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DOI: 10.1055/s-0030-1253301
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
S3-Leitlinie der AWMF – Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen
Publication History
Publication Date:
07 April 2010 (online)
- Hintergrund
- Methodik
- Wirksamkeit
- Behandlungsvorbedingungen
- Vorbereitung
- Langzeitanwendung
- Verlaufskontrolle und Dokumentation
- Langzeitfolgen
Auszüge der für die ärztliche Praxis relevanten Empfehlungen der neuen "Opioidleitlinie (LONTS)" sind im Folgenden dargestellt. Die Kurz- und Langversion der Leitlinie AWMF 041 / 003 ist im Internet (leitlinien.net) eingestellt.
Opioidanalgetika sind aus der heutigen Schmerztherapie nicht mehr wegzudenken. Es gibt körpereigene Opioide, die eine Rolle bei der Schmerzunterdrückung im Rahmen der Stressreaktion spielen sowie therapeutisch zugeführte wie das Morphin als der älteste und bekannteste Vertreter. Das Wirkspektrum der Opioide ist komplex und unterschiedlich. Neben der hauptsächlichen analgetischen Wirkung spielen auch Fehlgebrauch und Abhängigkeitspotential eine Rolle.
Derzeit werden in Deutschland etwa 260 000 Patienten ambulant mit opioidhaltigen Analgetika behandelt, die Hälfte davon zur Linderung chronischer, nicht tumorbedingter Schmerzen. Nur bis zu einer Anwendungsdauer von 13 Wochen existieren klinische Studien mit Kontrollgruppen (RCT), es handelt sich dabei im Wesentlichen um Beobachtungsstudien.
#Hintergrund
Aufgrund der Kontroversen um die Einsetzbarkeit, Anwendungsdauer und der Nebenwirkungen der Opioide zwischen Behandlern und Patienten sowie den medizinischen Fachgesellschaften entschloss sich die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) unter Leitung von Herrn Prof. Dr. H. Sorgatz, TU Darmstadt, in Zusammenarbeit mit 14 wissenschaftlichen Fachgesellschaften und der Deutschen Schmerzhilfe, eine interdisziplinäre Leitlinie auf S3-Niveau zu erstellen. Diese interdisziplinäre Leitlinie ersetzt die bisherige expertenbasierte S1-Leitlinie der DGSS. Unter den beteiligten Fachgesellschaften befanden sich die Deutschen Gesellschaften
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für Diabetes (DDG),
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für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM),
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für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI),
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für Angiologie (DGA),
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für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP),
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für Neurologie (DGN), für Osteologie (DGO),
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für psychologische Schmerztherapie und -forschung (DGPSF),
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für Suchtforschung und -therapie (DG-Sucht),
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für Urologie (DGU),
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für Migräne und Kopfschmerz (DMKG)
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sowie für Rheumatologie (DGRh).
Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) sowie die Interdisziplinäre Gesellschaft für Orthopädische und Unfallchirurgische Schmerztherapie (IGOST) wurden durch Herrn Dr. Bock vertreten.
Die Leitlinie umfasst für die Opioidbehandlung chronischer, nicht tumorbedingter Schmerzen (CNTS) einen Handlungskatalog zu den Themen Wirksamkeit, Behandlungsvorbedingungen, Anwendungsbereiche, Patienteninformationen, Verschreibungspraxis und Verlaufskontrolle, Nebenwirkungen, Toleranz und Abhängigkeit. Die Leitlinien-Kommission der DGOOC hat der S3-Leitlinie-LONTS vor kurzem zugestimmt.
#Methodik
Der vollständige Methodenreport ist im Internet (http://www.leitlinien.net) einsehbar. Entsprechend des "Scottish Intercollegiate Guidelines Network" (SIGN) wurden alle klinischen Studien zu Analgetika bei nicht tumorbedingten Schmerzen einer Evidenzgraduierung unterzogen (Evidenzgrade 1 – 4) und auf 44 sog. Schlüsselfragen untersucht. Daraus gingen klinische Empfehlungen der Empfehlungsgrade A-D hervor, die sich am chronologischen Ablauf einer Behandlung orientieren. Die konsentierten Empfehlungsgrade sind klassifiziert in:
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A sehr empfehlenswert
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B empfehlenswert
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C optional
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D keine empfehlende Aussage
Die Stärkegrade der Empfehlungen der Leitlinie mit den zugehörigen Evidenzgraden sind im Folgenden aufgeführt.
#Wirksamkeit
Bei Langzeitanwendung (3 Wochen – 3 Monate) bewirken opioidhaltige Analgetika vergleichbar den NSAR nur eine schwache Schmerzlinderung (8 – 12 / 100 VAS), so dass jeweils zusätzliche schmerzlindernde Maßnahmen (z.B. kognitiv-behavioral, konflikt- und problemlösend, physikalisch) anzuwenden sind. - Evidenzgrad 1, Empfehlung A
NSAR und Opioide sind analgetisch gleichwertig, eine Umstellung sollte nicht in Erwartung einer stärkeren Schmerzlinderung, sondern nur aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen erfolgen. - Evidenzgrad 1, Empfehlung A
Bei Überschreiten einer Anwendungsdauer von 6 Wochen lässt die Wirkung von opioidhaltigen und nicht opioidhaltigen Analgetika nach, eine Behandlungsfortsetzung muss begründet werden. - Evidenzgrad 1, Empfehlung A
Für Anwendungszeiträume über 3 Monate zeigen Opioide bei CNTS in unkontrollierten Studien keine klinische Wirksamkeit, RCTs existieren bislang nicht. Eine Dauerbehandlung muss einzeln begründet werden, Alternativen erwägt werden. - Evidenzgrad 3, Empfehlung B
Jeder Dritte bricht die Langzeitanwendung von Opioiden aufgrund Wirkungsmangel oder Nebenwirkungen ab, bei den NSAR ist es jeder vierte. Die Nebenwirkungsprophylaxe sowie die Aufrechterhaltung der Adhärenz sind entscheidend. - Evidenzgrad 1, Empfehlung B
Die analgetische Wirkung opioidhaltiger Analgetika steigert nicht die Lebensqualität, jedoch das körperliche Funktionsniveau. Weitere therapeutische Maßnahmen sollten in Betracht gezogen werden. - Evidenzgrad 1, Empfehlung B
Bei CNTS mit Schlafstörungen fördern Opioide die Schlafqualität, so dass die Adhärenz teilweise trotz mangelnder Analgesie hoch ist. - Evidenzgrad 1, Empfehlung A
Die folgenden klinischen Empfehlungen sind zwar konsentiert, nicht aber durch randomisiert-kontrollierte Studien abgesichert. Diese Ergebnisse haben eine gute untersuchungsmethodische Evidenz, fehlende statistische Grundwerte verhindern jedoch eine Metaanalyse.
#Behandlungsvorbedingungen
Bei fehlenden Gegenanzeigen und Versagen anderer (nicht-)medikamentöser Therapieverfahren können Opioide zur Anwendung bei CNTS angewandt werden, um die körperliche Funktionalität zu steigern. - Empfehlung B
Opioidhaltige Analgetika sollten u.a. nicht gegeben werden bei psychischer Instabilität, Abhängigkeitserkrankung und fehlender Bereitschaft zur Einhaltung eines Verordnungsplans sowie psychosozialen Faktoren wie sekundärem Krankheitsgewinn oder aktuellem Rentenverfahren. - Empfehlung C
Ebenfalls sollten sie nicht angewendet werden bei primären Kopfschmerzen, somatoformer Schmerzstörung sowie psychisch bedingter Schmerzauslösung. - Empfehlung B
#Vorbereitung
Vor Beginn einer Opioidbehandlung sollten unerwünschte Nebenwirkungen von Opioiden gegenüber Nicht-Opioiden abgewogen werden. Erwartete Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung müssen die bekannten Risiken und Anwendungsbeschränkungen rechtfertigen. - Empfehlung A
Der Behandlungsbeginn setzt unter anderem eine spezielle Schmerzanamnese (u.a. Ursachenattribution, Schmerzintensität auf der VAS), eine Psychosozialanamnese (u.a. Familie, Arbeitssituation, finanzielle Schwierigkeiten) und eine sorgfältige körperliche Untersuchung (u.a. neurologische Ausfälle, stattgehabte Operationen) voraus. Entscheidend ist das Funktionsniveau sowohl im privaten Umkreis (soziale Kontakte, Lebensfreude, Sexualität, Hobbies, Schlaf) als auch in Bezug auf die Berufstätigkeit. Der Patient schließt zu Beginn der Behandlung einen mündlichen oder schriftlichen Therapieplan ab, der u.a. Ziele und Erwartungen festsetzt, die Entwicklung einer physischen Abhängigkeit erwähnt sowie über sämtliche Nebenwirkungen aufklärt und die Befolgung eines exakten Dosierungsschemas fordert. - Empfehlung C
#Langzeitanwendung
Zum Zweck einer nachhaltigen Schmerzlinderung wird parallel zur Opioidtherapie eine kognitiv-behaviorale Behandlung empfohlen, die Ursache, Bedeutung und Verarbeitung von Schmerzen berücksichtigt. - Empfehlung A
Die Dosierung stellt einen Kompromiss dar zwischen Schmerzlinderung, Nebenwirkungen und verbesserter Funktionsfähigkeit. Die Behandlung beginnt niedrig dosiert und sieht eine bedarfsgerechte Steigerung innerhalb von 3 Wochen mit verbindlichem Einnahmeplan vor. Ab der dritten Woche sollte keine weitere Dosissteigerung stattfinden. Bei Wirkungslosigkeit ist das Opioid gleichfalls schrittweise zu reduzieren um Entzugserscheinungen zu vermeiden. - Empfehlung C
Die Überleitung der Langzeit- in eine Dauerbehandlung (ab 3 Monaten) ist besonders geprüften Einzelfällen vorbehalten und setzt eine opioidbezogene Verbesserung der Lebensqualität sowie des Funktionsniveaus voraus. Zuvor sollte die Indikation erneut überprüft werden und eine Dosisreduktion oder Opioidpause in Betracht gezogen werden. - Empfehlung C
#Verlaufskontrolle und Dokumentation
Während der Langzeitanwendung opioidhaltiger Analgetika sollte regelmäßig eine Evaluation der Behandlungsergebnisse durchgeführt werden, hierzu gehören u.a. erreichte Schmerzlinderung, Verbesserung von Lebensqualität und Funktionsniveau, Adhärenz des Patienten zum Behandlungsplan und Entwicklung einer Abhängigkeit. Relevant erscheinen zudem die soziale Kontaktpflege und Arbeitsfähigkeit, eine vorliegende Depressivität oder Angststörung sowie die sexuelle Funktionsfähigkeit und Schlafqualität. - Emfehlung B
Besondere Aufmerksamkeit verdient die Bereitschaft des Patienten den vereinbarten Behandlungsplan einzuhalten, dies kann durch ein Schmerztagebuch oder in Einzelfällen auch mittels Urintests abgeschätzt werden. Bei einer Wirkungsabnahme während der Langzeitanwendung von Opioiden sollte geprüft werden, ob eine Verschlechterung des Krankheitszustands, eine Toleranzentwicklung, ein Fehlgebrauch oder auch eine Opioid bedingte Hyperalgesie vorliegt. - Empfehlung C
Die Langzeitanwendung opioidhaltiger Analgetika sollte unter bestimmen Kriterien abgebrochen werden:
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keine oder unerwünschte Wirkung
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Verschlechterung des physischen, psychischen oder sozialen Zustands
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Wegfall der Schmerzursache (z.B. durch Operation)
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Verhaltensauffälligkeiten des Patienten (z.B. Drogenkonsum, Verkauf der Medikamente)
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Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung mit Miss- bzw. Fehlgebrauch (Einfordern immer stärkerer und kurzwirksamer Opioide, Abweichungen von der Einnahmevorschrift, Konsultation weiterer Ärzte) - Empfehlung B
Langzeitfolgen
Die Entwicklung einer körperlichen Abhängigkeit bei der Langzeitanwendung von Opioiden sollte zunächst bei jedem Patienten angenommen werden und muss bei der Beendigung zu einem medizinisch kontrollierten Entzug führen. Bei zunehmender Toleranz und geplantem Opioidwechsel sollte die Äquivalenzdosis des Ersatzpräparats um 30 – 50 % reduziert werden. - Empfehlung C
Dr. med. Christian Fischer
Prof. Dr. med. Marcus Schiltenwolf
Stiftung Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg
Schlierbacher Landstraße 200a
69118 Heidelberg