwärzliche Nekrosen aufwies, außerdem ebenfalls Schwellung und Rötung der Wundumgebung.
Abb. 2 Biochirurgische Behandlung mit Fliegenlarven (BioBag® ) zum Débridement. a Wunde am rechten Unterschenkel prätibial, b Ulcus cruris an der linken Wade.
Behandlung und Verlauf
Behandelt wurde bis dahin mit Hydrocolloid-Wundverband, 2 – 3 Tage belassen, außerdem mit Ciprofloxacin 2 × 500 mg per os. Die mikrobiologische Untersuchung erbrachte lediglich den Nachweis von Koagulase-negativen Staphylokokken ([Tab. 1 ]). Zum Ausschluss einer Abszessbildung bzw. Phlegmone erfolgte eine Sonografie. Lokal kam Iruxol® -Salbe (Clostridium-histolyticum -Proteasen) zur Wundbehandlung zur Anwendung, für die Wundumgebung Dexamethason 0,05 % Hydroxychinolinsulfuricum 0,1 %, Ungt. emulsificans aquosum SR ad 100,0 g. Aufgrund des klinischen Bildes einer bakteriell infizierten Wunde mit ausgeprägten Entzündungszeichen (Erythem, Ödem, Schmerzen) erhielt die Patientin Sultamicillin (2 × 1, Unacid® PD oral Filmtabletten). Die Wunden waren weiter massiv fibrinös und schmierig belegt, in den Kontrollabstrichen von den Ulzera waren jetzt (8. 1. 2009) diverse gramnegative und -positive Bakterien nachweisbar ([Tab. 1 ]). Zunächst kam eine zusätzliche antiseptische Lokalbehandlung zur Wundreinigung zum Einsatz. Verwendet wurde Prontosan® -C-Wundspüllösung, welche als aktiven antiseptischen Bestandteil Polihexanid, außerdem Undecylenamidopropyl-Betain als oberflächenaktive Substanz enthält.
Da der fibrinöse und nekrotische Wundbelag weiter persistierte, wurde am 9. 1. 2009 mit der biochirurgischen Behandlung mit Fliegenlarven (BioBag® , Firma BioMonde GmbH, Kiebitzhörn 33 – 35, D-22 885 Barsbüttel) zum Débridement und zur Reduktion der bakteriellen Infektion begonnen. Zunächst kamen BioBags® – biochirurgische Wundverbände –, die entweder 100 oder auch nur 50 lebende, aseptisch gezüchtete Larven von Lucilia sericata im Larvenstadium II enthielten, zur Anwendung ([Abb. 2 a ] und [b ]). Diese sog. biochirurgischen Wundverbände blieben für jeweils 3 bzw. 4 Tage auf der Wunde, welche täglich inspiziert wurde. Außerdem wurde die Patientin angehalten, die biochirurgischen Wundverbände mit steriler physiologischer Kochsalzlösung feucht zu halten. Ein dünner und nicht zu straffer Mullverband bildete den Abschluss nach außen.
In den ersten Nächten klagte die Patientin über starken Juckreiz und brennende, stechende Schmerzen in den Wunden und der Wundumgebung, sodass die Einnahme von Analgetika notwendig war. Die Compliance der Patientin, die aufgrund der nicht-heilenden Wunden einen hohen Leidensdruck empfand, war exzellent. Der Fibrin- und Bakterienbelag der bislang therapieresistenten Ulzerationen bildete sich unter der biochirurgischen Behandlung schnell zurück, sauberes und granulierendes Wundgrundgewebe wurde zentral sichtbar. Im z. T. unterminierten Randbereich der Ulzerationen blieben noch schmale Säume des Belags zurück ([Abb. 3 a ] und [b ]). Erst durch die Anwendung von sog. Freiläufern (BioMonde-Larven) ließ sich der Wundgrund vollständig reinigen. Während dieser lokalen biochirurgischen Behandlung erhielt die Patientin wegen der bakteriellen Infektion der Wunden zusätzlich Cefuroxim-Axetil, täglich 2 × 500 mg.
Als unerwünschte Nebenwirkung des Biobags ist eine Mazeration und leichte Erosion der ungeschützten Haut der Wundumgebung aufgetreten ([Abb. 3 a ] und [b ]). Diese hat jedoch keinen negativen Einfluss auf den weiteren Heilungsverlauf gehabt. Im Anschluss an die Biochirurgie, welche drei Applikationen von Fliegenlarven im Biobag über insgesamt 11 Tage umfasste, erfolgte die Konditionierung des Wundgrunds zur Granulationsförderung mit einem feuchten Wundverband mit Alginaten (3MTM TegadermTM Alginate) und Abdeckung der Wunde mit transparentem Hydroaktivverband AbsorbensTM . Die Wundumgebung wurde beim Verbandswechsel aller vier Tage mit Cavilon® -reizfreiem Hautschutz behandelt. Unter dieser feuchten Wundbehandlung kam es zu einer zügigen Granulation und langsamen Epithelialisierung der Wunden (3. 2. 2009, [Abb. 4 a ] und [b ]). Bakteriologisch waren zu diesem Zeitpunkt immer noch Proteus mirabilis und Enterobacter agglomerans nachweisbar. Deswegen kam beim Verbandswechsel Prontosan® -C-Wundspüllösung als Antiseptikum zur Anwendung. Bereits am 16. 3. 2009 waren beide Ulzerationen vollständig epithelialisiert und narbig verheilt ([Abb. 4 a ] und [b ]). [Abb. 5 a ] und [b ] zeigen den langfristigen Heilungsverlauf zum Zeitpunkt 9. 11. 2009, exakt ein Jahr nach dem Sturz von der Treppe und der Traumatisierung. Man sieht den völligen Wundverschluss, es besteht nahezu Beschwerdefreiheit, lediglich über seltene stichartige Sensationen im Wundbereich, möglicherweise als Folge der traumatischen und nekrotischen Hautnervenschädigung, berichtet die Patientin.
Abb. 3 Wundgrund nach zweimaliger jeweils viertägiger Anwendung der Larven (BioBag® ) mit deutlich erkennbarer Reduktion der Beläge und Nekrosen sowie beginnender Granulation des Wundgrundes. a Wunde am rechten Unterschenkel prätibial, b Ulcus cruris an der linken Wade.
Abb. 4 Zustand nach der biochirurgischen Behandlung am 16. 3. 2009, ca. 7 Wochen nach Beendigung der Larventherapie. a Nahezu epithelialisiertes Ulcus cururis mit leicht narbig aufgeworfenem Rand am rechten Unterschenkel prätibial, b Ulcus cruris an der linken Wade.
Abb. 5 Zustand genau ein Jahr nach der initialen Traumatisierung (Sturz von der Treppe). a Vollständige Heilung des Ulkus am rechten Unterschenkel prätibial, die neugebildete Haut ist leicht atrophisch, b völlig geheiltes Ulkus an der linken Wade.
Mikrobiologische Diagnostik ([Tab. 1 ])
Tab. 1 Mikrobiologische Untersuchung der posttraumatischen Ulzerationen im Zeitverlauf, getestet wurde auf aerobe und anaerobe Bakterien sowie Sprosspilze.
Abstrich vom
Datum Ulkus linker Unterschenkel dorsal Ulkus rechter Unterschenkel ventral
11. 12. 2008 Koagulase-negative Staphylokokken +++ Koagulase-negative Staphylokokken +++
8. 1. 2009
Proteus mirabilis +++
Klebsiella oxytoca +++ Enterokokken +++
Proteus mirabilis +++
Klebsiella oxytoca +++
18. 1. 2009
Proteus mirabilis +++
Enterobacter agglomerans +++
Proteus mirabilis +++
Enterobacter agglomerans +++
19. 1. 2009
Proteus mirabilis +++
Enterobacter agglomerans +++
Proteus mirabilis +++
Enterobacter agglomerans +++
26. 1. 2009
Proteus mirabilis +
Enterobacter agglomerans +++
Proteus mirabilis +
Enterobacter agglomerans +++
3. 2. 2009
Proteus mirabilis +++
Enterobacter agglomerans +++
Proteus mirabilis +++
Enterobacter agglomerans +
24. 2. 2009 kein Erregerwachstum kein Erregerwachstum
16. 3. 2009 kein Erregerwachstum Koagulase-negative Staphylokokken +++
23. 3. 2009 kein Erregerwachstum vergrünende Streptokokken +
Diskussion
Posttraumatische Ulzerationen müssen als selten angesehen werden. Häufig liegt eine kombinierte Genese des posttraumatischen Ulcus cruris vor, bei der hier vorgestellten Patientin war jedoch eine gleichzeitige chronisch-venöse Insuffizienz sonografisch ausgeschlossen. Nicht zuletzt die bakterielle Infektion der Wunden war verantwortlich für das Versagen der konventionellen lokalen und systemischen (Antibiotika-)Behandlung. Deshalb wurde nach einer alternativen Therapieoption gesucht und in der Biochirurgie gefunden. Die aktiv im beruflichen und privaten Leben stehende Patientin empfand die nicht-heilenden und schmerzhaften chronischen Wunden an beiden Beinen als extrem belastend, bedrohlich und einschneidend. Ihre Lebensqualität war stark beeinträchtigt, woraus eine sehr gute Compliance bei dieser therapeutischen Intervention resultierte. Im Umkehrschluss kam es nach der schnell eintretenden Besserung und Heilung der Wunden nach Beginn der Biochirurgie zu einer deutlichen Besserung des psychosozialen Allgemeinzustandes und einer umgehenden Wiederaufnahme des Alltags- und Soziallebens [5 ].
Biochirurgie mit Fliegenlarven
Die Larven- oder Madentherapie (englisch „maggots treatment”) sind synonym verwendete Begriffe [6 ]. Fliegen legen ihre Eier vorzugsweise in organischem Material ab, z. B. in Faeces, aber auch Aas oder, falls verfügbar und nicht abgedeckt, in Wunden. Jeder Dermatologe hat während der Sommerzeit schon Patienten mit chronischen Ulzerationen und einer sog. Wundmyiasis mit Fliegenlarvenbefall gesehen [7 ]. Erfahrungen mit der wundreinigenden Wirkung von Fliegenlarven hat man seit den napoleonischen Kriegen und dem amerikanischen Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg gab es systematische wissenschaftliche Untersuchungen zum Einsatz der Fliegenlarven, die man dann im Zweiten Weltkrieg in Amerika vor Einführung der Antibiotika in die Medizin im größeren Stile zur Wundreinigung von bakteriell infizierten Kriegsverletzungen verwendet hat.
Die Larven der gemeinen Stubenfliege der Spezies Lucilia sericata (zur Familie der Calliphoriden oder Schmeißfliegen gehörend) geben aus zwei Speicheldrüsen Verdauungssekret ab, dieses gelangt in die Umgebung und führt dort zur extrakorporalen Verdauung. Nekrotisches Gewebe und fibrinöse Wundbeläge, auch (bakterielle) Biofilme werden enzymatisch, vorzugsweise proteolytisch verdaut und dann von den Larven als Nährsubstrat aufgenommen.
Die Wundreinigung, das biochirurgische Débridement, beruht demzufolge auf der Wirkung dieser proteolytischen, d. h. nekrolytischen Enzyme. Vitales Gewebe wird interessanterweise vom Verdauungssekret nicht angegriffen [8 ]. Man geht davon aus, dass eine Fliegenlarve pro Tag bis zu 0,3 g nekrotisches Material aus der Wunde entfernen kann.
Antimikrobielle Wirkung der Biochirurgie
Chronische Wunden sind häufig bakteriell besiedelt, wenn Infektionszeichen (Rötung, Schwellung, Erwärmung, Schmerzen, Funktionseinschränkung) vorliegen, muss von einer bakteriellen Infektion der Wunde ausgegangen werden. Gjødsbøl et al. [9 ] untersuchten im Rahmen einer Studie das bakterielle Profil chronisch venöser Ulzera über einen Zeitraum von 8 Wochen. In allen Ulzera wurde eine polymikrobielle Besiedlung festgestellt. Am häufigsten wurden Staphylococcus aureus (93,5 % aller Wunden), Enterococcus faecalis (71,7 %), Pseudomonas (P.) aeruginosa (52,2 %), Koagulase-negative Staphylococci (45,7 %), Proteus -Spezies (41,3 %) und anaerobe Bakterien (39,1 %) nachgewiesen. In 76 % fanden sich zwei oder mehr (bis zu 5) Bakterienspezies gleichzeitig. Bei Staphylococcus aureus und P. aeruginosa handelte es sich zumeist um kolonisierende Bakterien. Mit P. aeruginosa kolonisierte Wunden waren signifikant größer als Wunden ohne Pseudomonas . In einer Untersuchung aus Deutschland zur bakteriellen Kontamination chronischer Wunden war bei 70,8 % der 79 in die Studie eingeschlossenen Patienten Staphylococcus aureus nachweisbar, es folgten P. aeruginosa, Escherichia coli, Proteus mirabilis, Enterococcus cloacae, u. a. 21,5 % der Patienten hatten eine MRSA (Methicillin-resistente Staphylococcus aureus )-Besiedlung [10 ].
Die Biochirurgie wirkt durch das Débridement und den Spüleffekt der gesteigerten Wundsekretion auch antimikrobiell, insbesondere besteht eine gute Wirksamkeit gegen grampositive Bakterien. Die Fliegenlarven verändern durch die Sekretion und Verdauung des nekrotischen Gewebes auch den Wund-pH-Wert zum Basischen, es werden antimikrobiell wirksame Peptide sowie antiseptische Substanzen, wie z. B. Ammoniak, Kalziumbikarbonat, Phenylazetat, Phenazetaldehyd in die Wunde abgegeben. Über eine immunmodulatorische Wirkung wird bislang spekuliert.
Die Larventherapie versagt bei mit P.-aeruginosa -kolonisierten Wunden. Diese gramnegativen Bakterien haben wahrscheinlich einen toxischen Einfluss auf die Larven. Eine aktuelle Studie verglich das Überleben von Lucilia-sericata -Larven in Anwesenheit von P. aeruginosa in einem Test, der auf der sog. Quorum-sensing -regulierten Virulenz beruht. Quorum sensing (QS) bezeichnet die Fähigkeit von Einzellern, über chemische Kommunikation die Zelldichte der Population messen zu können. Sie erlaubt es, den Zellen einer Suspension bestimmte Gene nur dann zu aktivieren, wenn eine bestimmte Zelldichte über- oder unterschritten wird. Verglichen wurden P.-aeruginosa -Wildstämme und P.-aeruginosa-QS -Mangelmutanten. Die Larven wurden durch P. aeruginosa abgetötet, die P.-aeruginosa-QS -Mangelmutanten jedoch zeigten lediglich eine Überlebensreduktion um ca. 25 % [11 ]. Darüber hinaus war die Bakterienaufnahme durch die Larven bei Anwesenheit von P. aeruginosa vermindert, nicht jedoch bei Verwendung der P.-aeruginosa-QS -Mangelmutanten. Die Sekretion/Exkretion (E/S) der Larven wurde auf QS-Inhibitoren analysiert. Nur hohe Sekretions- und Exkretionsdosen hatten einen hemmenden Effekt auf das QS von P. aeruginosa. P. aeruginosa hatte toxische Wirkungen auf die Fliegenlarven. Auch die verminderte Aufnahme von P. aeruginosa als die bevorzugte Nahrung der Larven kann das Versagen der Biochirurgie bei P.-aeruginosa -kolonisierten Wunden erklären. Stark mit P. aeruginosa kolonisierte Wunden stellen demzufolge eine Kontraindikation für die Larventherapie dar, es sei denn man kombiniert diese – wie auch hier geschehen – mit einer lokal antiseptisch und systemisch antibakteriell wirkenden Vorbehandlung.
Exkrete und Sekrete (E/S) der Larven von Lucilia sericata enthalten bioaktive Verbindungen, die zur klinischen Wirksamkeit der Biochirurgie beitragen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie [12 ] wies nach, dass die E/S von Lucilia sericata die Biofilm-Bildung durch Staphylococcus epidermidis auf chronischen Wunden verhindern und diesen auch beseitigen können. Die in dieser Studie verwendeten Staphylococcus-epidermidis -Stämme nutzten entweder das sog. polysaccharide intercellular adhesin (PIA) oder das accumulation associated protein (Aap) für die interzelluläre Adhäsion. Die ES-Aktivität war temperatur- und zeitabhängig, außerdem durch Hitzebehandlung inaktivierbar, die Auflösung des Biofilms hing zudem von der interzellulären Adhäsion ab. Die Größe der verantwortlichen Moleküle beträgt > 10 kDa, diese verfügen wahrscheinlich über Protease- oder Glukosaminidase-Aktivität. Die Autoren der Studie spekulieren darüber, dass man die E/S-Faktoren zukünftig ggf. zur Prävention der Biofilmbildung durch Staphylokokken einsetzen könnte.
Andererseits ist bekannt, dass die Larven von Lucilia sericata eine Symbiose mit bestimmten Bakterienarten eingehen, an erster Stelle mit Proteus mirabilis. Dieses gramnegative Bakterium bildet auf künstlichen Nährmedien typische ausschwärmende Kolonien. Die Bakterien bilden im sauren Milieu des Verdauungstraktes der Larven zudem ein bakterielles Toxin („Mirabilizid”), welches auf andere kolonisierende Bakterienspezies bakterizid wirkt, nicht jedoch die Fliegenlarven beeinträchtigt [8 ]. Die Gabe von systemischen Antibiotika, wie auch bei der vorgestellten Patientin, hat keinen hemmenden Einfluss auf die Fliegenlarven.
Stimulation der Wundgranulation durch Biochirurgie und experimentelle Therapieansätze
Die Stimulation der Wundheilung beruht direkt auf dem positiven Effekt des Débridements und der Reduktion der bakteriellen Besiedlung bzw. Infektion, aber auch auf bestimmten Wirkstoffen, wie Allantoin, Harnstoff und Wachstumsfaktoren. In-vitro-Untersuchungen an Zellkulturen von Fibroblasten wiesen einen potenzierenden Effekt des Speichels und von Ganzkörperextrakten der Lucilia-sericata -Larven auf die Stimulation durch EGF (epidermal growth factor) nach. Zudem werden durch die Fliegenlarven wahrscheinlich Zytokine freigesetzt.
Kürzlich wurde eine Pilotuntersuchung zum Einsatz der Larventherapie in einem experimentellen Ansatz bei einem Tiermodell mit kutaner Leishmaniose (Leishmania amazonensis) durchgeführt [13 ]. Verwendet wurden Nagetiere (Goldhamster; Mesocricetus aureatus der Familie der Muridae ), bei denen mit Lucilia-sericata -Larven eine Wundreinigung und -heilung – Verkleinerung der Fläche um 80 – 100 % innerhalb von 12 Stunden – erzielt wurde. Die Autoren spekulieren, dass die Biochirurgie eine potente Behandlungsoption bei kutaner Leishmaniose nicht nur in der Tiermedizin, sondern auch beim Menschen darstellen kann.
In einem experimentellen Modell einer Wunde an Schweinehaut verglich man in einer weiteren Studie die Effektivität der Larvenbehandlung mit Freiläufern und mittels Biobag, Letzteres ohne direkten Kontakt der Larven zur Wunde. Eine einzelne Larve war in der Lage, pro Tag ca. < 0,05 g nekrotisches Gewebe abzutragen, ohne dass sich ein Unterschied zwischen den Freiläufern und den Biobags fand, d. h. direkter Kontakt zum Gewebe ist keine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Biochirurgie. Da nach vier Tagen signifikant mehr Gewebe als nach drei Tagen metabolisiert wurde, scheint ein Applikationsintervall von vier Tagen das effektivste Débridement zu gewährleisten [14 ].
Klinische Wirksamkeit der Fliegenlarvenbehandlung
Bowling et al. [15 ] haben in einer Pilotstudie an 13 konsekutiv in die Klinik aufgenommenen Diabetikern mit MRSA-besiedelten Ulzerationen (diabetisches Fußsyndrom), die distal vom Malleolus lokalisiert waren, die Biochirurgie mit Fliegenlarven eingesetzt. Die mittlere Behandlungsdauer der Biochirurgie betrug 3 Wochen, das war deutlich kürzer, wenn man es mit der langwierigen konventionellen Behandlung der MRSA-besiedelten Ulzerationen vergleicht, diese dauert im Durchschnitt 28 Wochen (3 – 60 Wochen). Bei 12 von 13 Patienten (92 %) wurden MRSA vollständig von den Wunden eliminiert, die Wundgröße ließ sich in dem kurzen Zeitraum von 3 Wochen jedoch nicht signifikant verkleinern.
Eine kürzlich publizierte Studie hat ergeben, dass die Madentherapie der Standardtherapie bei chronischen Unterschenkelgeschwüren nicht überlegen ist [16 ]. So ist die Biochirurgie beim Ulcus cruris in Heilwirkung und in Bezug auf die Kosten-Nutzen-Analyse vergleichbar mit einer Standardbehandlung. Nicht schlechter, aber eben auch nicht besser. Die Patienten erhielten zur Entfernung des nekrotischen Gewebes entweder die Larventherapie oder Hydrogel, danach erfolgte in beiden Gruppen eine Standardtherapie. Die Hälfte der Patienten wurde mit Biochirurgie innerhalb von durchschnittlich 236 Tagen geheilt, im Vergleich zu 245 Tagen in der Hydrogel-Gruppe. Die Larventherapie war jedoch signifikant kürzer beim Débridement, also der Zeit, in der die Nekrosen und Beläge von den Ulzera beseitigt wurden. Lebensqualität und bakterielle Belastung (einschließlich multiresistenter Keime) waren in den beiden Gruppen nicht unterschiedlich. Allerdings klagten die Patienten der Larventherapie-Gruppe über doppelt so viel Schmerzen in den 24 Stunden vor dem ersten Verbandswechsel.
Dieselbe Studie wurde dann nochmals mit Blick auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis analysiert [17 ]. Die Autoren fanden, dass das Débridement von schmierig und nekrotisch belegten Unterschenkelgeschwüren mit Fliegenlarven einen ähnlichen gesundheitsfördernden Effekt und vergleichbare Kosten hat wie die Behandlung mit Hydrogel.
Eine Literaturrecherche zum Nutzen der Lucilia-sericata -Larventherapie wurde publiziert [18 ]. Die Fliegenlarvenbehandlung wird zum biochirurgischen Débridement von komplizierten, schlecht-heilenden chronischen Wunden der Haut und Weichteile eingesetzt, u. a. Druck-Ulzera/Dekubitus, variköse und neurovaskuläre Ulzerationen, traumatische Wunden und Brandwunden, jedoch auch bei Osteomyelitis. Große kontrollierte Studien sind zur Biochirurgie nicht durchgeführt worden. Schwerwiegende Nebenwirkungen der Fliegenlarventherapie sind nicht bekannt. Der Einsatz der Biochirurgie stellt eine wirksame und umweltfreundliche Therapieoption für chronische Wunden dar, bei denen die konventionelle Therapie versagt hat. In Zukunft sollte der Wert der Biochirurgie auch in frühen Stadien der Wundbehandlung geprüft werden.
Darüber hinaus gibt es Kasuistiken zum erfolgreichen Einsatz der Fliegenlarvenbehandlung. Van Veen [19 ] berichtete über eine 59-jährige Frau mit großflächigen Hautdefekten an den Beinen nach einem Autounfall. Da sie Zeugin Jehovas war, verboten sich operativ-chirurgische Eingriffe, welche mit Bluttransfusionen verbunden wären. Nach Rücksprache mit ihrer Familie kam zum Débridement der großflächigen Nekrosen an den Beinen die Larventherapie zum Einsatz, letztlich auch, um die Patientin vor einer Sepsis zu bewahren. Man setzte die Larventherapie einmal pro Woche über 6 Wochen ein. Der saubere Wundgrund war eine gute Voraussetzung für die Mashgraft-Transplantationen zur Defektdeckung. Dagegen war der Einsatz der Biochirurgie bei zwei Patienten mit Pyoderma gangraenosum nicht wirksam, die Fliegenlarven haben in diesen chronischen Wunden nicht überlebt [20 ].
Lokale antiseptische Behandlung mit Polihexanid
Die massive bakterielle Infektion der Wunden war eine Indikation für die antiseptische Lokalbehandlung mit Prontosan® -Wundspüllösung (B. Braun Melsungen AG, Melsungen, Deutschland) Diese enthält Polihexanid als aktiven antiseptischen Bestandteil, außerdem Undecylenamidopropyl-Betain als oberflächenaktive Substanz. Beim Polihexanid handelt es sich um ein polymeres Biguanid, das neben der breiten antimikrobiellen Wirkung gleichzeitig eine niedrige Toxizität aufweist [21 ]. Aufgrund seines günstigen toxikologischen Profils wird Polihexanid u. a. als Konservierungsmittel in Kontaktlinsenbehandlungsmitteln und Kosmetika verwendet, durch seine außerordentliche Gewebeverträglichkeit ist Polihexanid das Mittel der Wahl für die Konservierung von Wundspüllösungen. Polihexanid wird als modernes Antiseptikum zur Therapie chronischer, schlecht heilender Wunden sowie bei großflächiger Anwendung und sehr empfindlichen Wunden (z. B. Verbrennungen zweiten Grades) und Lavagen empfohlen [22 ]. Speziell bei chronischen Wunden ist die Antiseptik jedoch nur nach vorherigem Débridement bzw. chirurgischer oder biochirurgischer (Madentherapie) Wundrevision erfolgreich. Angemerkt werden muss, dass Prontosan® -C-Wundspüllösung nur zur antimikrobiellen Reinigung von Hautarealen wie Eintrittspforten urologischer Katheter und PEG-Sonden zugelassen ist, aber nicht zur antiseptischen Spülung von Wunden, d. h. es handelte sich hier um einen „Off-label-use”.
Undecylenamidopropyl-Betain dagegen stellt ein amphoteres Tensid mit sehr guter Reinigungswirkung und guter Hautverträglichkeit dar. Die Wirkung beruht auf der Reduktion der Oberflächenspannung wässriger Lösungen, wodurch kontaminierte Oberflächen schneller benetzt werden können, sie quellen dadurch rascher auf und lassen sich leicht von der Wunde ablösen. Die Wunde wird auf diese Weise effektiv gereinigt und den Bakterien, insbesondere MRSA, der Nährboden entzogen.
Kostenerstattung der Biochirurgie
Biochirurgische Wundverbände sind aktuell in Deutschland als Rezepturarzneimittel klassifiziert. Sie dürfen nur bei Vorliegen einer Verschreibung des behandelnden Arztes individuell für einen Patienten hergestellt werden. Eine Erstattung durch die gesetzliche Krankenkasse erfolgt nicht. Die Patientin hat nach erfolgreicher Behandlung mit den Fliegenlarven die Behandlungskosten (lediglich 187 €, da anfangs auf kostenlose Muster der Herstellerfirma zurückgegriffen werden konnte) von der Krankenkasse zurückverlangt. Dem wurde nicht stattgegeben, auch die nächste Instanz, der medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) in Sachsen lehnte die Erstattung ab. Alternativ wurde empfohlen, ohne dass die Patientin gesehen wurde, mit rekombinantem Wachstumsfaktor Becaplermin (PDGF-RB, Beta-type Platelet-derived Growth Factor Receptor, Regranex® 0,01 % Gel) zu behandeln. Kurioserweise ist diese Lokaltherapie teurer (Preis laut Roter Liste für 15 g 453,33 €) als die Biochirurgie. Gegen diese Therapieoption spricht auch, dass dieser Wachstumsfaktor für die fibrinös und nekrotisch belegten Wunden nicht indiziert war. Zudem datiert vom 6. 6. 2008 eine FDA (U.S. Food and Drug Administration)-Warnung für Regranex® -Gel 0,01 % (Becaplermin) hinsichtlich eines erhöhten Krebsrisikos für Patienten, die drei und mehr Tuben angewendet haben.
Fazit für die Praxis
Für chronische Wunden mit schlechter Heilungstendenz und sekundärer bakterieller Infektion stellt die Biochirurgie mit Fliegenlarven (Lucilia sericata) eine wichtige und in der Regel erfolgreiche Therapieoption dar. Die Behandlung bewirkt ein effektives Débridement, außerdem wird die bakterielle Infektion und Kontamination der Wunden reduziert. Eine relative Kontraindikation stellt die massive Besiedlung der Ulzerationen mit P. aeruginosa dar, da diese gramnegative Bakterienspezies toxische Wirkungen auf die Fliegenlarven ausübt. Eine zusätzliche antiseptische Wundbehandlung mit Polihexanid, welches eine breite antimikrobielle Wirksamkeit aufweist und die Wundheilung nicht hemmt, hat wesentlich zum Erfolg beigetragen. Die anschließende feuchte Wundbehandlung mit Alginaten förderte die Granulation des Wundgrundes und führte zur Heilung. Nicht zuletzt hat die biochirurgische Behandlung parallel zur schnell eingetretenen Heilung der chronischen Wunden zu einer merkbaren und sichtbaren Besserung der Lebensqualität der Patientin geführt.