Intensivmedizin up2date 2010; 6(4): 249-250
DOI: 10.1055/s-0030-1255873
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zum neuen BGH-Urteil „Sterbehilfe”

Klaus  Ulsenheimer
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Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Klaus Ulsenheimer

Ulsenheimer/Friederich Rechtsanwälte

Maximiliansplatz 12/IV
80333 München

Email: ulsenheimer@uls-frie.de

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Publication Date:
11 November 2010 (online)

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    Klaus Ulsenheimer

    Der Gesamtkomplex „Sterbehilfe” mit seinen schwierigen rechtlichen, medizinischen, berufsethischen, menschlichen und weltanschaulichen Fragen ist gesetzlich nur punktuell geregelt, z. B. durch das Verbot der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), die Pflicht zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen (§ 323 c StGB) oder die Straflosigkeit (aber berufsrechtlichen Unzulässigkeit) der Teilnahme an fremder Selbsttötung, das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht und den ebenfalls in der Verfassung verankerten Schutz des menschlichen Lebens, das „ohne eine zulässige Relativierung an oberster Stelle der zu schützenden Rechtsgüter” steht (BGHSt 46, 279, 285 = BGH JZ 02, 151, 152). Auf diesen Grundpfeilern ist eine höchstrichterliche Judikatur entstanden, die wichtige Leitprinzipien für das ärztliche Handeln formuliert, aber kein widerspruchsfreies, in sich geschlossenes Regelungssystem geschaffen hat. Denn im Widerstreit der Schutzgüter von Menschenwürde, menschlichem Leben und Selbstbestimmung bietet auch die „Verfassung keine sichere, dem jeweiligen Einzelfall gerecht werdende, rechtlich verlässliche und vom subjektiven Vorverständnis des Beurteilers unabhängige Orientierung” (BGH JZ 03, 732, 735).

    Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25. 6. 2010 (2 StR 454/10) ein weiterer wichtiger Mosaikstein, der mehr Klarheit und damit Sicherheit für die Lösung der intrikaten Probleme der Sterbehilfe bringt, ohne allerdings in allen Punkten zu überzeugen. Das Urteil fasst den Stand der Rechtsprechung zusammen, äußerst sich dazu teilweise kritisch und entwickelt neue Kriterien, um die Grenze zwischen erlaubter Sterbehilfe und einer nach den §§ 212, 216 StGB strafbaren Tötung zu bestimmen. In dem konkreten Fall ging es um die Einstellung der künstlichen Ernährung bei einer seit Jahren im Wachkoma liegenden Frau, die vor ihrer Erkrankung im Zustand der Einwilligungsfähigkeit lebensverlängernde Maßnahmen in Form künstlicher Ernährung und Beatmung abgelehnt hatte. Hierüber bestand zwischen den Betreuern (Tochter und Sohn) und dem behandelnden Arzt Einvernehmen, doch kam die Heimleitung ihrer Aufforderung nach Beendigung der künstlichen Ernährung nicht nach, so dass die Tochter schließlich – dem Rat eines Anwalts folgend – den Schlauch der Sonde durchschnitt. Die Heimleitung ließ der Frau daraufhin sofort eine neue PEG-Sonde legen und erstattete Strafanzeige gegen Tochter und Anwalt, der vom Landgericht Fulda wegen versuchten Totschlags durch aktives Tun zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt wurde, während das Gericht die Tochter mangels Schuld (fehlendes Unrechtsbewusstsein) freisprach.

    Der BGH hob den Schuldspruch gegen den Anwalt auf und sprach ihn gleichfalls frei. In der ausführlichen Begründung werden folgende Leitkriterien zur Sterbehilfe formuliert:

    1. Sterbehilfe darf auch bei aussichtsloser (infauster) Prognose nicht durch aktives gezieltes Töten geleistet werden, das die Beendigung des Lebens vom Krankheitsprozess abkoppelt. Die direkte aktive Sterbehilfe ist strafbar.

    2. Medizinisch indizierte palliative Maßnahmen zur Schmerzlinderung (sogenannte indirekte aktive Sterbehilfe), die als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge möglicherweise den Todeseintritt beschleunigen, sind straflos (so schon BGH NStZ 1997, 182, 184).

    3. Die bisher maßgebliche Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen für die Abgrenzung von gerechtfertigter und rechtswidriger Herbeiführung des Todes mit Einwilligung oder mutmaßlicher Einwilligung des betroffenen Patienten gibt der Senat ausdrücklich auf. Denn eine solche auf äußerliche, naturalistische Kriterien abstellende Differenzierung sei „nicht geeignet, sachgerecht und mit dem Anspruch auf Einzelfallgerechtfertigkeit” den Bereich des erlaubten von dem des verbotenen Verhaltens abzugrenzen, und sei daher in der Vergangenheit zurecht auf Kritik gestoßen. Stattdessen müssten andere Kriterien für diese Grenzziehung herangezogen werden, nämlich die Begriffe „Sterbehilfe” und „Behandlungsabbruch” unter „Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Ordnung”. Dies bedeutet konkret:

    • Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder -abbruch setzt voraus, dass – in einem engen Sachzusammenhang – „die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet ist”. Ob der Abbruch der Behandlung durch aktives Tun (Durchschneiden der Ernährungssonde z. B.) oder Unterlassen (Einstellung der Ernährung) erfolgt, ist rechtlich belanglos.

    • Eine durch Einwilligung gerechtfertigte Handlung der Sterbehilfe erfordert „überdies, dass sie objektiv und subjektiv unmittelbar auf eine medizinische Behandlung bezogen ist”.

    • Für die Feststellung des „behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten beweismäßig strenge Maßstäbe, die der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung zu tragen haben”. Die Einhaltung dieser Anforderungen sichern „insbesondere das zwingend erforderliche Zusammenwirken von Betreuer oder Bevollmächtigtem und Arzt sowie ggf. die Mitwirkung des Betreuungsgerichts”.

    • Dabei ist die „Neuregelung der Patientenverfügung unter dem Aspekt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung bei der Bestimmung der Grenze einer möglichen Rechtfertigung von kausal lebensbeendenden Handlungen” zu berücksichtigen. Die gesetzlichen Regelungen §§ 1901 a ff. BGB entfalten also „auch für das Strafrecht Wirkung”.

    Zusammenfassend stellt der BGH fest, die von ihm entwickelten Kriterien seien „besser als die bisherige”, dogmatisch fragwürdige und praktisch kaum durchführbare Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Handeln geeignet, dem Gewicht der betroffenen Rechtsgüter in der Abwägung Geltung zu verschaffen und für alle Beteiligten eine klare rechtliche Orientierung zu bieten”. Im Interesse der Ärzte, Pflegekräfte, Rechtsberater, vor allem aber auch der Patienten und ihrer Angehörigen ist zu hoffen, dass diese Einschätzung unserer obersten Richter in Erfüllung geht, doch bleiben insoweit Zweifel angesichts der Vielgestaltigkeit und Komplexität der Fälle.

    Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Klaus Ulsenheimer

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