Bernd W. Böttiger
Wir können 100 000 Menschen pro Jahr in Europa
retten
In jedem Jahr sterben in Europa 350 000 Menschen nach einem
plötzlichen Kollaps bzw. Kreislaufstillstand, obwohl
Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Das sind 1000 Menschen pro
Tag und ein Mensch alle 1,5 min. Stellen wir uns – sehr plakativ
– einmal vor, was alles passieren würde, wenn in Europa – das
ganze Jahr über – jeden Tag 2 Jumbo-Jets abstürzen würden
und es keine Überlebenden gäbe. Das Ergebnis bezüglich der zu
beklagenden Menschenleben wäre das gleiche. Würden wir nicht Himmel
und Erde in Bewegung setzen und alles – finanziell,
forschungsmäßig und politisch – geben, um ein solches Problem
sofort anzugehen und zu lösen? Beim Kreislaufstillstand ist dies ganz
offensichtlich anders. Warum ist das so? Ist dieser massenhafte Tod einfach zu
still, zu individuell, zu privat, oder einfach zu wenig spektakulär?
Ein anderer Vergleich macht mich nicht weniger betrübt –
und gleichzeitig sehr hoffnungsvoll: In den vergangenen 30 Jahren wurde
für den in einer Klinik eintreffenden Patienten mit Myokardinfarkt eine
Abnahme der Letalität um den Faktor 10 erreicht. Dazu beigetragen hat
sicherlich, dass für den Herzinfarkt sehr viele klinische Studien
gefördert, durchgeführt, abgeschlossen und im Ergebnis umgesetzt
wurden. Unsere amerikanischen Kollegen haben ihre diesbezüglichen
Aktivitäten aktuell hochgerechnet und sich genau angesehen, wie viele
Studien pro 10 000 Todesfälle für unterschiedliche
Krankheitsbilder gefördert wurden [1]: Beim
Myokardinfarkt wurden 439 Studien pro 10 000 Todesfälle
gefördert, für den Kreislaufstillstand und die Reanimation waren es
dagegen nur 8 (s. Tab. [1]). Um
zukünftig eine signifikante Verbesserung des Überlebens beim
Kreislaufstillstand erzielen zu können, müssen auch in diesem Bereich
wesentlich mehr klinische Untersuchungen gefördert und publiziert werden.
Dann werden wir auch hier zum Myokardinfarkt vergleichbare Verbesserungen des
Überlebens erreichen.
Tabelle 1 Anzahl geförderter
Studien, Anzahl der Todesfälle pro Jahr und Anzahl der geförderten
Studien pro 10000 Todesfälle und Jahr in den USA für verschiedene
Erkrankungen [1].
Suchbegriff
| Geförderte Studien
| Todesfälle pro Jahr
| Geförderte Studien
pro 10 000 Todesfälle und Jahr
|
myocardial infarction
| 6886
| 157 000
| 439
|
stroke
| 4403
| 150 000
| 294
|
heart failure
| 9919
| 284 000
| 349
|
heart arrest and
resuscitation
| 257
| 310 000
| 8
|
Das, was an experimentellen und klinischen Studienergebnissen
verfügbar ist im Bereich Kreislaufstillstand und kardiopulmonale
Reanimation, wird regelmäßig im Rahmen des International Liaison
Committee on Resuscitation (ILCOR,
www.ilcor.org) umfassend
evaluiert und bewertet. Nach einem mehrjährigen, sehr intensiven Prozess
– an dem mehr als 100 europäische Wissenschaftler aus zahlreichen
Fachgebieten aktiv beteiligt waren – und im Rahmen dessen fast 300
eigenständige wissenschaftliche Fragestellungen in einem standardisierten
und evidenzbasierten Leitlinienprozess bearbeitet wurden
[2], hat das European Resuscitation Council (ERC,
www.erc.edu) am
18. Oktober 2010 die neuen Leitlinien zur kardiopulmonalen Reanimation
veröffentlicht [3]. Bereits kurze Zeit
später lagen diese Leitlinien auch in der offiziellen gemeinsamen
deutschen Übersetzung durch das German Resuscitation Council (www.grc-org.de), das Austrian Resuscitation
Council (www.arc.or.at) und das Swiss
Resuscitation Council (www.resuscitation.ch) vor. Die
zentralen Aussagen der neuen Reanimationsleitlinien 2010 sind ganz klar:
-
fester und schneller drücken als bisher, möglichst
ohne Pausen, also „Hauptsache heftige Herzmassage”,
-
beatmen, auch durch Laien, immer wenn sie dies können und
wollen,
-
„Telefon-Reanimation”, also telefonische Anleitung
von Laien zu Thoraxkompressionen durch die Leitstelle,
-
frühe und ggf. automatische Defibrillation,
-
Lyse während der Reanimation bei Lungenembolie,
-
„Lipid Resuscitation” bei Kreislaufstillstand nach
Lokalanästhetikaintoxikation,
-
nicht zu viel Sauerstoff nach Wiederherstellung des
Kreislaufs,
-
therapeutische Hypothermie für Erwachsene, Kinder und
asphyktische Neugeborene
-
und bei Erwachsenen immer auch an die hier sehr häufige
koronare Ursache des Kreislaufstillstands denken und diese ggf. im
Herzkatheterlabor therapieren.
Wenn man nicht alleine ist, dann soll man sich alle 2 Minuten bei
der Herzmassage ablösen lassen, denn nach 2 Minuten kann auch ein
kräftiger Mensch nicht mehr effektiv den Brustkorb eindrücken. Auch
für Laien ist die Botschaft ganz klar: Das Wichtigste ist die heftige
Herzmassage. Jeder kann das, selbst Schulkinder – es ist kinderleicht.
Schaden kann man nicht. Jeder kann zum Überleben beitragen, selbst wenn er
oder sie noch nie eine Wiederbelebung gesehen haben. Dies muss in der breiten
Bevölkerung nachhaltig ankommen – wir alle sind hier auch
persönlich gefordert.
Die neuen ERC-Leitlinien 2010 setzen sehr konsequent die Richtung
fort, die vom ERC 2005 – und wie wir mittlerweile wissen sehr erfolgreich
im Hinblick auf das Überleben [4] –
eingeschlagen wurde (www.erc.edu). Ich bin
ganz sicher: Bei konsequenter Anwendung der neuen ERC-Leitlinien werden wir
100 000 Menschenleben pro Jahr in Europa mehr retten. Wir – die
Profis – und die Laien müssen das jetzt Neue nur konsequent und
umfassend umsetzen. Wir müssen die Botschaft nur weit verbreiten und
verankern – auch die Botschaft, dass wir hier in Zukunft viel mehr in
Forschung investieren müssen.