Zeitschrift für Phytotherapie 2010; 31(2): 71
DOI: 10.1055/s-0030-1254537
Gasteditorial

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Der Missbrauch des Wissenschaftlichkeitsgebots

Bruno Frank
  • Kleinrinderfeld
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Dr. Bruno Frank

Kleinrinderfeld

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Publication Date:
10 May 2010 (online)

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    Mit dem Hinweis auf eine nicht ausreichende wissenschaftliche Datenlage wird, unter Berufung auf »wissenschaftlich«, das Wissen der Phytotherapie geringschätzig abgetan. Wir erinnern uns: Es gab einmal die »umstrittenen Arzneimittel«, gemeint waren i.d.R. die pflanzlichen Arzneimittel, denen der Vorwurf mangelnder Evidenz gemacht wurde. Mit der Forderung nach mehr »Wissenschaft« in der Arzneimitteltherapie und einem passenden Gesetz, dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz, sollte dem Krankheits- oder besser dem Gesundheitszustand der (kranken) Menschheit eine »Modernisierung« zuteil werden. Das ist durchaus gelungen, wenn auch nicht aufseiten der Patienten, so doch bei den Umsätzen der Hersteller, deren Arzneimittel für die neue Rechtslage die Richtigen waren.

    Was war also die Forderung nach mehr Wissenschaftlichkeit (»evidenz- statt eminenzbasierte Therapie«) in der Realität? Zuallererst: eine enorme Missachtung von Wissen. Wissen, dass sich über Dutzende, Hunderte oder sogar Tausende von Jahren entwickelt hat. Und zwar in einer Zeit, in der es noch keine Werbeabteilungen, -budgets und keine PR-Maschinerie gab. Solches Wissen war also nicht mehr gut genug, aber was heißt das eigentlich? Unterliegt Wissen einem natürlichen Verfall? Bei der Wirksamkeit verhält es sich im Übrigen nicht so. Die ist an den Stoffen dran –oder eben nicht. Ist da ein großer wissenschaftlicher Fehler im System? Zwei englische Autoren (Altman & Bland) haben es wunderbar auf den Punkt gebracht: »Absence of evidence is not the evidence of absence.« Wirksamkeit und die Evidenz von ihr sind völlig verschiedene Dinge! Die Wirksamkeit ist vorhanden (oder auch nicht). Dieses Faktum ist völlig unabhängig von Studien und deren Evidenz. Noch schlimmer wird die Situation, wenn aus Studien, die keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen zwei oder mehr Interventionen ergeben haben, der Schluss gezogen wird, dies sei ein Beweis für die NichtWirksamkeit (wenn z.B. die Kontrolle ein Placebo war). Ein solches Ergebnis zeigt nicht mehr und nicht weniger als dass es unter den gegebenen Bedingungen keinen signifikanten Unterschied gab und nichts sonst. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin keineswegs dafür, dass man keine Studien macht oder braucht, ganz im Gegenteil! Aber man muss sich darüber klar sein, dass es auch wirksame Therapien geben kann (und gibt!), wenn es keine Studien nach neuestem wissenschaftlichen Stand gibt. Und wenn das so ist, muss man das Erfahrungswissen prüfen, ob man es als Wirksamkeitsbehauptung skeptisch sehen oder es als Beleg für Wirksamkeit akzeptieren kann. Diese Urteilskraft scheint mehr und mehr verloren zu gehen.

    Dazu ein Beispiel: Baldrian und Hopfen wurden und werden in unterschiedlichen Zubreitungs- und Darreichungsformen (Tee, Presssaft, Trockenextrakt, Pflanzenpulver in Dragee usw.) mit therapeutischem Erfolg seit langer Zeit eingesetzt. Für einige Fertigarzneimittel mit einigen dieser Wirkstoffe gibt es klinische Studien mit unterschiedlichem Design, Alter und Ergebnis. Selbstverständlich wurden diese Studien an realen Patienten gemacht, die man meist in Allgemein-Praxen findet. Üblicherweise versucht man bei Studien Patienten zu gewinnen, die keinerlei weitere Besonderheiten aufweisen, um das Ergebnis nicht zu verfälschen oder eine klare Aussage zu gefährden. Also sollte die Studienpopulation so homogen wie irgend möglich sein. Daher: keine Kinder und Jugendlichen, keine zu alten, keine komorbiden Teilnehmer, evtl. auch keine Frauen im gebärfähigen Alter usw. Viele Jahre später gibt es dann plötzlich Leute, die der Meinung sind, dass alle die Personengruppen, die nicht in einer solchen Studie eingeschlossen waren, vor einem solchen Mittel geschützt werden müssen, weil ja die »Gefahr« bestehen könnte, dass bei ihnen das Mittel nicht nur unwirksam, sondern sogar unangemessen schädlich sein könnte. Schnell (zu schnell!) wird der Schluss gezogen, es sei wissenschaftlich nicht erwiesen, nicht vertretbar etc., dass ein solches Mittel diesen, von der Studienpopulation abweichenden Patienten verabreicht wird. So lesen wir es dann in den neuesten HMPC-Monografien: Nicht anwenden bei Kindern unter 12 Jahren, nicht bei Jugendlichen unter 18 Jahren, nicht bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten. Mal sehen, wer noch alles von der Therapie mit pflanzlichen Arzneimitteln ausgeschlossen werden wird. Damit nähern wir uns der Abschaffung der Phytotherapie in der täglichen Praxis. Ein Schelm, der glaubt, das sei wissenschaftlich begründet!

    Fazit: Anstelle einer evidenzbasierten, brauchen wir gerade in der Phytotherapie eine kompetenzbasierte Medizin!

    Dr. Bruno Frank

    Kleinrinderfeld

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