Z Orthop Unfall 2010; 148(3): 249-251
DOI: 10.1055/s-0030-1255489
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Kongressbericht - VSO-Jahrestagung: Gesundheit ist nicht alles!

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Publikationsdatum:
21. Juni 2010 (online)

 
Inhaltsübersicht

Nicht immer nur ernst bitte?… war Motto der 58. Jahrestagung der Vereinigung Süddeutscher Orthopäden e.V. (VSO) vom 29. April bis 2. Mai in Baden-Baden. Schon überholt: Jetzt sind es die Süddeutschen Orthopäden und Unfallchirurgen e.V. (VSOU).

Die Namensänderung, beschlossen von der Mitgliederversammlung während der Tagung, war Signal, jetzt auch auf Landesebene die Fusion von O und U weiterzubringen. Dennoch, so VSOU-Vorsitzender Dr. Thomas Möller, soll der Kongress in Baden-Baden auch in Zukunft an oberster Stelle etwas für die konservativen Orthopäden bieten. Wobei, so Möller, selbstredend auch die Chirurgen der Zunft im Programm nicht zu kurz kommen sollen.

Seit 43 Jahren bietet Baden-Baden die dezent-gediegene Kulisse für diese nach dem DKOU wichtigste Tagung der Orthopäden und Unfallchirurgen. "Sie sind unser größter Kongress – Danke für Ihre Treue", meinte Baden-Badens Oberbürgermeister Wolfgang Gerstner. Es waren diesmal rund 3000 Teilnehmer – ein Rekord, gut 400 wissenschaftliche Vorträge, Workshops oder Poster, 162 Firmenaussteller und, ebenfalls ein Neuzugang, erstmals auch ein eigener Patiententag zum Thema Arthrose. Dazu noch ein Wetter, das am Donnerstag tropisch warm, ab dem Freitag dann leicht verregnet daherkam – Letzteres von großem Vorteil für die "Partner der Industrie", die sich noch zu Beginn über leere Stände ob zu viel Sonnenschein beschwert hätten, so mit einem Augenzwinkern Kongresspräsident Professor Jörg Jerosch vom Johanna-Etienne-Krankenhaus in Neuss.

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Bild: Vereinigung Süddeutscher Orthopäden (VSO)

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Bild: Corel Stock

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Spaß soll es machen!

Freude an Orthopädie & Unfallchirurgie hatte sich Jerosch zum Kongressmotto erkoren. Man müsse schließlich wieder zeigen, wie viel Spaß das Fachgebiet mache, meinte Jerosch: "Wenn der Funke zur nächsten Generation nicht mehr überspringt, haben wir bald keine Chirurgen mehr." Denn dass die ausblieben – ein Defizit von 6000 Chirurgen binnen 10 Jahren prognostizierte Jerosch – liege nicht nur an schlechter werdenden Arbeitsbedingungen. "Die Philosophie der Jüngeren heißt arbeiten und leben", meinte Jerosch. "Die können mit dem Motto vieler der über 50-Jährigen – leben, um zu arbeiten – nichts anfangen." Frei nach dem Motto: Wenn die alten Hasen den ganzen Tag griesgrämig ihrer Arbeit nachgehen, nehme ich lieber Reißaus. Gefragt, so Jerosch (Jahrgang 1958), sei eine neue Work-Life-Balance: Wir müssen einen neuen Generationenvertrag schließen und dafür die Frage klären: Wo wollen wir gemeinsam hin?

Monsieur le Président richtete nicht nur ein spezielles Assistentenprogramm für den Kongress ein, er bat auch eine der Teilnehmerinnen gleich zur Eröffnungsfeier auf das Podium für ein Statement. Und schilderte auch vor Journalisten manch Problem ganz handfest: "Sie können sich vielleicht vorstellen, was in manch einem Krankenhaus im Kaffeeraum los ist, wenn junge Assistenzärzte Mutter- oder Vaterschaftsurlaub nehmen." Jeder Praktikant, der schlechte Stimmung und üble Nachrede mitkriege, denke doch, nee, das möchte ich nicht mitmachen – "und das ist etwas, was wir selbst zum schlechten Image des Faches beitragen".

Mit Dr. Manfred Lütz holte sich Jerosch gleich auch noch einen Gastredner zur Eröffnungsveranstaltung im bis auf den letzten Platz gefüllten Weinbrennersaal im Kurhaus Baden-Baden, der jeglichem Rest von griesgrämigem Ernst den Garaus machte. Der gelernte (katholische) Theologe und Psychologe, Buchautor (Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult) und Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln-Porz rechnete in einer Tour de Force durch die Medizin- und Philosophiegeschichte mit der Religion der Gegenwart ab. Für Lütz eine säkularisierte Heilslehre: Die Anbetung der Gesundheit. "Die Leute bringen keine Kerze mehr zum Heiligen Antonius, nein, sie erwarten das Heil vom Tomografen." Die moderne Wallfahrt gehe zum Doktor, zum Spezialisten. Welch ein Verlust: "Man vergleiche die asketischen Zumutungen der modernen Wallfahrt mit einer Prozession nach Andechs."

Der moderne Gläubige lebt auch nicht mehr, er betreibt Vorsorge. Früher habe man vielleicht ab und an gefastet, um in den Himmel zu kommen, heute tun de’ Leute (Lütz ist gebürtiger Bonner) fasten, um möglichst spät in den Himmel zu kommen. Ein "kompletter Paradigmenwechsel", der die Hölle auf Erden bereite. Genussvoll leben – Fehlanzeige. Stattdessen Askese, Fitness und "schlechtes Essen"! Lütz: "Wer heute stirbt, ist selber schuld, deshalb rennen die Menschen durch die Wälder, essen Körner und Schrecklicheres und sterben dann eben doch." Und wohl gab es Folter auch früher. Aber mit einem entscheidenden Unterschied – im Mittelalter wurde für sie, anders als im Fitnessstudio, nicht auch noch bezahlt.

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Politik-Blockade durch Heilserwartung

Die ironische Abrechnung hat für Lütz einen ernsten Hintergrund. Die Aufladung von Gesundheit mit religiöser Heilserwartung blockiere zugleich jeden Versuch der Politik, den trägen Tanker Gesundheitswesen noch irgendwie zu steuern: "Wenn Sie als Politiker dem Publikum heute sagen, was medizinisch nicht notwendig ist, sind Sie nicht mehr wählbar." Lütz, Gründer der Bonner Behindertengruppe Brücke-Krücke, warb für eine komplett andere Sicht auf Gesundheit und "Behinderung". "Eine Gesellschaft ohne Behinderte wäre weniger leistungsfähig, Homer war blind, der größte Redner der Antike, Demosthenes hatte einen Sprachfehler, Beethoven war in seinen letzten Jahren taub."

Die WHO-Definition von Gesundheit als Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens tauge daher nicht. Er halte sich lieber an einen alten Hausarzt aus der Eifel, der meinte: Gesund ist ein Mensch, der mit seinen Krankheiten einigermaßen leben kann. Und am Ende mache nur der gefürchtete Tod das Leben zu etwas Besonderem, denn jeder Moment des Lebens gerate durch ihn zu etwas Einzigartigem.Die ärztliche Zunft möchte Lütz von manch unnötiger Belastung durch neue Arbeitsteilung erleichtern. Heute ginge in der Medizin bekanntlich kaum mehr etwas ohne den Aspekt Ganzheitlichkeit. Motto: "Bei uns im Krankenhaus ist der Herr Müller auch der Herr Müller und nicht nur irgendein Organ…." Chirurgen müssten so heute dummerweise nicht nur gute Chirurgen sein, sondern auch Sterbebegleitung können. Dabei sei eine Trennung von Begabungen in jene, die gut kommunizieren können und andere, die gute Ingenieure und Handwerker sind, sattsam bewiesen. Es sei daher völlig falsch, gute Chirurgen mit diesem "Ganzheitsquatsch" zu terrorisieren. Ihm sei lieber, der Chirurg leiste angesichts einer Gallen-OP sein Handwerk und erstarre nicht vor Ehrfurcht beim Anblick von ihm als Herrn Lütz auf dem OP-Tisch. Ein praktisches Fazit des Vortrags: "Gehen Sie mal einfach so durch den Wald und dann auch mal richtig lecker ungesund essen – das muss doch erlaubt sein!"

En passant verpasste Lütz auch der Esoterik einen Seitenhieb. Besonders begehrt beim Thema Gesundheit seien heute fernöstliche Geheimrezepte, die womöglich von einem Professor in tibetischen Höhlen gefunden wurden, um dann später in der Kölner Hohe Straße verkauft zu werden. Ob dies direkt gemünzt war, bleibe dahingestellt.

Die VSO-Tagung brachte auf jeden Fall auch einen veritablen tibetischen Lama auf das Podium – was auf einer wissenschaftlichen Tagung vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen wäre, wie Professor Wildor Hollmann bei der Anmoderation des Gastes betonte. Lama Gangchen, 1941 in Tibet geboren, lenkt seit 1981 vom Dorf Albagnano, oberhalb des Lago Maggiore, seine World Peace Foundation, und lehrt Ngalso – eine von ihm entwickelte Praxis der Selbstheilung, die im tibetischen Buddhismus wurzelt, sich auf Mantras, Meditationen und eine Kräutermedizin der tibetischen Medizin stützt.

Der Dialog zwischen Buddhismus und moderner Neurophysiologie ist en vogue – bereits seit Ende der 80er-Jahre pflegten ihn z. B. Neurophysiologen wie der 2001 gestorbene Chilene Francisco Varela und der Dalai Lama auf Symposien des Mind&Life Instituts aus Boulder, USA. Veränderte Bewusstseinszustände bei buddhistischen Mönchen sind seit Kurzem tatsächlich mit neurophysiologischen Veränderungen im Gehirn korrelierbar, wie es bildgebende Verfahren à la funktioneller Magnetresonanztomografie und Elektroenzephalografie belegen und so auch einer evidenzbasierten Medizin zugänglich machen.

Der avisierte Dialog in Baden-Baden blieb hingegen diffus. Das im Programmheft angekündigte Motto des Lama Gangchen: "Innerer Frieden als Allheilmittel, Mind- Make-up – macht es einfach nach – auch wenn ihr es nicht versteht. Es heilt euch", wurde wenig fassbar, zumal sich auch die Komplementärmedizin der Frage nach der Evidenz, dem Wirksamkeitsnachweis stellen muss.

Gangchen, übersetzt von seiner Assistentin Cosy Back, und im Hintergrund begleitet von Videosequenzen, die ihn bei Meditationen zeigten, versuchte eine Standortbestimmung von westlicher und tibetischer Medizin. Die "verehrten Orthopäden" beherrschten ohne Zweifel eine hohe medizinische Kunst, dabei aber eine eher "äußere Medizin". Auch Buddha Siddharta sei nach heutigen Maßstäben eher Wissenschaftler denn Religionsgründer gewesen – habe sich aber mit einer quasi inneren Medizin befasst, einer Lehre, wie sich unsere bedingte Abhängigkeit von der Welt um uns herum beenden ließe. Gangchen missioniert nicht. Die Konzepte und Praktiken seiner Techniken seien keine Glaubenssuche. Gangchen: "Sie müssen keine Buddhisten werden, und können alles überprüfen, was ich sage."

Der konkrete Stellenwert einer Selbstheilung à la Ngalso in einer westlich geprägten Medizin blieb offen. Man könne die Wartezeiten bis zum Eintreffen eines westlichen Arztes nützen, um die Selbstheilungskräfte des Organismus zu nützen, meinte Gangchen. Ein weiteres Beispiel ist für ihn der richtige Gebrauch der "Sinne", an denen jeder selber arbeiten kann – v. a. der Augen oder der Sprache: "Ich möchte dazu anregen, dass Sie beobachten, wie wir über die Augen miteinander in Kontakt treten." Und die Sprache könnten wir einerseits quasi wie "Terroristen" nutzen oder aber für eine liebevolle Kommunikation.

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Heikle Metall-Metall-Paarung

Darüber hinaus prägten viele wissenschaftliche Großthemen den Kongress: konservative versus interventionelle Schmerztherapie, minimaler versus offener Zugang in der Prothetik und die Rolle der Navigation. DGOU-Chef Dr. Daniel Frank focht erneut für das Thema Endoprothesenregister: "Das Register kommt einfach nicht voran, es scheitert an der Kostenfrage – obwohl uns mittlerweile auch Kostenträger, etwa die AOK, dabei unterstützen." Besonders dringend sei eine bessere Marktübersicht, da sich die Anforderungen an die Implantate drastisch wandelten. Die Patienten, so Frank, würden immer jünger und der BMI steige. "Die Industrie arbeitet bei der Entwicklung neuer Modelle mittlerweile mit überholten, zu kleinen Belastungszahlen", ist Frank überzeugt.

Aufgeschreckt hat die Szene auch Berichte über neue Probleme mit Metall-Metall-Paarungen bei Kunstgelenken, bei denen es womöglich häufiger zu Abriebproblemen kommt. Die New York Times reportierte Anfang März über das Thema. "Es gibt offenbar mehr Allergieprobleme durch verstärkten Abrieb, der US-Amerikaner hat jetzt Probleme damit und das haben wir wohl alle nicht kalkuliert", meinte Jerosch.

Breiten Raum nahm die Grundlagenforschung ein. Beispiel Arthrose. Mittlerweile zeigen Genomik und Proteomik, dass die Knorpelzellen, Chondrozyten, zumindest Mittreiber einer Entzündungsreaktion im Gelenk sind, wie Professor Jürgen Steinmeyer von der Universität Gießen in einem Übersichtsvortrag referierte. Doch wo und wie, die genauen Ursachen wissen die Experten eben bis heute nicht – "vieles ist nicht richtig verstanden", so Stein–meyers Resümee.

Und keine Frage, auch in der Schulmedizin harrt immer noch manch Methode ihres Wirksamkeitsnachweises, dem Beleg von Evidenz. So gilt offenbar auch hierzulande eine hyperbare Sauerstofftherapie mitunter als Mittel gegen Knorpelschäden. Ausgerechnet eine In-vitro-Studie widerlegt nun deren Sinn. Dr. Birte Sievers von der LMU München stellte Daten mit Zellkulturen vor, nach denen ein erhöhter Sauerstoffpartialdruck in der Versuchskammer die Aktivität der Chondrozyten in den Keller schickt. Die unbehandelten Kontrollen proliferierten eindeutig besser. In dieser Indikation jedenfalls gehört die Methode ad acta gelegt.

Der Carl-Rabl-Preis im Wert von 5000 Euro wurde dieses Jahr, anders als 2009, wieder verliehen. Er ging an Dr. Klaus Buckup für sein Buch "Klinische Tests an Knochen, Gelenken und Muskeln". Man sei sich diesmal einig gewesen, meinte Laudator Professor Jürgen Heisel. "Das Buch gehört in die Hand eines jeden klinisch tätigen Arztes." Und zum Preisträger gewandt: "Legen Sie das Preisgeld gut an, vielleicht nicht in griechischen Staatsanleihen." Den MOT-Preis für Medizinisch Orthopädische Technik mit gleicher Dotierung räumte der Ingenieur Dr. David Hochmann von der TU Berlin für eine Dissertation über Bewertungsmethoden von Knieorthesen ab.

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Bild: Kongresshaus Baden-Baden

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Der nächste VSOU-Kongress ist vom 28. April bis 1. Mai 2011. Tagungsort bleibt Baden-Baden.

http://www.vso-ev.de/

Dr. Bernhard Epping

 
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