Einleitung
Einleitung
Wir Dermatologen sind visuell orientierte Menschen. Dazu gehört
auch der Gefallen an Ästhetik und oft die besondere Beziehung zur Kunst;
Grafik, Malerei und Skulpturen. Diese visuelle Begabung, also Fähigkeit zu
sehen, nützen wir im beruflichen Bereiche äußerst fruchtbar.
Visuelle Begabung aber ist die Voraussetzung zur Freude an der Morphologie, die
wiederum verbunden ist mit der Lust auf Gestaltwahrnehmung. Dies gilt nicht nur
für die gesunde und die krankhafte Haut, sondern auch, wie Helmut Kerl
betont [1], für die Freude an der Mikromorphologie
in der Dermatopathologie. Dem lohnt es sich, einige Überlegungen zu widmen
und die neurophysiologische Basis zu ergründen.
Dermatologische Diagnostik ist primär Bilderkennung. Wir sehen
die ungewöhnliche, oft krankhafte Veränderung, charakterisieren diese
und vergleichen sie mit der gesund anmutenden Haut der Umgebung. Der Erstbefund
ist eine Blickdiagnose. Anschließend wird der Befund durch die
körperliche Untersuchung und die subjektive Symptomatik des Patienten
ergänzt und durch Histologie (Mikromorphologie) und Laborbefunde
abgerundet zur „Eingangsdiagnose”. Blickdiagnose entspricht der
Bilderkennung und diese basiert auf der Personenerkennung, einer menschlichen
Qualität, die von Anbeginn an für Zusammenleben und Entwicklung
maßgebend und unentbehrlich ist.
Blickdiagnose ist Bilderkennung ist Personenerkennung
Blickdiagnose ist Bilderkennung ist Personenerkennung
Die Personenerkennung ist eine der fundamentalen Fähigkeiten
des Menschen, die seit jeher eine der Voraussetzungen für Begegnung und
Zusammenleben darstellt. Erinnerung gesellt sich dazu. Personenerkennung ist im
Wesentlichen die Gesichtserkennung, die, hauptsächlich frontal geschehend,
in kürzester Zeit, „auf einen Blick”, schon erfolgt und im
Gedächtnis verankert werden kann. Das, was man auf Anhieb erblickt,
heißt deshalb auch „Gesicht”, im Französischen
„visage”, ebenfalls das Rascherblickte, und im Englischen als
„face” das in der Gegenüberstellung erfasste, „en
face” sozusagen, wohl sogar anspielend auf erfahrbare Wechselwirkungen;
Spiegelungen tradierter Verhaltensmuster.
Personenerkennung ist im Kindervers verankert ([Abb. 1]).
Abb. 1 Kindervers der Elemente
zur Darstellung und Erkennung eines Gesichtes.
Ein Vorgänger neuzeitiger Comics zeigt zudem und vergleichend
die dem Gesicht zugeordneten, elementaren Gefühle der Freude und der
Trauer. Wilhelm Busch drückt das so aus: Siehe [Abb. 2].
Abb. 2 Fortführung des
Kinderverses von [Abb. 1] durch Wilhelm Busch in
der Anleitung, „Napoleons” zu zeichnen. Charakterisiert durch das
Attribut Hut und mit geringen Verformungen der Zeichenelemente wird der
freudige Sieger und der traurige Verlierer dargestellt.
Also die Augen als markante Punkte der oberen Horizontalen, der Mund
als die untere und das Komma der Nase als Vertikale. Dazu kommt die Umrandung,
der Abschluss des Gesichtes nach außen. Diese Abrundung erfolgt im oberen
Teil und seitlich durch das Haarkleid und wird, bei Männern jedenfalls,
durch Bartgestaltung im unteren Teil ergänzt. Die Gesichtsumrandung wird
in allen Kulturbereichen bearbeitet [4]
[5], betont oder weggelassen und mit Attributen besonderer
Bedeutung ausgestattet ([Tab. 1]).
Tab. 1 Attribute der
Gesichtsumrandung und deren symbolhafte Bedeutung.
Signatur
| Bedeutung
|
Nimbus
| Heiligkeit
|
Krone
| Herrscher, König und
Königin, hierarchische Abstufung
|
Stirnlocke
| Apostel Petrus
|
Kopfbedeckung
| Militär, Stände,
Anlässe
|
Dornenkrone
| Jesus Christus, der
Gekreuzigte
|
Schlangenhaupt
| Schrecken
|
Schmuck und Kleidung
| Schönheit,
Attraktivität
|
Dies ist uns wichtig und bedeutend, denn Blickdiagnose beginnt, wie
die Personenerkennung, im Gesicht. Gleichzeitig und unmittelbar wird damit auch
Information über den Gefühlszustand und die Stimmungslage des
Patienten gewonnen. Dies geht als integrierter Anteil in die Blickdiagnose ein.
Seit 2 Jahrzehnten erkennt man nun die neurophysiologische Grundlage dieser
Erkennungsqualität im System der Spiegelneuronen.
Die Spiegelneuronen
Die Spiegelneuronen
Das System der Spiegelneuronen wurde 1995 von G. Rizzolatti et al.
[2] bei Menschenaffen im Tierversuch entdeckt. Er legte
2002 erste Nachweise der Existenz beim Menschen vor, die 2005 bestätigt
werden konnten [3]. Spiegelneuronen bilden ein komplexes
System im Neokortex, der Großhirnrinde, mit besonderer Anreicherung in
der Insel sowie in den Arealen der somatosensorischen und der
prämotorischen Rinde.
Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die im Gehirn während der
Betrachtung eines Bildes oder Vorgangs die gleichen Reize auslösen, wie
sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht bloß (passiv) betrachtet,
sondern selbst durchgeführt würde. Die Anlagen dazu scheinen vererbt
und werden im Zuge der frühkindlichen Hirnreifung abrufbar.
Das System der Spiegelneuronen entwickelte sich in den letzten
100 000 Jahren anthropologischer Phylogenese, so wird vermutet. Und es
stellt als jüngste und hoch differenzierte Nervenstruktur eben das
neurophysiologische Substrat dar für Empathie, soziale Qualitäten und
für die Emotionserkennung von Gesichtern und Bildern. Das System scheint
hierarchisch gegliedert. Man unterscheidet als erste und primitive Stufe die
motorische Empathie von der affektiven Empathie und der kognitiven Empathie,
der höchsten Verarbeitungsstufe. Es wird versucht, Empathie und
Basisemotionen bestimmten Hirnarealen zuzuordnen, so Ekel mit der Insula,
Amygdale mit Angst und Ärger, wobei die Amygdale oft gleichsam als
Verstärkerelement wirkt. Auch das Glück kann mit funktionalen,
bildgebenden Verfahren abgebildet werden, wenn auch vielgestalt.
Plastizität der Hirnfunktionen ist evident, was Verlust und lernbedingte
Steigerung von Qualitäten erklärt. Zudem werden ergänzende
Zugangswege und neue Pforten erschließbar, bis hin zur Suchtgefahr.
Erkennung und Bewertung von diagnostischen Bildern
Erkennung und Bewertung von diagnostischen Bildern
Spiegelneuronen spielen eine zentrale Rolle bei
der Erkennung und Bewertung statischer Bilder, besonders von Gesichtern
und deren emotionalem Ausdruck. Dazu gehören auch Erkennung und
primäre Bewertung einsehbarer Krankheitsbilder, also Hautkrankheiten und
deren eigene Gefühlswertung, was dem Hautarzt als „Blickdiagnose” geläufig und vertraut
ist. Versuche und Spiele mit kurzen Betrachtungszeiten zeigen, dass zur exakten
Erfassung stehender Bilder weniger als eine Sekunde genügt. Das Objekt
wird „auf einen Blick” erfasst und gedeutet. Die minimal
nötige Betrachtungs- oder Belichtungszeit beträgt
30 – 40 Minisekunden, also weniger als ein Zwanzigstel der
Sekunde. Dem gegenüber steht die Dauer einer Szene der Aufmerksamkeit, die
mit messbarer Regelmäßigkeit 3 s beträgt. Drei Sekunden
dauert also die Gegenwart, dann wird eine neue Szene eingeblendet und solche
Szenenfolgen erfüllen unser Leben. Entweder wird der Blick in Szenenfolgen
über ein umfangreiches Bild geführt oder es wechselt die Bilderfolge
vor unseren Augen. Der Zeitrahmen einer Blickdiagnose ist also abgesteckt
zwischen 1/20 und 3 s. Ebenso kann man die Größe der auf
einen Blick zu erfassenden Fläche mit dem zentralen Sehen eingrenzen, die
etwa einem umrandeten Gesicht entspricht im Abstand von wenigen Metern, was die
exakte Erfassung der Einzelheiten ermöglicht. So ist die
„Blickdiagnose” zeitlich und räumlich einzugrenzen auf max.
3 s und eine Rundfläche von gut 50 cm Durchmesser.
Abb. 3 Klassische
Blickdiagnosen. Die typische Morphologie einer umschriebenen und markanten
Hautveränderung wird auf einen Blick erfasst und kann unmittelbar in die
Anatomie des einsehbaren Körperteils (Gesicht, Hand) eingeordnet
werden.
a Basaliom mit typischem
Knötchenwulst seitlich am rechten Auge.
b Spinaliom mit Ulzeration an der Unterlippe rechts.
c Feuermal an der Wange rechts (Naevus
flammeus).
d Warzen am Handrücken rechts
(Verrucae vulgares).
Die [Abb. 3 a – d] zeigen
einige typische und häufige Beispiele von Blickdiagnosen im Gesicht, aber
auch an anderen Körperteilen. In den letzten Jahren sind zahlreiche
entsprechende Bildersammlungen und Bücher auf den Markt gekommen, die
bildhaftes Lernen und Repetieren unterstützen mögen und den Anschein
erwecken, dass ein Grundstock diagnostischer Sicherheit und Routine mit
geringem Aufwand zu erwerben sei. Da mag etwas Verführerisches daran
sein.
Großformatige und zusammengesetzte Bilder allerdings
können nicht auf einen Blick erfasst werden. Der Betrachter muss Teil um
Teil fokussieren und fügt erst nach einem „Gang der
Betrachtung” durch das Bild all die Elemente zusammen, die zum Verstehen
der umfassenden Bildaussage nötig sind. Dieser Weg der Fokussierung
führt fast automatisch entlang besonders hervorgehobener Figuren und
Anordnungen, Personen, Gesichter und markanter Raumteiler. Bei Kunstwerken wird
der Beschauer vom Künstler durch dessen Bildgestaltung mit Absicht auf den
von ihm gewünschten „Gang der Betrachtung” durch sein Werk
geführt. Die Szenenfolge scheint in Sprüngen von ca. 3 s
abzulaufen. Dasselbe geschieht bei der ausführlichen und körperlichen
Untersuchung unserer Patienten. Sie wird dann zusammen mit der Vorgeschichte
des Patienten (Anamnese) und der Erfahrung des Untersuchers unter Einschluss
der übrigen Befunde zur „Eingangsdiagnose” verarbeitet. Parallel dazu
kommt auch das System der Spiegelneuronen in Gang.
Ganz anders und wesentlich zeitaufwendiger wird mit
bewegten Bildern verfahren, im Leben wie auch in Theater
und Film. Das binokuläre Sehen ermöglicht Stereoskopie, Einstellung
der Tiefenschärfe und die Erfassung der Bewegung, sowohl der Bilder wie
auch des Betrachters. Die Impulse laufen über die Sehnerven und die
Corpora geniculi laterales zum primären virtuellen Cortex im
Hinterhauptlappen des Großhirns. Sekundär werden weitere Areale im
Scheitel- und Schläfenlappen aktiviert.
Ausblick
Ausblick
So erwerben wir mit der Lebenserfahrung und dem erlernten und
erinnerbaren Wissen auch unsere eigene Bilderinnerung. Diese wird mit den
kulturellen Bilddokumenten abgeglichen. Bei uns Dermatologen ist dies einer der
wesentlichen Zugewinne der hautfachärztlichen Aus- und Weiterbildung.
Lehrbücher, Atlanten, Bildbände und Bildersammlungen dienen ebenfalls
diesem Ziel. Aus unserem visuellen Gedächtnis und der speziellen Erfahrung
erwächst die Fachkompetenz. Dazu gehört nach wie vor die
Blickdiagnostik als ein Leitfossil der klinischen Dermatologie. Sie ist zu
pflegen und zu bewahren als eine wesentliche Qualität unseres Faches. Von
unseren klinischen Vorbildern erarbeitet und verfeinert, wird sie laufend durch
moderne Untersuchungsverfahren ergänzt und gestützt. Dieser
erworbenen Kompetenz bedienen wir uns jederzeit bei der diagnostischen
Tätigkeit. Dabei kommt uns, neben der erworbenen klinischen Kompetenz, die
empathische Kompetenz, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und
Anteilnahme, zu Hilfe. Diese hippokratischen Werte sind uns, im Gegensatz zur
individuell erworbenen klinischen Kompetenz, angeboren, durch das System der
Spiegelneuronen vermittelt und sie ermöglichen uns, betrachtete
Vorgänge so erleben zu können, als ob sie uns selber widerfahren
wären.