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DOI: 10.1055/s-0030-1256192
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Tierfellnävus – aus Versehen? Historische Konzepte zur Entstehung von Muttermalen
Pigmented Hairy Congenital Nevus – Caused by Maternal Impression? Historical Concepts on the Origin of Nevi
Dr. med. Michael L. Geiges
Dermatologische Klinik Universitätsspital Zürich
Medizinhistorisches Institut der Universität Zürich
Hirschengraben 82
8001 Zürich
Email: michael.geiges@mhiz.uzh.ch
Publication History
Publication Date:
19 April 2011 (online)
Zusammenfassung
Flecken der Haut, die seit der Geburt bestehen, werden auch Muttermale genannt, da sie „von der Mutter her” kommen. Als wichtige Ursache für die Entstehung von Muttermalen wird seit der Antike das „Versehen” beschrieben und diskutiert. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert distanziert sich die naturwissenschaftliche Medizin von diesem Konzept. Parallel zu den sich entwickelnden Spezialisierungen entstehen anatomisch-embryologische und schließlich genetische Theorien zur Nävusgenese.
#Abstract
Congenital moles are also called mother’s marks because they were said to originate „from the mother”. Since ancient times „maternal impression” was discussed as a possible cause for the development of moles. At the end of the 19th century, this concept was replaced by modern embryologic and finally by genetic theories.
Ein Muttermal ist gemäß Grimms Wörterbuch ein „mal vom mutterleibe her”. Als Ursache eines Muttermales wird noch bis im ausgehenden 19. Jahrhundert das Versehen genannt. So findet sich in der Oekonomischen Encyklopädie von Johann Georg Krünitz im 1853 erschienen Band 216 folgende Definition des Versehens: „Versehen ist auch die Bezeichnung einer nicht abzuleugnenden Thatsache, die bei schwangeren Frauen vorkommt, wenn die gewaltsam aufgeregte Phantasie gewisse lebendige Eindrücke auf sie macht, deren Folgen sich sichtbar auf die Leibesfrucht übertragen. […] Das Factum des Versehens ist wohl außer allem Zweifel; es liegen zu viele Thatsachen, von achtbaren, unbefangenen Männern beobachtet, vor, als daß sie ganz weggeleugnet werden könnten, wenn man auch den Vorgang des Versehens selbst nicht genügend erklären kann.”
Versehen bedeutet also, dass ein Muttermal beim Kind entstehen kann, wenn eine schwangere Frau z. B. erschrickt und sich dabei an einer bestimmten Körperstelle berührt. An dieser Körperstelle kann dann beim Kind ein von der Situation abhängiges Muttermal zu finden sein: Versieht sich die Mutter an einer Maus und fasst sich dabei entsetzt an die Wange, dann besteht das Risiko eines braunen, haarigen Muttermals im Gesicht des Kindes.
Während der Schwangerschaft müssen also Aufregungen möglichst vermieden werden. Beim Gang aus dem Haus sollte die Schwangere die Hände gekreuzt vor dem Körper tragen. Falls sie trotz aller Vorsicht etwas Gräßliches sieht oder erschrickt, dann soll sie die Hände sofort an den Gürtel nehmen und möglichst schnell wegschauen oder dann aber ganz lange hinschauen, um sich so wieder zu beruhigen. Heftigen Gelüsten ist wenn möglich nachzugeben [1].
Obwohl die Erklärungsversuche für das Phänomen unbefriedigend sind, wird grundsätzlich kaum an der Möglichkeit des Versehens gezweifelt.
1756 schreibt die Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg sogar eine Preisfrage zur Ursache des Versehens aus, die schließlich von Karl Christian Krause (1716 – 1793), Professor für Anatomie und Chirurgie in Leipzig, gewonnen wird. Er postuliert Nervenverbindungen zwischen der Schwangeren und dem Fötus, über welche die heftigen Eindrücke der Mutter auf das Kind übertragen werden können [2].
Beschreibungen von Muttermalen finden sich bereits in frühen ägyptischen, indischen und griechischen Schriften, wobei diese aus heutiger Sicht kaum zu interpretieren sind. Oberflächenveränderungen der Haut werden bis in die Neuzeit vor allem mit der Säftelehre und durch den Einfluss des umgebenden Makrokosmos erklärt oder als Strafe für moralische Vergehen interpretiert. Missbildungen, zu denen auch ausgedehnte Muttermale zählen, können eine Strafe Gottes für mütterliche Unzucht und Ehebruch sein.
Schon früh finden sich auch Texte über das Versehen. Bei diesem Ansatz liegt die Verantwortung ebenfalls bei der Mutter, doch zitiert der französische Chirurg Ambroise Paré (1510 – 1590) auch einen Fall aus den Hippokratischen Schriften, bei welchem das Versehen die Mutter vor Schlimmerem schützt: Eine weiße Prinzessin mit weißem Gatten wird des Ehebruchs beschuldigt, weil sie ein schwarzes Kind gebärt. Es kommt aber zum Freispruch: Sie gibt an, dass über ihrem Bett stets das Portrait eines kleinen Mohren hing, der dem Kind glich, und sie sich an diesem versehen hatte [3].
Im gleichen Kapitel berichtet Paré auch von einem Fall aus dem Jahr 1517: In Paris wird ein Kind mit Froschgesicht geboren, ein Chirurge und die Justiz müssen die Ursache dieser Monstergeburt ergründen: Der Vater erklärt, dass seine Frau wegen Fieber den Rat der Nachbarinnen befolgt habe: Um das Fieber zu vertreiben, sollte sie einen lebendigen Frosch in der Hand festhalten, bis er tot war. In jener Nacht ging sie mit ihrem Mann zu Bett und sie verkehrten miteinander, wobei sie noch immer den Frosch in der Hand hielt. Danach schämte sich das Paar so sehr, dass dieses Ungeheuer gezeugt wurde ([Abb. 1]).
Umgekehrt kann auch hergeleitet werden, dass sich das Vorstellungsvermögen der Mutter günstig auf das Kind auswirken könnte. Diese positive Version des Versehens wird 1655 von französischen Dichter Claude Quillet (1602 – 1661) als „Callipédie” oder die Kunst, schöne Kinder zu machen, publiziert. Wenn sich die Mutter mit schönen Dingen umgibt, dann wird über die Sinnesreize ein schönes Kind geformt [1].
Christian Rickmann, ein Vordenker der medizinischen Polizey von Johann Peter Frank (vergleiche dazu den Beitrag von G. Plewig in diesem Heft), fand in seinem 1770 publizierten Buch „Von der Unwahrheit des Versehens” allerdings problemlos genügend Argumente gegen die Theorie des Versehens: So gibt es zahllose Fallbeispiele von „Versehen”, ohne dass es zu Missbildungen gekommen wäre, und unter anderem fragt der Autor auch, warum es denn keine grünen Flecken, sondern nur rote und braune gäbe [4].
Pathophysiologische Erkenntnisse und Forschungsströmungen führen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu unterschiedlichen naturwissenschaftlich erklärten Theorien der Muttermalentstehung. Doch weder das Konzept einer posttraumatischen Ernährungsstörung des Fötus noch die verschiedenen neurogen-vaskulären Ursprungstheorien finden den Weg in die Lehrbücher. Die Idee, im Nävus die Reste des verstorbenen und resorbierten Zwillingsgeschwisters zu sehen, genügt zwar 1867 für Maximillian Bircher, den späteren Erfinder des nach ihm benannten Müeslis, als Dissertation, wird aber ebenfalls nicht weiterverfolgt [5].
Um 1920 versucht der Kölner Dermatologe Emil Meirowsky mit aufwendigen Vergleichsarbeiten die Muttermalentstehung evolutionsbiologisch zu erklären. August Weismann hatte 1885 die Keimplasmatheorie als Weiterentwicklung der Evolutionstheorie Darwins publiziert. Gemäß der Keimplasmatheorie werden Erbinformationen durch Keimzellen weitergegeben, die nicht durch erworbene Eigenschaften des Körpers beeinflusst werden. Auf der Basis des Keimplasmas und des Postulates von Ernst Haeckel, dass die Ontogenese die Phylogenese rekapituliere, erkennt Meirowsky Muttermale als Atavismen, also stammesgeschichtliche Rückschläge, in denen die urtümliche Eigenschaften, die im Menschen noch stecken, wieder zum Vorschein kommen [6].
Meirowsky sammelt alle bis dahin publizierten Fälle von ausgedehnten Muttermalen und ergänzt diese mit eigenen Beobachtungen. Um zu zeigen, dass Muttermale Atavismen sind, stellt er diese den Musterungen und Schecken im Tierreich gegenüber und zeigt für jeden Fall das entsprechende Beispiel aus dem Tierreich. So gleichen z. B. zahlreiche Tierfellnävi den Schecken des Holländer Kaninchens [7] ([Abb. 2]).
Heute lässt sich die Anordnung der großflächigen, genetisch bedingten, organoiden Fehlbildung am besten mit dem von Rudolf Happle dargestellten Konzept des genetischen Mosaizismus erklären [8]. Die Flecken aus dem Tierreich wecken besonders bei der Erforschung von regulierbaren Genen das Interesse [9].
An die seit bald 150 Jahren nicht mehr diskutierte Theorie zur Muttermalentstehung durch Versehen erinnert heute scheinbar nur noch die Redewendung „aus Versehen”. Doch ganz verschwunden ist das damalige medizinische Konzept offenbar noch nicht, wie zumindest 1971 eine Umfrage in Australien und 1999 eine Dissertation aus Tübingen zeigen, nach denen bis zu einem Drittel der befragten Schwangeren die Muttermalentstehung durch Versehen noch für möglich halten [10] [11].
#Literatur
- 1 Wessenburg G von. Das Versehen der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart.. Berlin: Barsdorf; 1920
- 2 Krause K C. Abhandlung von den Muttermälern welche mit dem, von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, auf das Jahr 1756 ausgesetzten Preise gekrönt worden. Nebst einer andern Abhandlung, welche die gegenseitige Meynung behauptet.. Leipzig: Gollner; 1758
- 3 Paré A. Animaux, monstres et prodiges, 1545.. Paris: Edition Le Club Français du Livre; 1954
- 4 Rickmann C. Von der Unwahrheit des Versehens.. Jena: Gollner; 1770
- 5 Bircher M O. Zur Aetiologie des Naevus pilosus pigmentosus congenitus, extensus.. Diss. med. Zürich; 1897
- 6 Meiroswsky E. Über die Entstehung der sogenannten kongenitalen Missbildungen der Haut. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1919; 127 1-192
- 7 Meirowsky E, Leven L. Tierzeichnung, Menschenscheckung und Systematisation der Muttermäler. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1921; 134 1-72
- 8 Happle R. Bedeutung der Blaschkoschen Linien. Z Hautkr. 1977; 52 935-944
- 9 Happle R. Muster auf der Haut. Neues zu entwicklungsbiologischen und genetischen Ursachen. Hautarzt. 2004; 55 960-968
- 10 Pearn J H, Pavlin H. „Maternal impression” in a modern Australian community. Med J Aust. 1971; 22 1123-1126
- 11 Reichenbach S. Ueber den Aberglauben der Muttermale – gestern und heute.. Diss. med. Tübingen; 1999
Dr. med. Michael L. Geiges
Dermatologische Klinik Universitätsspital Zürich
Medizinhistorisches Institut der Universität Zürich
Hirschengraben 82
8001 Zürich
Email: michael.geiges@mhiz.uzh.ch
Literatur
- 1 Wessenburg G von. Das Versehen der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart.. Berlin: Barsdorf; 1920
- 2 Krause K C. Abhandlung von den Muttermälern welche mit dem, von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, auf das Jahr 1756 ausgesetzten Preise gekrönt worden. Nebst einer andern Abhandlung, welche die gegenseitige Meynung behauptet.. Leipzig: Gollner; 1758
- 3 Paré A. Animaux, monstres et prodiges, 1545.. Paris: Edition Le Club Français du Livre; 1954
- 4 Rickmann C. Von der Unwahrheit des Versehens.. Jena: Gollner; 1770
- 5 Bircher M O. Zur Aetiologie des Naevus pilosus pigmentosus congenitus, extensus.. Diss. med. Zürich; 1897
- 6 Meiroswsky E. Über die Entstehung der sogenannten kongenitalen Missbildungen der Haut. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1919; 127 1-192
- 7 Meirowsky E, Leven L. Tierzeichnung, Menschenscheckung und Systematisation der Muttermäler. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1921; 134 1-72
- 8 Happle R. Bedeutung der Blaschkoschen Linien. Z Hautkr. 1977; 52 935-944
- 9 Happle R. Muster auf der Haut. Neues zu entwicklungsbiologischen und genetischen Ursachen. Hautarzt. 2004; 55 960-968
- 10 Pearn J H, Pavlin H. „Maternal impression” in a modern Australian community. Med J Aust. 1971; 22 1123-1126
- 11 Reichenbach S. Ueber den Aberglauben der Muttermale – gestern und heute.. Diss. med. Tübingen; 1999
Dr. med. Michael L. Geiges
Dermatologische Klinik Universitätsspital Zürich
Medizinhistorisches Institut der Universität Zürich
Hirschengraben 82
8001 Zürich
Email: michael.geiges@mhiz.uzh.ch