Pädiatrie up2date 2010; 5(2): 119-137
DOI: 10.1055/s-0029-1244134
Sozialpädiatrie

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Körperliche Kindesmisshandlung und Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen

Bernd  Herrmann
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Publication Date:
29 June 2010 (online)

Einleitung

Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen scheinen allen epidemiologischen Arbeiten nach häufig zu sein. Aus klinischer Erfahrung werden sie jedoch deutlich zu selten diagnostiziert. Das mag darin begründet sein, dass die Konfrontation mit Gewalt an Kindern und Jugendlichen ein emotional belastendes und oft mit fachlichen Unsicherheiten behaftetes Thema ist. Misshandlungen und Vernachlässigungen haben jedoch beträchtliche Auswirkungen auf die seelische und physische Gesundheit und Entwicklung. Sie sind mit einem erheblichen Ausmaß an individuellem Leid, Kränkung, seelischer Schädigung und stark belasteten Lebensläufen behaftet. Sie haben somit eine hohe gesellschaftliche Bedeutung und führen nebenbei auch zu hohen ökonomischen Folgekosten. Für alle ambulanten und stationären Einrichtungen, die Kinder medizinisch versorgen, muss Kinderschutz grundsätzlich ein Teil ihres Verantwortungsbereiches sein. Insbesondere Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin sind gefordert, als fachlichen Standard ein den lokalen Strukturen angepasstes Vorgehen in Verdachtsfällen zu etablieren. Dieses sollte einen strukturierten, verbindlichen Handlungspfad mit leitlinienkonformer Diagnostik und Dokumentation umfassen. Vorteilhaft ist darüber hinaus die Etablierung einer Kinderschutzgruppe, die die Ressourcen verschiedener Professionen nutzt [1] [2] [3].

Medizinischer Kinderschutz

Kinderschutz im medizinischen Kontext ist eine komplexe Subspezialität, die die Expertise und Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen umfasst: Kinder- und Jugendärzte, Sozial- und Neuropädiater, Kinder- oder Unfallchirurgen, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeuten, Rechtsmediziner, Kinder- und Jugendgynäkologen, Radiologen, Augenärzte, aber auch Mitarbeiter der Pflege und des Sozialdienstes. Bei einer körperlichen Misshandlung spielen Ärzte eine herausragende Rolle für die Diagnosestellung. In der Klinik müssen Befunde, die auf eine Misshandlung oder Vernachlässigung hinweisen, durch eine gezielte und rationale Diagnostik und Beobachtung geklärt und gegen eine Reihe von Differenzialdiagnosen abgegrenzt werden. Zudem müssen die psychosozialen Faktoren berücksichtigt werden [4] [5].

Merke: Die Diagnose einer körperlichen Kindesmisshandlung erfordert spezifische somatisch-forensische Fachkenntnisse über gängige Misshandlungsverletzungen und -konstellationen, Differenzialdiagnosen, rationales diagnostisches Vorgehen, Kenntnis der psychosozialen Faktoren, Rechtssicherheit und Interventionsstrategien.

Bei sexuellem Missbrauch wiederum trägt die ärztliche Untersuchung nur in Ausnahmefällen zur Diagnosefindung bei. Dennoch kann sie bedeutsam für die seelische Entlastung der Opfer sein, indem ihnen physische Integrität kompetent bestätigt wird. Erst in der Adoleszenz erhält die forensische Befunddokumentation und Beweismittelsicherung eine zunehmende Bedeutung.

Psychosoziale Aspekte

Bei der Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten und somatisch nicht fassbaren seelischen Folgen von Misshandlungen und Vernachlässigungen sind Sozialpädiater und Neuropädiater, Kinder- und Jugendpsychologen und Kinder- und Jugendpsychiater befasst, Neuropädiater auch im Bereich der Rehabilitation. Präventive Ansätze und Aspekte der Früherkennung lassen sich u. a. im Bereich der gynäkologischen Schwangerenvorsorge und der postnatalen Betreuung durch Hebammen ansiedeln.

Rolle des niedergelassenen Kinderarztes

Im ambulanten niedergelassenen Bereich liegt der Schwerpunkt, oft noch vor der manifesten Misshandlung, im Erfassen von gestörten Eltern-Kind-Beziehungen und Risiken sowie der Ressourcen der Familie. Dazu kommen die Verlaufsbeobachtung unklarer oder verdächtiger Konstellationen und schließlich die Überleitung in den stationären Bereich bei akuten konkreten Verdachtsfällen. In der statistisch am meisten gefährdeten Altersgruppe der Säuglinge und Kleinkinder sind Kinder- und Jugendärzte oft die einzigen außerfamiliären Kontaktpersonen, die Kinder in ihrem beruflichen Kontext regelmäßig sehen. Daraus ergibt sich eine große Chance, aber auch Verantwortung, Anzeichen für eine Misshandlung oder Vernachlässigung rechtzeitig zu erkennen und Hilfen einzuleiten [6].

Gratwanderung

Das bedeutet wie bei vielen Diagnosen jedoch zunächst, überhaupt daran zu denken und den Gedanken zuzulassen, dass Eltern unter Umständen ihre eigenen Kinder schwer schädigen. Nicht selten empfinden Ärzte, die sich mit einer möglichen Misshandlung konfrontiert sehen, ihre Rolle als Gratwanderung zwischen einer Unter- und Überdiagnose. Beides kann zu verheerenden Konsequenzen für die betroffenen Kinder oder Familien führen. Professionelles Handeln bedeutet somit eine hohe Verantwortung und erfordert fachlich solides, fundiertes Wissen, die Kenntnis von Handlungspfaden und Interventionsmöglichkeiten sowie der rechtlichen Rahmenbedingungen. Aufgrund der Komplexität der meisten Fälle ist eine multiprofessionelle Kooperation unabdingbar und fachlicher Standard. Sie beginnt – wie oben erwähnt – häufig bereits durch das Zusammenbringen der Expertise unterschiedlicher medizinischer Fachrichtungen [7].

Kinderschutz in der Medizin grundsätzlich Bestandteil kindermedizinischer Einrichtungen („obligat”) Diagnose Misshandlung in Betracht ziehen („emotionale Bereitschaft”) somatisch-forensische Kenntnisse erforderlich („fachliche Kompetenz”) rationale Diagnostik & Differenzialdiagnose („leitliniengerecht”) Kenntnis von Handlungspfaden und Ressourcen („Kinderschutzinfrastruktur”) multiprofessionelles Handeln unabdingbar („A & O im Kinderschutz”) Kenntnis der rechtlichen Rahmenbedingungen („Rechtssicherheit macht handlungssicher”) unterschiedliche Rollen und Möglichkeiten verschiedener medizinischer Professionen („Wer kann was?”)

Literatur

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Dr. med. Bernd Herrmann

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