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DOI: 10.1055/s-0030-1256492
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Marcello Malpighi (1628 – 1694) und die Begriffe Miliar und Tuberkel[1]
Eine Ergänzung der bisherigen historischen TerminologieMarcello Malpighi (1628 – 1694) and the Terms Miliary and TubercleA Completion of Hitherto Existing Historical TerminologyZusammenfassung
In Mitteleuropa ist die Miliartuberkulose heute eine sehr seltene Erkrankung, die oft zu diagnostischer Unsicherheit führt. Der Begriff „miliar” wird mit seinen bislang akzeptierten historischen Wurzeln dargestellt. Eine Wiedergabe kaum bekannter Sektionsprotokolle Marcello Malpighis durch den italienischen Autor L. Munster belegt die frühe Anwendung der Termini „miliar” und „Tuberkel”.
#Abstract
Today Miliary Tuberculosis in Central Europe is a rare disease, quite often with resulting diagnostic uncertainty. The terms “miliary” and “tubercle” are outlined with their up to now accepted historical roots. An analysis of Marcello Malpighi's quite unknown post-mortem reports by the Italian author L. Munster reveals an earlier use of both terms than described till now.
Die Miliartuberkulose ist in den mitteleuropäischen Ländern eine Rarität geworden. Bei einer Inzidenz der Lungentuberkulose von 3,4/100 000 in der deutschen Bevölkerung erkranken an dieser Sonderform nur 0,9 %, vorwiegend Patienten mit Immunmangel, z. B. bei Tumoren, HIV-Infektion o. ä. [1].
Diesem Tatbestand geschuldet sind zunehmend Probleme der Diagnostik miliarer Prozesse. Es beginnt mit der einfachen Feststellung, dass kaum noch die Größe eines Hirsekorns (1 – 2 mm) bekannt ist, die deskriptive Diagnose Miliartuberkulose also bereits da zu scheitern droht ([Abb. 1]).
Pathoanatomisch ist die Miliartuberkulose der Lungen als eine virulente Form der Tuberkulose mit akutem oder subakutem Auftreten definiert. Makroskopisch sind unzählige kleine Herde über die Lungen verstreut, mikroskopisch sind je nach Abwehrlage exsudative oder proliferative Bilder möglich [2] ([Abb. 2]).
Die miliare Beherdung der Lunge ist auf der Thoraxübersicht schwer erkennbar, insofern stellt heute die HR-Computertomografie eine wichtige diagnostische Bereicherung dar [3].
Für die medizinhistorisch interessierten Kollegen ist eine Darstellung der Wurzeln dieser Begriffe sicher von Interesse.
Zu den frühen Anfängen der Anwendung des Begriffes „miliar” schreibt R. Virchow (1821 – 1902) in einer zu seinen Lebzeiten oft zitierten historisch-kritischen Untersuchung 1865: „Wo die Vergleichung mit Hirsekörnern zuerst gemacht ist, kann ich nicht ausmachen” [4].
In zwei heutigen Standardwerken medizinhistorischer Termini heißt es zu den Begriffen:
#„Miliary, first use of term”
Gaspar Laurent Bayle, French Physician, 1774 – 1816, was the first to use the term, probably in 1810.
#„Miliary tuberculosis, first reference to”
Matthew Baillie, English Physician, 1761 – 1823, was the first to call attention to a miliary type of tuberculosis in his book on the morbid anatomy of some of the most important parts of the human body, published in 1793 (J. E. Schmidt: Medical Discoveries – Who and When 1959 [5]).
#„Miliary”
Latin: milium, millet (The grain was so named from latin, mille, a thousand, on account of its fertility).
The term miliary has been used to express something about the size of a millet seed, i. e. about 1/12 inch or 2 mm in diameter. It was first used in medicine in connection with skin conditions. In 1685 Boyle (?Robert Boyle, 1627 – 1691, – die Verf.) referred to the „minute or miliary glandules of the skin”.
#„Miliary Tuberculosis”
In 1679 Bonetus (Theophilus Bonetus, 1620 – 1689, Genf – die Verf.) observed a lung “seeded with minute tubercles”. Bonetus’ book ”sepulchretum”, was re-published by Jean Jacques Manget (Johannes Jacobus Mangetus, 1652 – 1742, Brandenburg – die Verf.) in 1700 and it was Manget who compared these tubercles to millet seeds (“magnitudine seminum milii”). The term miliary became associated with tuberculosis in the form of a rapidly spreading type with many tubercles over wide areas. This type was described in 1872 by Ludwig Buhl (1816 – 1880), Professor of Pathology in Munich [6].
#„Tuberkel”
Im Jahre 1667 hatte F. de le Boë, Sylvius (1614 – 1672), Leiden, den Tuberkel als pathognomonisches Merkmal der Phtise identifiziert und er gilt bei allen älteren und neueren Autoren bis heute als dessen Erstbeschreiber: „Vidi … in pulmonibus tubercula, minora vel majora” (lat: vel – oder) [7] [13] [14].
Zwei Aspekte veranlassten uns, der historischen Belegbarkeit der Termini „Miliar” und „Tuberkel” erneut nachzugehen. Zum einen die Tatsache, dass die jüngere der beiden zitierten Publikationen (Skinner 1970) die beiden von Schmidt genannten Autoren Bayle 1810 und Baillie 1793 nicht erwähnt. Unsere Recherchen im Originalschrifttum belegen aber die Richtigkeit der von Schmidt angegebenen Daten und Fakten [8] [9].
Der zweite, wesentlichere Impuls entstand aus unserer Vorbereitung einer Publikation zu Marcello Malpighis (1628 – 1694) 2 berühmten Briefen „De pulmonibus”, die Erstpublikation über den mikroskopischen Feinbau der Lungen aus dem Jahre 1661, also vor 350 Jahren ([Abb. 3]).
Bei der Prüfung des Schrifttums von und über Malpighi stießen wir auf eine italienische Festschrift aus dem Jahre 1966 [10]. Dort gibt der Medizinhistoriker Ladislao Munster aus Ferrara den lateinischen Originaltext von 38 Sektionsberichten Malpighis aus den Jahren 1666 – 1693 wieder, von Munster mit einem eingehenden italienischen Kommentar versehen [11]. Dieser Text findet nach unserer Kenntnis im Englischen eine einzige kurze Erwähnung [12], dort unter kardiologischen Aspekten betrachtet, und ist im Deutschen unseres Wissens bislang nicht gewürdigt worden. In dieser Arbeit finden sich zu den Termini „Miliar” und „Tuberkel” einige überraschende Textstellen, die für die bisherige zeitliche Zuordnung dieser Begriffe eine Ergänzung darstellen respektive eine Korrektur erlauben.
Für das Jahr 1686 wird auf folio f 66 a anlässlich der Sektion eines unter Fieber mit blutigem Auswurf und Nasenbluten verstorbenen Jünglings in den letzten Tagen vor dem Tode eine „eruptio miliaris circa claviculas” beschrieben, also knapp ein Jahr nach dem bei Skinner für Boyle angegebenen Datum 1685.
Im Jahre 1686 (folio f 81 a) wird im Protokoll zum Tode des Grafen B. Gaddi bei der Sektion seiner Lungen folgender Befund erhoben: „Reliqua pulmonum moles dissecta exhibebat tubercula minima, sicuti miliares glandulas” (lat: sicut – gleich wie, moles – die Masse).
Im Jahre 1687 zeigt die Sektion bei einer Frauenleiche im Pankreas „tubercola ad magnitudinem ciceris” (lat: cicer – die Kichererbse), während (folio f 19 a): „In pulmonibus exterius pustulae nigrae milii instar” beschrieben werden. (lat: instar – in der Größe von).
Somit belegen diese Sektionsberichte Malpighis für das Jahr 1686 den Begriff „miliar” für Hauteruptionen knapp 1 Jahr nach Boyle, und für die Jahre 1686 und 1687 bei mindestens zwei Fällen von Lungentuberkulose diese Vokabel für jeweilige kleinste Lungenherde, zeitlich also vor der Beschreibung von Mangetus im Jahre 1700 (s. [Tab. 1]).
Der Terminus „Tuberkel” findet sich bei Malpighi bereits erstmals in folio f 61 a vom 16. 05. 1667, also mindestens zeitgleich zu Sylvius:
„Pulmo … tuberculis variis scatebat” (lat: scatere – ganz voll sein, wimmeln von).
In seinem eingehenden, nach Organgruppen geordneten italienischen Kommentar bemerkt L. Munster unter „Apparato Respiratorio” (S. 213 des Bandes) zweierlei: Zu jedem der seit 1667 von Malpighi demonstrierten Fällen von „tisi polmonare” gehören Tuberkel, sowohl pleural als auch im Lungenparenchym. Diese Tuberkel seien von einheitlicher Größe, in gewissen Fällen aber auch variabel, reichend von „minimi” (1677, folio f 64 a) bis zur Größe von „fructus cerasorum” (1667, folio f 80 B) (lat: cerasum – die Kirsche). Der für unser Thema entscheidende Satz Munsters wird hier im leicht verständlichen italienischen Original zitiert: „Il Malpighi vide anche i tubercoli miliari e li descrive con questo nome” und bezieht sich dabei auf den oben aufgeführten Fall in folio, f 81 a von 1686.
Somit kann eine ergänzte Zeittafel mit wichtigen historischen Wegmarken zu Tuberkulose und Miliartuberkel in folgender Weise erstellt werden (s. [Tab. 1]).
Jahr | Autoren | Zitat, Kernbefund |
1667 | M. Malpighi | „pulmo … tuberculis variis scatebat” |
1667 | Fr. de le Boë Sylvius | „tubercula minora vel majora” |
Erkenntnis beider Autoren: Tuberkel pathognomonisch bei Phtise |
||
1679 | Th. Bonnet | „minimis tuberculis” |
1685 | (R.) Boyle | „minute or miliary glandules of the skin” |
1686 | M. Malpighi | „eruptio miliaris circa claviculas” |
1686 | M. Malpighi | „tubercula minima, sicuti miliares glandulas” |
1687 | M. Malpighi | „in pulmonibus … pustulae nigrae milii instar” |
1700 | J. J. Mangetus | „grandines (dt. Hagelkörner) magnitudine seminis milii” |
1753 | P. B. Barrère | „pulmones respersi (dt.: besprenkelt) per totum minimis tuberculis, fere instar seminum milii” |
1793 | M. Baillie | miliary type of phtisis „tubercle no larger than the head of a small pin |
1810 | G. L. Bayle | „phtise pulmonaire”, „tubercule miliaire”” Basis: Klinik und Sektion von 900 Fällen |
1834 | J. L. Schönlein | erstmals Terminus „Tuberculose” |
Modifiziert nach: [10] [11] [13] [14]. |
Conclusion
Zur Kennzeichnung von Form und Größe benutzten Pathologen und später auch Kliniker und Radiologen gerne Vergleiche aus der ihnen bekannten Natur. Der Wandel der Flora in Europa, fehlendes botanisches Wissen und die sich mehr und mehr durchsetzenden numerischen Messmethoden lassen derartige Kennzeichnungen selten werden. Bei den Begriffen „miliar” und „Miliartuberkulose” haben sich diese Termini erhalten, obwohl heute nur noch wenige exakt damit umgehen können.
Medizinhistorische Betrachtungen dieser Art dienen zum einen der Erinnerung an große Ärzte, die mit oft einfachsten Mitteln Krankheiten diagnostizierten und zum anderen unserer eigenen klaren Begrifflichkeit. Hier ist Malpighi in vielfacher Hinsicht ein herausragendes Beispiel [15] [16] und nach unserer Erkenntnis gebührt ihm die Ehre, die Begriffe „miliar” und „Miliartuberkel” als Erster geprägt zu haben. Ebenso erkennt und benennt er mindestens zeitgleich mit Sylvius 1667 den Tuberkel als prägende pathologische Struktur der Schwindsucht. Das ist – wie ausgeführt – im bisherigen Schrifttum bis dato nicht so dargestellt worden. Basierend auf der von uns aufgeführten Analyse L. Munsters sollte eine entsprechende Korrektur der historischen Chronologie erfolgen.
Quelle aller im Text aufgeführten lateinischen Vokabeln:
Georges KE. Lateinisch-Deutsches Schulwörterbuch, 7. Ausg. Hannover: Hahnsche Buchhandlung; 1898
Interessenkonflikt
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
#Literatur
- 1 Robert-Koch-Institut .Epidemiologisches Bulletin. 11/2011: 23. 3. 11 Berlin;
- 2 Dail D H, Hammar S P. Pulmonary Pathology.. Vol. 1 3rd ed. New York: Springer science; 2008
- 3 Webb W R, Müller N L, Naidich D P. High-Resolution CT of the Lung.. 4th ed. Philadelphia: Lippincott, Wiliams and Wilkins; 2009
- 4 Virchow R. Phymatie, Tuberculose und Granulie. Eine historisch-kritische Untersuchung. Arch f pathol Anat. 1865; 34 11-73
- 5 Schmidt J E. Medical Discoveries: Who and When.. Springfield: Charles C. Thomas; 1959
- 6 Skinner H A. The Origin of Medical Terms.. Baltimore: Williams & Wilkins; 1949. 2nd ed. 1970
- 7 De le Boë Sylvius F. Praxeos medicae.. append. Tract. IV. (De phtisi), par 51 1667. Zitiert in: Amerio A. Il termine „Tisi”: Sua Evoluzione Storica. Atti del XXI Congresso Internazionale di Storia della medicina. Vol. 1 Siena: ; 1968: 743-750
- 8 Bayle G L. Recherches sur la phtzisie pulmonaire.. Paris: Gabon; 1810
- 9 Baillie M. The morbid anatomy of some of the most Important Parts of the Human Body.. London: Johnson & Nicollze; 1793
- 10 Università di Bologna Celebrazioni Malpighiane Discorsi e Scritti. 24.10.65 Bologna: Azzoguidi; 1966
- 11 Munster L. Marcello Malpighi: „Anatomica sive in cadaveribus sectis observationes”.. In: Università di Bologna Celebrazioni Malpighiane Discorsi e Scritti. 24. 10. 65 Bologna: Azzoguidi; 1966: 170-228
- 12 Jarcho S. The Concept of Heart Failure, From Avicenna to Albertini.. Cambridge: Harvard Univ. Press; 1980
- 13 Waldenburg L. Tuberculose. Die Lungenschwindsucht und Scrofulose.. Berlin: A. Hirschwald; 1869
- 14 Löffler W. Geschichte der Tuberkulose.. In: Hein J, Kleinschmidt H, Uehlinger E, Hrsg. Handbuch der Tuberkulose. Bd. 1 Stuttgart: G. Thieme; 1958: 1-108
- 15 Vannotti A. Marcello Malpighi.. In: Dusmenil R, Schadewaldt H Die berühmten Ärzte.. 2. Aufl. Köln: Aulis Verl; o. J.: 106-107
- 16 Schmiedebach H. Marcello Malpighi.. In: Gerabek W, et al. Enzyklopädie Medizingeschichte.. Berlin: de Gruyter; 2005: 887-889
1 Herrn Dr. med. Clemens Kroeger, dem langjährigen Kollegen und Freund, zum 65. Geburtstag.
Literatur
- 1 Robert-Koch-Institut .Epidemiologisches Bulletin. 11/2011: 23. 3. 11 Berlin;
- 2 Dail D H, Hammar S P. Pulmonary Pathology.. Vol. 1 3rd ed. New York: Springer science; 2008
- 3 Webb W R, Müller N L, Naidich D P. High-Resolution CT of the Lung.. 4th ed. Philadelphia: Lippincott, Wiliams and Wilkins; 2009
- 4 Virchow R. Phymatie, Tuberculose und Granulie. Eine historisch-kritische Untersuchung. Arch f pathol Anat. 1865; 34 11-73
- 5 Schmidt J E. Medical Discoveries: Who and When.. Springfield: Charles C. Thomas; 1959
- 6 Skinner H A. The Origin of Medical Terms.. Baltimore: Williams & Wilkins; 1949. 2nd ed. 1970
- 7 De le Boë Sylvius F. Praxeos medicae.. append. Tract. IV. (De phtisi), par 51 1667. Zitiert in: Amerio A. Il termine „Tisi”: Sua Evoluzione Storica. Atti del XXI Congresso Internazionale di Storia della medicina. Vol. 1 Siena: ; 1968: 743-750
- 8 Bayle G L. Recherches sur la phtzisie pulmonaire.. Paris: Gabon; 1810
- 9 Baillie M. The morbid anatomy of some of the most Important Parts of the Human Body.. London: Johnson & Nicollze; 1793
- 10 Università di Bologna Celebrazioni Malpighiane Discorsi e Scritti. 24.10.65 Bologna: Azzoguidi; 1966
- 11 Munster L. Marcello Malpighi: „Anatomica sive in cadaveribus sectis observationes”.. In: Università di Bologna Celebrazioni Malpighiane Discorsi e Scritti. 24. 10. 65 Bologna: Azzoguidi; 1966: 170-228
- 12 Jarcho S. The Concept of Heart Failure, From Avicenna to Albertini.. Cambridge: Harvard Univ. Press; 1980
- 13 Waldenburg L. Tuberculose. Die Lungenschwindsucht und Scrofulose.. Berlin: A. Hirschwald; 1869
- 14 Löffler W. Geschichte der Tuberkulose.. In: Hein J, Kleinschmidt H, Uehlinger E, Hrsg. Handbuch der Tuberkulose. Bd. 1 Stuttgart: G. Thieme; 1958: 1-108
- 15 Vannotti A. Marcello Malpighi.. In: Dusmenil R, Schadewaldt H Die berühmten Ärzte.. 2. Aufl. Köln: Aulis Verl; o. J.: 106-107
- 16 Schmiedebach H. Marcello Malpighi.. In: Gerabek W, et al. Enzyklopädie Medizingeschichte.. Berlin: de Gruyter; 2005: 887-889
1 Herrn Dr. med. Clemens Kroeger, dem langjährigen Kollegen und Freund, zum 65. Geburtstag.