NOTARZT 2010; 26(4): 163-164
DOI: 10.1055/s-0030-1248491
Berufspolitik

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EuGH lässt generelle Ausschreibungspflicht offen

European Court of Justice Leaves Open the Award of Public Service ContractsP.  Hennes1
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Publication Date:
13 August 2010 (online)

Der Berg kreißte und gebar eine Maus – nach großem Vorgeplänkel und bereits erfolgten Abgesang auf den deutschen Rettungsdienst liegt nunmehr die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 29. April 2010 im Verfahren C-160 / 08 vor (Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundessrepublik Deutschland, da diese Aufträge für „öffentliche Krankentransportleistungen” nicht öffentlich ausgeschrieben bzw. nicht transparent vergeben und keine Bekanntmachungen über vergebene Aufträge veröffentlicht hat). Es gilt bei der Lektüre zu beachten, dass der Gerichtshof in seiner rechtlichen Würdigung des „Rettungsdienstes” eine eigene Begriffsbestimmung „öffentliche Krankentransportleistungen” eingeführt und verwendet hat (s. Nr. 1).

Jetzt sind also die Würfel gefallen – eine Vorbemerkung sei erlaubt. Allen Unkenrufen und vielen nach wie vor ängstlichen Kommentaren zum Trotz („EU macht Deutschen Roten Kreuz das Leben schwer”): man kann keinesfalls von der schon übereifrigen Schlussfolgerung ausgehen, der deutsche Rettungsdienst müsse in Zukunft mit einer Zunahme von Rettungsdienstausschreibungen rechnen. Die vom EuGH gerügte fehlende Bekanntmachung der Vergabe von Aufträgen lässt keinesfalls den Schluss zu, dass eine davor liegende Vergabe dann ebenfalls zwingend vorher bekannt sein muss, also eine Ausschreibung logisch vorangehen müsse! Und ob die Entscheidung vom 29. April zu mehr Wirtschaftlichkeit und Qualität im Rettungsdienst führen werde, mag ebenso dahinstehen.

Zur Erinnerung: der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 25. Oktober 2001 im Verfahren C-475 / 99 einen „Schutz” der etablierten Leistungserbringer in Anwendung einer Ausnahme nach Art. 90 Abs. 2 EGV an die Voraussetzung geknüpft, dass diese ihrerseits die Nachfrage im Bereich der Leistungen des Notfall- und Krankentransports qualifiziert decken können – was heißt das anders als dass die Luxemburger Richter schon damals nur einen wirtschaftlichen und qualitativen Rettungsdienst für schutzwürdig gehalten haben. Diese Prämisse ist offenbar nicht immer so richtig gelesen und umgesetzt worden!

Aus keiner Stelle der Entscheidung ist ein ausdrückliches Gebot zu einer generellen Ausschreibungspflicht für den Rettungsdienst in der Bundesrepublik Deutschland herauszulesen.

Es bleibt vielmehr festzuhalten.

Das Verfahren betrifft nur die Länder, in denen das sog. „Submissionsmodell” Anwendung findet (s. Nr. 23 und 88), und hier auch wieder nur die Länder Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen (s. Nr. 26 und 111). Zudem hat der EuGH „nur” eine Verletzung bestimmter Vorschriften in den Richtlinien 92 / 50 und 2004 / 18 im Bezug auf die Unterlassung einer Veröffentlichung der Bekanntmachungen über die Ergebnisse des Verfahrens zur Auftragsvergabe festgestellt (s. Nr. 131).

Folglich sind auch nur diese Länder betroffen (siehe Nr. 50 und 51, Verstöße wurden nur in diesen Ländern gerügt, eine Ausdehnung bedeutet eine unzulässige Klageänderung). Es ist also völlig unzulässig, irgendwelche Konsequenzen und zudem noch für eine allgemeine Ausschreibungspflicht auf alle 16 Länder einzufordern.

Der EuGH hat zwar ausdrücklich die Frage der Bereichsausnahme nach Art. 45 Abs. 1 i. V. mit Art. 55 EG angesprochen und deren Vorliegen für den deutschen Rettungsdienst verneint, da insoweit „keine unmittelbare und spezifische Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt” gegeben sei (s. Nr. 72 ff., insb. Nr. 82 und 86). Mit welcher Berechtigung wird daraus der Schluss auf eine absolute und umfassende, bundesweite Ausschreibungspflicht gezogen? Es erscheint schon fast etwas weltfremd, den Richtern des EuGH zu unterstellen, dass sie zwar die gerügte Verletzung der Bekanntmachungspflicht feststellen. Es dann aber unterlassen haben sollten, sich in ebenso gleicher Deutlichkeit zu der Schlussfolgerung einer Ausschreibungspflicht aus der Verneinung der „Bereichsausnahme” zu äußern.

In diesem Kontext erscheint auch ein Hinweis auf die Nr. 125 ff. zur Frage der Anwendbarkeit des „Rechtfertigungsgrundes” nach Art. 86 Abs. 2 EG erforderlich. Der Gerichtshof lässt insoweit die Frage der weiteren Anwendbarkeit seiner o. g. Entscheidung in Sachen Ambulanz Glöckner offen. Er hat lediglich klar gestellt, dass ein Mitgliedsstaat, der sich auf diese Rechtfertigungsgrund berufen will, dessen Tatbestandsmerkmale nachweisen muss. Wenn ein solcher Nachweis erbracht wird, kann daher auch in Zukunft eine Anwendbarkeit des Art. 86 Abs. 2 EG durchaus in Betracht kommen – ließe das nicht dann den Schluss zu, dass die Richter in einem solchen Fall eine absolute Ausschreibungspflicht nicht für anwendbar erklären, da diese im Grunde genommen einen durchaus gewollten und rechtlich legitimierten „Schutz” der bisherigen Anbieter ad absurdum führen würde? Und in diese Logik passt dann auch die Feststellung des Gerichts, dass die bloße „Verpflichtung, die Bekanntmachung der Ergebnisse der Vergabe des betreffenden Auftrages zu gewährleisten” nicht die Erfüllung einer dieser (sic geschützten!) Aufgabe von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse verhindern kann (s. Nr. 129).

Letztlich dient diese Bekanntmachung „nur” dem allgemein geltenden rechtsstaatlichen Gebot der Transparenz von Verwaltungsverfahren – mit oder ohne förmliche Ausschreibung. Dieses Transparenzgebot hat der EuGH im Übrigen bereits in der genannten Entscheidung vom 25. Oktober 2001 angesprochen: Beim „Schutzkriterium” der Verbände hat das Gericht ausdrücklich angemahnt, dass Entscheidungen der zuständigen Behörden unabhängig von den Interessen der zu beauftragenden (und damit letztlich zu schützenden) Institutionen zu erfolgen habe, also mit anderen Worten eine Unabhängigkeit gesichert, Befangenheit ausgeschlossen sind. Will und soll die in Rede stehende Bekanntmachung nicht auch dieses Ziel erreichen? Und ist die Rechtsprechung des EuGH insoweit nicht durchaus schlüssig?

Die in diesem Zusammenhang in Rede stehendem Nr. 127 i. V. mit Nr. 128 sind – unabhängig von der Frage Ausschreibung Ja oder Nein – insoweit von großem Interesse, als der Gerichtshof durchaus das Argument anerkennt, den erforderlichen Maßnahmen komme ggf. eine Bedeutung zu, „was die Vorhaltung von ortsnahen und im Not- oder Katastrophenfall leicht zu mobilisierenden Personal voraussetze”. Hier ist nun tatsächlich die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass – eine Ausschreibungspflicht einmal vorausgesetzt – der Auftraggeber die Gewährleistung des Katastrophenschutzes einbeziehen kann.

Fazit dieser ersten vorläufigen Beurteilung einer letztlich „offenen” Entscheidung: der EuGH hat sich zur bei uns schon fast weltanschaulich geführten Diskussion einer zwingenden bundesweiten Ausschreibungspflicht für Leistungen des Rettungsdienstes nicht eindeutig geäußert. Im Gegenteil lässt seine Beschränkung auf eine Rüge der Verletzung von bloßen Bekanntmachungspflichten in Verbindung mit der Beibehaltung eines möglichen Rechtfertigungsgrundes nach Art. 86 Abs. 2 EG sogar den Schluss zu, dass der Gerichtshof eine solche zwingende Ausschreibungspflicht nicht gesehen hat, Folglich sie auch nicht dezidiert „vorschreiben” konnte und wollte. Daher ist die auch von der Mehrzahl der Bundesländer geäußerte „Warnung vor einem vorauseilenden Gehorsam” durch übereilte Ausschreibungen nach wie vor voll gerechtfertigt. Die Luxemburger Richter werden die Diskussion in Deutschland über die Auslegung ihres Urteils vom 29. April 2010 sicher verfolgen. Und dann die Gelegenheit ergreifen können und werden, bei nächster Gelegenheit sich dann endgültig in dem einen oder anderen Sinne zu positionieren. Warten wir es also ab – wie bei so vielen Fragen, deren Lösung im deutschen Rettungsdienst anstehen.

Es entspricht der üblichen „politischen Korrektheit” höchstrichterliche Urteile nur in Maßen zu kritisieren. Dennoch seien hier einige abschließende Anmerkungen erlaubt.

In der Nr. 1 fällt die bereits erwähnte Wortschöpfung „öffentliche Krankentransportleistungen” schon auf. Es ist nicht recht ersichtlich, warum die in Deutschland übliche Terminologie mit „Notfall- und Krankentransport” (oder vergleichbar) aufgegeben wurde. Der Begriff „Krankentransport” ist bei uns der feststehende Fachausdruck für Beförderungen außerhalb der eigentlichen „Notfallrettung”. Auch in Nr. 20 ist die Bezeichnung „Trennungsmodell” ein etwas ungewohnter Ausdruck. Erstens ist mit dem Terminus „Trennmodell” eigentlich die „getrennte” Durchführung von Notfall- und Krankentransport angesprochen. Und die Bezeichnung „Trennungsmodell” für die unterschiedliche Beauftragung des „öffentlichen Rettungsdienstes” und der Wahrnehmung dieser Aufgabe außerhalb dieses Systems durch private Unternehmer ist im Grunde genommen recht unbekannt. Die Wahrnehmung „medizinischer Leistungen” beim Notfalltransport nach Nr. 22 wird wohl in aller Regel nicht von „Rettungssanitätern”, sondern von „Rettungsassistenten” erbracht. Auch das kann zu Missverständnissen führen!

Dr. jur. Peter Hennes

Zum Schiersteiner Grund 10

55127 Mainz

Email: hennes@rettungswesen.info