Bekapselte Bakterien wie Neisseria
meningitidis und Streptococcus pneumoniae sowie
andere sind in der Kinder- und Jugendmedizin bedeutsame Erreger im Zusammenhang
mit septischen Krankheitsbildern. Insbesondere Kleinkinder sind von
Pneumokokken regelhaft besiedelt, wohingegen Meningokokken bei Adoleszenten und
im jungen Erwachsenenalter besonders häufig vorkommen ([Tab. 1]).
Tab. 1 Besiedlungsraten von
Neisseria meningitidis und Streptococcus pneumoniae in Abhängigkeit von
Altersgruppe.
Neisseria
meningitidis*
|
Altersgruppe
|
Kindergarten/Grundschule
| 2 %
|
Haupt-/Realschule
| 7,6 %
|
Gymnasialoberstufe
| 17,9 %
|
Bundeswehrrekruten
| 32,6 %
|
Streptococcus
pneumoniae**
|
Altersgruppe
|
Kinder unter 6 Jahren
| bis zu 60 %
|
Grundschulkinder
| 35 %
|
Kinder über 10 Jahre
| 25 %
|
Erwachsene mit Kindern im
Haushalt
| 18 – 29 %
|
Erwachsene ohne Kinder im
Haushalt
| 6 %
|
Quellen: * Meningokokkenträgerstudie Winter
1999/2000. Institut für Hygiene- und Mikrobiologie der Universität
Würzburg. ** Black S, Shinefield H. Issues and
challenges: pneumococcal vaccination in pediatrics. Pediatr Ann 1997; 26:
355 – 360
|
Invasive Erkrankungen durch Meningokokken hingegen, insbesondere
durch die Serogruppe B und Serogruppe C, treten besonders häufig bei
Säuglingen und Kleinkindern auf. Die Inzidenz für invasive
Erkrankungen durch Neisseria meningitidis der Gruppe B
betrug in den letzten Jahren etwa 10 je 100 000 Einwohner
[1] im 1. Lebensjahr ([Abb. 1]). Absolut und für alle Serogruppen
betrachtet erlitten 2007 436 und 2008 452 Menschen invasive
Meningokokken-Erkrankungen [1]. 2007 waren 37 und 2008 44
Sterbefälle zu beklagen.
Abb. 1 Invasive Erkrankungen
durch Meningokokken der Serogruppe B nach Alter, IfSG-Meldedaten
(hochgerechnet), Deutschland 2001 – 2008 [1].
In Analogie zu den Meningokokken, ist die Inzidenz für invasive
Pneumokokken-Erkrankungen im 1. Lebensjahr [2] deutlich
höher als bei Schulkindern und Jugendlichen ([Tab. 2]). Obwohl Säuglinge und Kleinkinder
überproportional mit Streptococcus pneumoniae und
relevant mit Neisseria meningitidis besiedelt sind,
erleiden absolut betrachtet relativ wenige Säuglinge und Kleinkinder
invasive Erkrankungen. Hieraus resultieren folgende Fragen:
-
Warum sind gerade Säuglinge und Kleinkinder prominent
betroffen?
-
Wenn es für die Altersverteilung eine spezifische Ursache
gibt, warum erkranken dann nicht mehr Kinder?
Tab. 2 Altersverteilung
invasiver Pneumokokken-Erkrankungen [2].
Alter
| Invasive
Pneumokokken-Erkrankungen pro 100 000/Jahr
| Meningitiden pro
100 000/Jahr
|
0 bis 5 Monate
| 17,3
| 8,5
|
6 bis 11 Monate
| 29,4
| 12,6
|
1 Jahr
| 16,3
| 4,6
|
2 bis 4 Jahre
| 5,4
| 1,8
|
5 bis 15 Jahre
| 1,1
| 0,4
|
< 5 Jahre
|
11,1
|
4,1
|
Eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung zwischen dem
„Wirt” und dem bekapselten Bakterium spielt bei Säuglingen
und Kleinkindern die angeborene Immunität („innate
immunity”). Unmittelbar nach der Entbindung sind Neugeborene durch
diaplazentar übertragene, schützende, maternale Antikörper
zunächst gegen invasive Erkrankungen durch Meningokokken (oder
Pneumokokken) geschützt [3]. In dem
„vulnerablen” Zeitraum nach dem 6. Lebensmonat sind
transplazentar erworbene, mütterliche Antikörperspiegel abgefallen
und erworbene Mechanismen der adaptiven Immunität noch nicht
vollständig entwickelt. Daher spielen in dieser Phase angeborene
Immunmechanismen, welche von Geburt an konstitutiv aktiv sind, eine zentrale
Rolle in der Immunabwehr invasiver Infektionen durch bekapselte Erreger
[4]
[5]. In dieser frühen
antikörperunabhängigen Immunantwort gegen z. B.
Meningokokken-Infektionen spielt das Komplementsystem eine wichtige Rolle.
Neben der Aktivierung des Komplementsystems durch spezifische Antikörper
über den sogenannten klassischen Aktivierungsweg, sind in dieser
„vulnerablen” Phase zwei von Antikörpern unabhängige
Wege des angeborenen Immunsystems fähig, das Komplementsystem zu
aktivieren ([Abb. 2]). Hierbei spielt der
sogenannte „alternative Weg der Komplementaktivierung” mittels
Bildung der sogenannten C3-Konvertase und Aktivierung der späteren
Komplementkomponenten und des „Membran-Angriff-Komplexes” eine
wichtige Rolle. Die Bedeutung eines Defektes in den
antikörperunabhängigen Wegen der Komplementaktivierung wird
unterstrichen durch die Tatsache, dass sowohl Individuen mit genetischen
Defekten im Properdin kodierenden CFP-Gen als auch Patienten mit
hereditärem Faktor-D-Mangel ein erhöhtes Risiko für invasive
Meningokokken-Infektionen aufweisen [6]
[7].
Abb. 2 Das Komplementsystem
(Quelle: Pettigrew H et al. Clinical significante of complement deficiencies.
Ann N Y Acad Sci 2009; 108:
1173).
Abkürzungen/Übersetzungen: Classical
pathway = Klassischer Weg, Lectin Binding
Pathway = Lektin-Aktivierungsweg, Alternative
Pathway = Alternativer Weg, (Ag-Ab complexes,
CRP) = (Antigen-Antikörper-Komplexe, CRP), (Bacterial
monosaccharides) = (Bakterielle Monosaccharide),
(Spontaneous hydrolysis) = (Spontane Hydrolyse),
Hydrolized = hydrolysiertes,
C1-INH = C1-Inhibitor,
MAC = Membran-Angriffs-Komplex,
MASP2 = Mannose bindende, Lektin-assoziierte
Serinprotease, MBL = Mannose bindendes Lektin,
CRP = C-reaktives Protein, Complement
receptors = Komplement-Rezeptoren,
binds = bindet, inhibits = inhibiert,
Final common pathway = Gemeinsamer Reaktionsweg.
Neben dem sogenannten alternativen Weg kann im Rahmen der
„innate Immunity” eine von Antikörpern unabhängige
Aktivierung des Komplementsystems über das Mannose bindende Lektin (MBL)
mit Aktivierung des sogenannten Lektins erfolgen [8]. MBL
ist ein gut definierter, löslicher Mustererkennungsrezeptor und ein
wichtiger Bestandteil des angeborenen Immunsystems. In die Blutbahn
eingedrungene Meningokokken werden an MBL gebunden, was zu einer Aktivierung
der MBL-assoziierten Serin-Protease 1 sowie der MBL-assoziierten Serin-Protease
2 führt [9]
[10]. Im weiteren
Verlauf folgt die Aktivierung der späten Komplementkomponenten und Bildung
des „Membran-Angriff-Komplexes”. Neben der Aktivierung des
Komplementsystems über den Lektin-Aktivierungsweg agiert MBL auch als
Opsonin durch Bindung von Proteinen auf der äußeren Zellmembran von
Neisseria meningitidis und erleichtert so eine
antikörperunabhängige Opsonophagozytose [11].
In den vergangenen Jahren wurden im humanen MBL-Gen mehrere strukturelle
Varianten der kodierenden Gen-Region sowie im Promotorbereich identifiziert,
die im Vergleich zum Wildtyp-Allel mit einer erniedrigten
MBL-Plasmakonzentration einhergehen und mit einer signifikant erhöhten
Anfälligkeit gegenüber invasiven Meningokokken-Infektionen assoziiert
sind [12]
[13].
In [Tab. 3] wird die
Häufigkeitsverteilung von MBL-Exon-1-Varianten in einem Kollektiv von
Säuglingen und Kleinkindern mit invasiven Meningokokken-Infektionen im
Vergleich zu einer gesunden Kontrollpopulation zusammengefasst.
Dabei konnte der stärkste Einfluss eines MBL-Mangels als
Risikofaktor für eine invasive Meningokokken-Infektion in dieser
Altergruppe nachgewiesen werden [13].
Tab. 3 Häufigkeitsverteilung von
MBL-Exon-1-Varianten [13].
Gruppe
| Genotyp n (%)
| | | 0-Allelfrequenz (%)
|
p
=
|
| A/A
| A/0
| 0/0
| | |
Gesamt
| 60 (68,2)
| 25 (28,4)
| 3 (3,4)
| 17,6
| < 0,001
|
Patienten
< 2 LJ.
| 17 (60,7)
| 11 (39,3)
| 0 (0)
| 19,6
| < 0,001
|
Patienten
< 1. LJ
| 6 (42,9)
| 8 (57,1)
| 0 (0)
| 28,5
| < 0,001
|
Kontrolle
| 101 (91,8)
| 9 (8,2)
| 0 (0)
| 4,1
| –
|
Bedeutung der Toll-like-Rezeptor-Proteinfamilie
Lipopolysaccharid (LPS) ist eine Haupt-Glycolipid-Komponente der
äußeren Membran von Meningokokken und anderer gram-negativer
Bakterien. Kürzlich konnten die molekularen Mechanismen, mit denen das
angeborene Immunsystem LPS erkennt, genauer beschrieben werden. Der
Toll-like-Rezeptor 4 (TLR4) wurde als wichtigster Erkennungsrezeptor des
angeborenen Immunsystems identifiziert [14]
[15]. Die Bindung von LPS an einen Komplex, der aus TLR4 und
dem Ko-Molekül MD-2 besteht, führt zur Stimulation einer
intrazellulär lokalisierten Signaltransduktionskaskade mit konsekutiver
Aktivierung von weiteren sogenannten Adaptermolekülen z. B. MyD88
[16], TRIF, TIRAP und TRAM [17].
Folge dieser Aktivierung ist die Ausschüttung proinflammatorischer
Zytokine, wie z. B. Tumornekrosefaktor-α (TNF-α), IL-1,
IL-6, IL-12 und anderer. Nachdem Daten aus dem Mausmodell vorlagen, die darauf
hinwiesen, dass TLR4-Defekte eine bedeutsame Rolle in der Pathogenese invasiver
Meningokokken-Infektionen spielen, konnten nunmehr auch Defekte im humanen
TLR4-Rezeptor als Risikofaktor für das Auftreten invasiver
Meningokokken-Infektionen identifiziert werden [18]
[19].
[Tab. 4] fasst die
Häufigkeitsverteilung von heterozygoten und homozygoten Mutationen bei
Patienten mit invasiven Meningokokken-Erkrankungen zusammen. Besonders
häufig und signifikant sind Säuglinge zu beobachten gewesen, die bei
homozygoter und heterozygoter Mutationslage an einer invasiven
Meningokokken-Infektion erkrankten.
Tab. 4 Genotyp-Verteilung der
Asp299Gly-Mutation bei Patienten mit Meningokokken-Infektion und gesunden
Kontrollprobanden (*signifikant, exakter Fischer-Test [2-seitig])
[19].
Kollektiv
| Genotyp n (%)
| | | Allel 299Gly
|
p
=
|
| Asp/Asp
| Asp/Gly
| Gly/Gly
| | |
IMK, gesamt
| 165 (83,7)
| 27 (13,7)
| 5 (2,5)
| 9,4 %
| 0,247
|
IMK, Alter
< 1 J
| 26 (70,2)
| 9 (24,3)
| 2 (5,4)
| 17,6 %
| 0,008*
|
Kontrollgruppe
| 96 (88,1)
| 13 (11,9)
| 0 (0)
| 6,0 %
| |
Im Vergleich zu älteren Patienten ist der klinische Verlauf
[20] bei den unter 1-Jährigen besonders
ungünstig ([Tab. 5]). Die vorliegenden Daten
deuten darauf hin, dass Defekte im TLR4-Signaltransduktionsweg einen
gewichtigen Risikofaktor für einen schweren klinischen Verlauf invasiver
Meningokokken-Infektionen und anderer gramnegativer Infektionen darstellen.
Tab. 5 Frequenz von TLR4
299Asp/Asp-Wild-Typ und heterozygoten TLR4 299Asp/Gly-Genotypvarianten in
Assoziation mit klinischen Parametern bei Kindern mit invasiven
Meningokokken-Infektionen [20].
| | Alle Patienten
| Patienten
< 2 Jahre
|
| | Auftreten
(%), Anzahl/Gesamt
| Auftreten
(%), Anzahl/Gesamt
|
| | 299Asp/Asp n = 165
| 299Asp/Gly n = 27
| p-Wert
| 299Asp/Asp n = 61
| 299Asp/Gly n = 12
| p-Wert
|
Fataler Verlauf
| Ja
| 68,4 (13/19)
| 31,6 (6/19)
| 0,021
| 57,1 (8/14)
| 42,8 (6/14)
| 0,006
|
| Nein
| 87,9 (152/173)
| 12,1 (21/173)
| | 89,8 (53/59)
| 10,2 (6/59)
| |
Ventilation
| Ja
| 81,8 (45/55)
| 18.1 (10/55)
| 0,298
| 62,5 (15/24)
| 37,5 (9/24)
| 0,002
|
| Nein
| 87,6 (120/137)
| 12,4 (17/137)
| | 93,8 (46/49)
| 6,2 (3/49)
| |
Inotropika
| Ja
| 84,3 (70/83)
| 15,6 (13/83)
| 0,579
| 75 (24/32)
| 25 (8/32)
| 0,081
|
| Nein
| 87,2 (95/109)
| 12,8 (14/109)
| | 90,2 (37/41)
| 9,8 (4/41)
| |
TLR4-Mutationen stellen einen Risikofaktor dar, es ist jedoch auch
wahrscheinlich, dass andere genetische Defekte des angeborenen Immunsystems,
möglicherweise im Zusammenspiel mit TLR4-Mutationen, als Ko-Faktoren
für das Auftreten invasiver Meningokokken-Infektionen agieren. Eine
mögliche Erklärung für die Abnahme der invasiven Infektionen im
voranschreitenden Alter ist das Vorliegen von redundanten, adaptativen
Mechanismen, die die Effekte der Mutation im angeborenen Immunsystem
kompensieren. Eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung invasiver
Pneumokokken-Erkrankungen spielen ebenfalls Mutationen im sogenannten
Toll-like-Rezeptor-System. Mutationen bei den Toll-like-Rezeptoren 2, 4 und 9
konnten tierexperimentell als Risikofaktoren für den besonders schweren
schlechten Verlauf einer Pneumokokken-Infektion identifiziert werden
[21].
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Defekte der
angeborenen Immunität in der vulnerablen Phase vor Ausreifung des
adaptiven Immunsystems phänotypisch evident werden. Mechanismen des
Immunsystems sind auch bei Säuglingen redundant bzw. multifaktoriell
angelegt. Daher folgt eine Teilkompensation und nur im
„ungünstigsten Fall” die Ausbildung einer invasiven
Erkrankung. Jenseits des 1. Lebensjahres ist eine Kompensation von
„Defekten” der angeborenen Immunität durch adaptative
Immunmechanismen zu erwarten.