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DOI: 10.1055/s-0030-1250343
© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG
Der Herbst des Lebens
Publication History
Publication Date:
19 October 2010 (online)
Wenn Sie dieses Heft in Händen halten, färben sich die Blätter bunt. Mancher mag sich auf einige schöne Herbsttage freuen, viele werden bedauern, dass der Sommer zu Ende geht, die grauen Tage beginnen, vielleicht rückblickend bedauern, was ihnen an schönen Tagen entgangen sein mag, durch die Umstände, das Wetter, eigenes Hinzutun.
Ähnlich geht es den Menschen im Herbst ihres Lebens. Manche freuen sich an dem, was noch möglich ist, viele blicken voll Wehmut zurück und ängstlich nach vorn. Keine einfache Zeit!
Arno Geigers Titelfigur in seinem neuen Roman Alles über Sally hat sich in diesem Kampf viel vorgenommen: „An den Oberarmen saß die Haut schon lose, aber darunter glitten sichtbare Muskeln. Sally betrieb Sport, sie ging Laufen. Es war ein langsamer Stellungskrieg gegen die Schwerkraft der Verhältnisse, eine zähe Schlacht, bei der nichts gewonnen, aber viel verteidigt wurde: sie wollte langsamer verlieren als andere.“ Das ist es wohl, was das Altwerden so schwer macht: Die zunehmenden Einschränkungen in vielen Lebensbereichen, manchmal schleichend, dann plötzlich von einem Tag auf den anderen. Und die Gewissheit, dass letztlich der Kampf irgendwann doch verloren ist.
Und dann ist es viel Vorweggenommenes. Im Grunde leiden die Patienten an 2 Dingen: Entweder sprechen sie von und leiden an der Vergangenheit, was alles falsch war, was alles schlimm war, wie die Umstände, die Menschen ihnen mitgespielt haben. Die andere Karte, die oft von der gleichen Person gespielt wird, ist die Angst vor der Zukunft: Was alles schlimm werden könnte, wovor man sich zu fürchten habe, wie denn das werden solle usw. Immer mehr Menschen sind in dieser Hinsicht aus der Zeit gefallen, sie leben nicht mehr in der Gegenwart, sondern in Vergangenheit oder Zukunft oder beidem zugleich. Das vergrößert das Leiden an objektiven Funktionsausfällen und Krankheiten. Ich selbst erinnere mich gut daran, wie ich mit 25 Jahren zum ersten Mal die Empfindung hatte, alt zu werden. Wie läppisch erscheint diese Furcht heute! Aber genau so geht es unseren Patienten. Wenn es gelingt, aus diesem Wechselbad aus Enttäuschung und Furcht herauszukommen, tut sich die Möglichkeit auf, mit den Funktionsverlusten umzugehen.
Hier ist uns die chinesische Medizin mit ihrem Phasenverständnis eine wirksame Hilfe. Versteht man die Welt, das Leben allgemein und individuell als Fortschreiten in den Phasen, so wird es leichter, Änderungen zu akzeptieren, da jede Phase im neuen Gewand ihre guten Seiten darbietet. So ist es auch mit der Wandlungsphase Metall, der in der chinesischen Medizin die Organe Lunge und Dickdarm und in der Jahreszeit der Herbst zugeordnet ist.
Jochen Gleditsch hat in seinem wunderbaren Buch Reflexzonen und Somatotopien zusammengefasst, was diese Wandlungsphase in ihren psychischen Qualitäten ausmacht: „Durchlässigkeit, Austausch, Umwandeln des Hereingenommenen, Loslösung und Hergabe. Dem phasenweisen Atemvorgang mit seinem Inspirium und Exspirium gleicht die analoge psychische Fähigkeit der Inspiration, Intuition und Kreativität… erst durch das Loslassen wird das Wesentliche, die Essenz gewonnen“.
So es dem alternden Menschen, im 30. und im 80. Lebensjahr, gelingt, diesen Umwandlungsprozess bewusst zu gestalten, verliert das Alter seinen Schrecken und ist mehr, als nur den verlorenen Posten zu verteidigen. Es gibt etwas Wesentliches zu gewinnen. Als Ärzte können wir das unseren Patienten nur vermitteln, wenn wir es ein Stück weit selbst leben. Dies zu vermitteln, ist Teil einer wohlverstandenen Naturheilkunde i. S. der Ordnungstherapie. Und so bietet diese Ausgabe eine breite Palette komplementärmedizinischer Möglichkeiten bis hin zur künstlerischen Arbeit mit Hochbetagten. Mehr als jeder andere Abschnitt des Lebens erfordert das Alter den Schritt ins Geistige.
Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne viel Freude mit diesem Heft.
Wolfram Stör