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DOI: 10.1055/s-0030-1256136
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Das Phänomen Blickdiagnose[*]
The Visual Diagnosis at First Sight – A Special Phenomenon
Prof. Dr. med. Ernst G. Jung
Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg
Email: ernst.g.jung@t-online.de
Publication History
Publication Date:
14 June 2011 (online)
- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Blickdiagnose ist Bilderkennung ist Personenerkennung
- Die Spiegelneuronen
- Erkennung und Bewertung von diagnostischen Bildern
- Ausblick
- Literatur
Zusammenfassung
Dermatologische Diagnostik beginnt mit der Blickdiagnose und wird unter Beiziehung weiterer Verfahren ergänzt und gefestigt. Blickdiagnostik erfolgt als Bilderkennung und basiert auf der Personenerkennung. Anhand von Strichzeichnungen kann dies nachvollzogen werden. Sie schließt die unmittelbare Erfassung von Gefühlen mit ein und vermittelt Empathie. Blickdiagnostik betrifft stehende Bilder und wird durch einen zeitlichen Rahmen (0,1 – 3,0 s) und räumlich durch das zentrale Sehfeld (z. B. Umfang eines Gesichtes) eingeschränkt. Die neurophysiologische Basis wurde durch die Entdeckung des Systems der Spiegelneuronen 1995 ganz neu definiert. Die Blickdiagnose bleibt eine wertvolle Qualität dermatologischer Diagnostik und sollte gepflegt werden.
#Abstract
Diagnosis in Dermatology starts with the visual diagnosis. It has to be completed by additional procedures to come to its final validity. Visual diagnosis is a special form of the recognition of steady pictures and it is based on the recognition of faces and persons. It includes the recognition of emotions and mediates empathy. It is diagnosis at first sight with a short and limited time interval of 0,1 – 3,0 s and a restricted area to focus at once (e. g. human head, face, profile etc.). Cartoons can document this. The neurophysiologic basis has been completely new established by the discovery of the complex system of mirror neurons since 1995.
Visual diagnosis at first sight is still a valuable quality of our diagnosis in dermatology and has to be cultivated furthermore.
#Einleitung
Wir Dermatologen sind visuell orientierte Menschen. Dazu gehört auch der Gefallen an Ästhetik und oft die besondere Beziehung zur Kunst; Grafik, Malerei und Skulpturen. Diese visuelle Begabung, also Fähigkeit zu sehen, nützen wir im beruflichen Bereiche äußerst fruchtbar. Visuelle Begabung aber ist die Voraussetzung zur Freude an der Morphologie, die wiederum verbunden ist mit der Lust auf Gestaltwahrnehmung. Dies gilt nicht nur für die gesunde und die krankhafte Haut, sondern auch, wie Helmut Kerl betont [1], für die Freude an der Mikromorphologie in der Dermatopathologie. Dem lohnt es sich, einige Überlegungen zu widmen und die neurophysiologische Basis zu ergründen.
Dermatologische Diagnostik ist primär Bilderkennung. Wir sehen die ungewöhnliche, oft krankhafte Veränderung, charakterisieren diese und vergleichen sie mit der gesund anmutenden Haut der Umgebung. Der Erstbefund ist eine Blickdiagnose. Anschließend wird der Befund durch die körperliche Untersuchung und die subjektive Symptomatik des Patienten ergänzt und durch Histologie (Mikromorphologie) und Laborbefunde abgerundet zur „Eingangsdiagnose”. Blickdiagnose entspricht der Bilderkennung und diese basiert auf der Personenerkennung, einer menschlichen Qualität, die von Anbeginn an für Zusammenleben und Entwicklung maßgebend und unentbehrlich ist.
#Blickdiagnose ist Bilderkennung ist Personenerkennung
Die Personenerkennung ist eine der fundamentalen Fähigkeiten des Menschen, die seit jeher eine der Voraussetzungen für Begegnung und Zusammenleben darstellt. Erinnerung gesellt sich dazu. Personenerkennung ist im Wesentlichen die Gesichtserkennung, die, hauptsächlich frontal geschehend, in kürzester Zeit, „auf einen Blick”, schon erfolgt und im Gedächtnis verankert werden kann. Das, was man auf Anhieb erblickt, heißt deshalb auch „Gesicht”, im Französischen „visage”, ebenfalls das Rascherblickte, und im Englischen als „face” das in der Gegenüberstellung erfasste, „en face” sozusagen, wohl sogar anspielend auf erfahrbare Wechselwirkungen; Spiegelungen tradierter Verhaltensmuster.
Personenerkennung ist im Kindervers verankert ([Abb. 1]).
Ein Vorgänger neuzeitiger Comics zeigt zudem und vergleichend die dem Gesicht zugeordneten, elementaren Gefühle der Freude und der Trauer. Wilhelm Busch drückt das so aus: Siehe [Abb. 2].
Also die Augen als markante Punkte der oberen Horizontalen, der Mund als die untere und das Komma der Nase als Vertikale. Dazu kommt die Umrandung, der Abschluss des Gesichtes nach außen. Diese Abrundung erfolgt im oberen Teil und seitlich durch das Haarkleid und wird, bei Männern jedenfalls, durch Bartgestaltung im unteren Teil ergänzt. Die Gesichtsumrandung wird in allen Kulturbereichen bearbeitet [4] [5], betont oder weggelassen und mit Attributen besonderer Bedeutung ausgestattet ([Tab. 1]).
Signatur | Bedeutung |
Nimbus | Heiligkeit |
Krone | Herrscher, König und Königin, hierarchische Abstufung |
Stirnlocke | Apostel Petrus |
Kopfbedeckung | Militär, Stände, Anlässe |
Dornenkrone | Jesus Christus, der Gekreuzigte |
Schlangenhaupt | Schrecken |
Schmuck und Kleidung | Schönheit, Attraktivität |
Dies ist uns wichtig und bedeutend, denn Blickdiagnose beginnt, wie die Personenerkennung, im Gesicht. Gleichzeitig und unmittelbar wird damit auch Information über den Gefühlszustand und die Stimmungslage des Patienten gewonnen. Dies geht als integrierter Anteil in die Blickdiagnose ein. Seit 2 Jahrzehnten erkennt man nun die neurophysiologische Grundlage dieser Erkennungsqualität im System der Spiegelneuronen.
#Die Spiegelneuronen
Das System der Spiegelneuronen wurde 1995 von G. Rizzolatti et al. [2] bei Menschenaffen im Tierversuch entdeckt. Er legte 2002 erste Nachweise der Existenz beim Menschen vor, die 2005 bestätigt werden konnten [3]. Spiegelneuronen bilden ein komplexes System im Neokortex, der Großhirnrinde, mit besonderer Anreicherung in der Insel sowie in den Arealen der somatosensorischen und der prämotorischen Rinde.
Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Bildes oder Vorgangs die gleichen Reize auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht bloß (passiv) betrachtet, sondern selbst durchgeführt würde. Die Anlagen dazu scheinen vererbt und werden im Zuge der frühkindlichen Hirnreifung abrufbar.
Das System der Spiegelneuronen entwickelte sich in den letzten 100 000 Jahren anthropologischer Phylogenese, so wird vermutet. Und es stellt als jüngste und hoch differenzierte Nervenstruktur eben das neurophysiologische Substrat dar für Empathie, soziale Qualitäten und für die Emotionserkennung von Gesichtern und Bildern. Das System scheint hierarchisch gegliedert. Man unterscheidet als erste und primitive Stufe die motorische Empathie von der affektiven Empathie und der kognitiven Empathie, der höchsten Verarbeitungsstufe. Es wird versucht, Empathie und Basisemotionen bestimmten Hirnarealen zuzuordnen, so Ekel mit der Insula, Amygdale mit Angst und Ärger, wobei die Amygdale oft gleichsam als Verstärkerelement wirkt. Auch das Glück kann mit funktionalen, bildgebenden Verfahren abgebildet werden, wenn auch vielgestalt. Plastizität der Hirnfunktionen ist evident, was Verlust und lernbedingte Steigerung von Qualitäten erklärt. Zudem werden ergänzende Zugangswege und neue Pforten erschließbar, bis hin zur Suchtgefahr.
#Erkennung und Bewertung von diagnostischen Bildern
Spiegelneuronen spielen eine zentrale Rolle bei der Erkennung und Bewertung statischer Bilder, besonders von Gesichtern und deren emotionalem Ausdruck. Dazu gehören auch Erkennung und primäre Bewertung einsehbarer Krankheitsbilder, also Hautkrankheiten und deren eigene Gefühlswertung, was dem Hautarzt als „Blickdiagnose” geläufig und vertraut ist. Versuche und Spiele mit kurzen Betrachtungszeiten zeigen, dass zur exakten Erfassung stehender Bilder weniger als eine Sekunde genügt. Das Objekt wird „auf einen Blick” erfasst und gedeutet. Die minimal nötige Betrachtungs- oder Belichtungszeit beträgt 30 – 40 Minisekunden, also weniger als ein Zwanzigstel der Sekunde. Dem gegenüber steht die Dauer einer Szene der Aufmerksamkeit, die mit messbarer Regelmäßigkeit 3 s beträgt. Drei Sekunden dauert also die Gegenwart, dann wird eine neue Szene eingeblendet und solche Szenenfolgen erfüllen unser Leben. Entweder wird der Blick in Szenenfolgen über ein umfangreiches Bild geführt oder es wechselt die Bilderfolge vor unseren Augen. Der Zeitrahmen einer Blickdiagnose ist also abgesteckt zwischen 1/20 und 3 s. Ebenso kann man die Größe der auf einen Blick zu erfassenden Fläche mit dem zentralen Sehen eingrenzen, die etwa einem umrandeten Gesicht entspricht im Abstand von wenigen Metern, was die exakte Erfassung der Einzelheiten ermöglicht. So ist die „Blickdiagnose” zeitlich und räumlich einzugrenzen auf max. 3 s und eine Rundfläche von gut 50 cm Durchmesser.
Die [Abb. 3 a – d] zeigen einige typische und häufige Beispiele von Blickdiagnosen im Gesicht, aber auch an anderen Körperteilen. In den letzten Jahren sind zahlreiche entsprechende Bildersammlungen und Bücher auf den Markt gekommen, die bildhaftes Lernen und Repetieren unterstützen mögen und den Anschein erwecken, dass ein Grundstock diagnostischer Sicherheit und Routine mit geringem Aufwand zu erwerben sei. Da mag etwas Verführerisches daran sein.
Großformatige und zusammengesetzte Bilder allerdings können nicht auf einen Blick erfasst werden. Der Betrachter muss Teil um Teil fokussieren und fügt erst nach einem „Gang der Betrachtung” durch das Bild all die Elemente zusammen, die zum Verstehen der umfassenden Bildaussage nötig sind. Dieser Weg der Fokussierung führt fast automatisch entlang besonders hervorgehobener Figuren und Anordnungen, Personen, Gesichter und markanter Raumteiler. Bei Kunstwerken wird der Beschauer vom Künstler durch dessen Bildgestaltung mit Absicht auf den von ihm gewünschten „Gang der Betrachtung” durch sein Werk geführt. Die Szenenfolge scheint in Sprüngen von ca. 3 s abzulaufen. Dasselbe geschieht bei der ausführlichen und körperlichen Untersuchung unserer Patienten. Sie wird dann zusammen mit der Vorgeschichte des Patienten (Anamnese) und der Erfahrung des Untersuchers unter Einschluss der übrigen Befunde zur „Eingangsdiagnose” verarbeitet. Parallel dazu kommt auch das System der Spiegelneuronen in Gang.
Ganz anders und wesentlich zeitaufwendiger wird mit bewegten Bildern verfahren, im Leben wie auch in Theater und Film. Das binokuläre Sehen ermöglicht Stereoskopie, Einstellung der Tiefenschärfe und die Erfassung der Bewegung, sowohl der Bilder wie auch des Betrachters. Die Impulse laufen über die Sehnerven und die Corpora geniculi laterales zum primären virtuellen Cortex im Hinterhauptlappen des Großhirns. Sekundär werden weitere Areale im Scheitel- und Schläfenlappen aktiviert.
#Ausblick
So erwerben wir mit der Lebenserfahrung und dem erlernten und erinnerbaren Wissen auch unsere eigene Bilderinnerung. Diese wird mit den kulturellen Bilddokumenten abgeglichen. Bei uns Dermatologen ist dies einer der wesentlichen Zugewinne der hautfachärztlichen Aus- und Weiterbildung. Lehrbücher, Atlanten, Bildbände und Bildersammlungen dienen ebenfalls diesem Ziel. Aus unserem visuellen Gedächtnis und der speziellen Erfahrung erwächst die Fachkompetenz. Dazu gehört nach wie vor die Blickdiagnostik als ein Leitfossil der klinischen Dermatologie. Sie ist zu pflegen und zu bewahren als eine wesentliche Qualität unseres Faches. Von unseren klinischen Vorbildern erarbeitet und verfeinert, wird sie laufend durch moderne Untersuchungsverfahren ergänzt und gestützt. Dieser erworbenen Kompetenz bedienen wir uns jederzeit bei der diagnostischen Tätigkeit. Dabei kommt uns, neben der erworbenen klinischen Kompetenz, die empathische Kompetenz, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Anteilnahme, zu Hilfe. Diese hippokratischen Werte sind uns, im Gegensatz zur individuell erworbenen klinischen Kompetenz, angeboren, durch das System der Spiegelneuronen vermittelt und sie ermöglichen uns, betrachtete Vorgänge so erleben zu können, als ob sie uns selber widerfahren wären.
#Literatur
- 1 Kerl H et al. Freude an der Morphologie: Dermatopathologie und Kunst. JDDG. 2010; 8 917-919
- 2 Rizzolatti G et al. Premotor cortex and tue recognitin of motor actions. Cognitive Brain Research. 1996; 3 131-141
- 3 Rizzolatti G. Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls.. Frankfurt a. M.: Suhrkamp; 2008
- 4 Jung E G. Haarsymbolik in der christlichen Ikonografie. Akt Dermatol. 2010; 36 235-238
- 5 Jung E G. Perseus, Medusa und die Darstellung der Hässlichkeit. Akt Dermatol. 2010; 36 488-491
1 Herrn Prof. Dr. med. Constantin E. Orfanos, emeritierter ordentlicher Professor der Dermatologie an der freien Universität in Berlin, zu seinem 75. Geburtstag am 28. Juni 2011 in herzlicher Zuneigung gewidmet.
Prof. Dr. med. Ernst G. Jung
Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg
Email: ernst.g.jung@t-online.de
Literatur
- 1 Kerl H et al. Freude an der Morphologie: Dermatopathologie und Kunst. JDDG. 2010; 8 917-919
- 2 Rizzolatti G et al. Premotor cortex and tue recognitin of motor actions. Cognitive Brain Research. 1996; 3 131-141
- 3 Rizzolatti G. Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls.. Frankfurt a. M.: Suhrkamp; 2008
- 4 Jung E G. Haarsymbolik in der christlichen Ikonografie. Akt Dermatol. 2010; 36 235-238
- 5 Jung E G. Perseus, Medusa und die Darstellung der Hässlichkeit. Akt Dermatol. 2010; 36 488-491
1 Herrn Prof. Dr. med. Constantin E. Orfanos, emeritierter ordentlicher Professor der Dermatologie an der freien Universität in Berlin, zu seinem 75. Geburtstag am 28. Juni 2011 in herzlicher Zuneigung gewidmet.
Prof. Dr. med. Ernst G. Jung
Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg
Email: ernst.g.jung@t-online.de