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DOI: 10.1055/s-0030-1262348
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Bradykinin-vermittelte Angioödeme – Hereditäres Angioödem: wie erkennen? Wie behandeln?
Publication History
Publication Date:
28 June 2010 (online)
- HAE: seltene Erkrankung mit hoher Dunkelziffer
- Bradykinin als Ursache der typischen Attacken
- Verzögerte Diagnose kann schwere Konsequenzen haben
- Anamnese liefert wichtige Hinweise
- Präferenz des Patienten entscheidet mit über die Therapie
- Neue Klassifikation der Angioödeme
- Aufklärungsbedarf bei Angioödemen im Kopf-Hals-Bereich
- Literatur
Im Unterschied zu Mastzellmediator-vermittelten Angioödemen wie der Urtikaria sind das hereditäre und das erworbene Angioödem dadurch bedingt, dass vermehrt Bradykinin gebildet bzw. dessen Abbau gehemmt wird. Im Folgenden berichten Dr. Markus Magerl und Dr. Ulrike Förster von der Charité Berlin, worauf bei der Diagnose der Bradykinin-vermittelten Angioödeme zu achten ist und welche therapeutischen Konsequenzen sich durch die unterschiedlichen Mediatoren ergeben.
#HAE: seltene Erkrankung mit hoher Dunkelziffer
Mit einer Inzidenz von etwa einen Patienten auf 10 000-50 000 Einwohner ist das hereditäre Angioödem (HAE) eine sehr seltene Erkrankung, die aber vermutlich mit einer hohen Dunkelziffer behaftet ist. Relativ häufig sind dagegen Angioödeme, die durch Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) ausgelöst werden. Solche RAAS-Inhibitor-induzierten Angioödeme (RAE) sind eine pharmakologisch bedingte Nebenwirkung der ACE (Angiotensin Converting Enzyme)-Hemmer und treten bei etwa 0,5 % der mit ihnen behandelten Patienten auf [1]. Angiotensin (AT)-II-Antagonisten können ebenfalls ein RAE verursachen.
#Bradykinin als Ursache der typischen Attacken
Ursache des HAE sind Mutationen des C1-Esterase-Inhibitor-(C1-INH)-Gens, die beim Typ-I-HAE zu erniedrigten C1-INH-Spiegeln führen. Das Typ-II-HAE ist durch normale oder sogar erhöhte Spiegel eines funktionell defekten C1-INH-Proteins charakterisiert. Das sehr seltene Typ III-HAE kann Folge einer Mutation des Faktor XII (Hageman-Faktor)-Gens sein. Bedingt durch den Mangel bzw. die Fehlfunktion des C1-INH beim HAE Typ I und II kommt es zur vermehrten Bildung von Bradykinin, das über Bradykinin-B2-Rezeptoren eine erhöhte vaskuläre Permeabilität bewirkt. Der vermehrte Flüssigkeitsaustritt verursacht die HAE-typischen Attacken mit Schwellungen der Haut sowie der Schleimhäute im Magen-Darm-Trakt (sehr schmerzhaft) und im Kehlkopfbereich (lebensgefährlich). Das HAE wird autosomal dominant vererbt. Da es bei etwa jedem vierten Patienten durch eine Neumutation verursacht wird, gibt es aber nicht immer eine familiäre Vorgeschichte. Beim RAE ist nicht der C1-INH beeinflusst, sondern der durch ACE vermittelte Abbau von Bradykinin wird gehemmt.
#Verzögerte Diagnose kann schwere Konsequenzen haben
Erste Attacken eines HAE treten meist vor dem 20. Lebensjahr auf. Anschließend vergehen laut Daten in der Literatur durchschnittlich etwa 13 Jahre bis zur korrekten Diagnose. Dies hat sich nach Einschätzung von Dr. Markus Magerl, Allergie-Centrum-Charité der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie Charité - Campus Mitte, in den letzten Jahren allerdings etwas gebessert. Beim RAE erfolge die Diagnose in der Regel schneller. Es wird aber nicht immer bei der ersten Attacke diagnostiziert. Eine verzögerte Diagnose kann bei Schwellungen der oberen Schluck- und Atemstraße lebensbedrohliche Folgen haben. Dies gilt besonders für Patienten, bei denen Angioödeme im Kopf-Hals-Bereich im Vordergrund stehen (Abb. [1]). Fast jeder zweite Patient mit HAE erleidet mindestens einmal im Leben ein Larynxödem. Vor allem aber treten Hautschwellungen sowie die mit Übelkeit, Erbrechen und kolikartigen Schmerzen einhergehenden Magen-Darm-Attacken auf.


Abb. 1 Angioödem im Kopf-Hals-Bereich.
Bei manchen Patienten mit C1-INH-Mangel treten Magen-Darm-Attacken sehr selten oder unregelmäßig auf, bei anderen mehr als zwölfmal im Jahr. In der Regel dauern diese Beschwerden 3-5, manchmal sogar 7 Tage an. "Magen-Darm-Attacken sind in den seltensten Fällen lebensbedrohlich, aber höchst einschränkend und extrem schmerzhaft. Eine Patientin beschrieb, es seien Schmerzen wie bei der Geburt ihrer Tochter - und dies über mehrere Tage, das bedeutet eine extreme Belastung", berichtete Magerl. Häufig werden auch unnötige chirurgische Eingriffe wegen des Verdachts auf ein akutes Abdomen vorgenommen.
#Anamnese liefert wichtige Hinweise
Wird ein Patient mit Verdacht auf ein HAE oder RAE an das Allergie-Centrum-Charité überwiesen, erfolgt zunächst eine ausführliche Anamnese. "Sie hat im Rahmen der Diagnose den höchsten Stellenwert. Wir fragen, wann die Beschwerden zum ersten Mal aufgetreten sind, wie häufig sie auftreten und wie sie sich darstellen", so Magerl. Entscheidend seien ferner die Familien- und Medikamentenanamnese sowie die Frage nach gleichzeitig auftretenden Quaddeln. Letztere deuten auf eine allergische Reaktion hin und schließen ein nicht-allergisches Angioödem fast sicher aus. Bei Verdacht auf ein RAE erfolgt zunächst keine weiterführende Diagnostik. "Stattdessen verschreibe ich eine Notfallmedikation und empfehle, den ACE-Hemmer abzusetzen. Bei anderen nicht-allergischen Angioödemen bestimmen wir Funktion und Konzentration des C1-INH. Werden die Werte richtig interpretiert, liefern sie ziemlich eindeutige Hinweise, ob es sich um einen C1-INH-Mangelzustand oder eher um ein Histamin- bzw. Mastzell-vermitteltes Angioödem handelt", sagte Magerl.
#Präferenz des Patienten entscheidet mit über die Therapie
Derzeit betreut das Allergie-Centrum-Charité rund 60 Patienten mit HAE oder anderen C1-INH-Mangelzuständen. Von ihnen kommen etwa 40 regelmäßig in die Angioödem-Sprechstunde, die übrigen nur bei speziellen Fragestellungen. Die Therapie orientiert sich an der Ursache. Patienten mit HAE erhalten - je nach Häufigkeit der Attacken - eine Akutbehandlung mit dem aus Blutplasma gewonnenen C1-INH-Konzentrat oder dem synthetisch hergestellten Bradykinin-B2-Rezeptorantagonisten Icatibant oder eine Langzeitprophylaxe mit Androgen-Derivaten. Bei der Akutbehandlung entscheidet Dr. Magerl nach Patientenerfahrung und Kontraindikationen über die Therapie. Bei Kindern, während der Schwangerschaft sowie bei Patienten nach einem kürzlich erlittenen Herzinfarkt verzichtet er auf den Einsatz von Icatibant. "Beide Präparate haben einen etwa gleich schnellen Wirkungseintritt und beide wirken zuverlässig", so Magerl.
Bei der Wahl zwischen Icatibant und C1-INH-Konzentrat bespricht Dr. Magerl mit dem Patienten Vor- und Nachteile der Therapieformen. Hat ein Patient Angst vor der i.v.-Gabe oder sind die Venen schlecht zu punktieren, spricht dies für die einfachere subkutane Gabe von Icatibant. "Bei Icatibant hoffen wir auf die Zulassung zur Selbstmedikation, die momentan ausdrücklich nicht zugelassen ist. Sie wäre aber für viele Patienten eine Erleichterung, zum Beispiel auf Reisen", gab Dr. Magerl zu bedenken. Für den Arzt sei die s.c.-Applikation von Vorteil, wenn ein Patient starke Schmerzen oder Atemnot hat. "Denn zur i.v.-Gabe von C1-INH-Konzentrat muss man bis zu 3 oder 4 Fläschchen auflösen - und das braucht seine Zeit. In der Notfallsituation ist die Fertigspritze zur s.c.-Gabe von Icatibant schneller appliziert". Die Zulassung von Icatibant beschränkt sich derzeit auf die Behandlung akuter Attacken des HAE bei erwachsenen Patienten mit C1-INH-Mangel. Jede andere Anwendung ist somit off-label. Es ist jedoch momentan der einzig verfügbare Bradykinin-Inhibitor.
#Neue Klassifikation der Angioödeme
Bislang gab es keine anerkannte Klassifikation der Angioödeme, die der Erkenntnis der letzten Jahre Rechnung getragen hat, dass das HAE und das RAE durch Bradykinin vermittelt werden. Dr. Magerl und Kollegen haben deshalb eine Klassifikation erarbeitet, die sich an den zugrunde liegenden Mediatoren orientiert (Abb. [2]). Denn sie beeinflussen die Therapie in entgegengesetzte Richtungen. Die Klassifizierung differenziert zwischen Mastzellmediator-vermittelten Angioödemen (Anaphylaxie, Urtikaria), die meist mit Quaddeln einhergehen. Auf der anderen Seite stehen die Bradykinin-vermittelten Angioödeme ("ohne Quaddeln"), d. h. das hereditäre Angioödem, das erworbene RAAS-Inhibitor-induzierte Angioödem und der erworbene C1-INH-Mangel.


Abb. 2 Klassifikation der Angioödeme anhand zugrunde liegender Mediatoren.
Aufklärungsbedarf bei Angioödemen im Kopf-Hals-Bereich
Das Allergie-Centrum-Charité steht in Kontakt mit der Hals-, Nasen- und Ohrenklinik am Charité Campus Virchow Klinikum. Die Zusammenarbeit soll künftig weiter ausgebaut werden. Nach Schätzung von Dr. Ulrike Förster, Allergiesprechstunde an der HNO-Klinik, müssen an der chirurgischen Rettungsstelle pro Jahr etwa 7 Patienten mit schwerem RAE wegen eines Angioödems im Kopf-Hals-Bereich intubiert werden. Die Zahl der mittelgradigen Fälle schätzt sie auf 15 und jene der leichten auf etwa 15-20. Nicht alle Angioödeme werden hno-ärztlich vorgestellt. Von daher ist eine interdisziplinäre Aufklärung über Erkrankung und das therapeutische Prozedere wichtig.
Therapeutisch geht Dr. Förster wie folgt vor: Patienten erhalten prinzipiell Kortison i.v., da die Schwellung auch eine allergische Ursache haben kann. Anschließend gibt sie das Antihistaminikum Dimetinden i.v. und misst die Sauerstoffsättigung. Verschlechtert sich der Zustand des Patienten, ist die Adrenalininhalation möglich. Im Rahmen der Diagnostik geht sie Hinweisen auf eine entzündliche Ursache oder eine durch Medikamente bedingte allergische Reaktion vom Sofort-Typ sowie auf ein HAE nach. Nimmt ein Patient einen ACE-Hemmer oder AT-II-Antagonisten, wird dieser bei Verdacht auf ein RAE abgesetzt.
Von der HNO-Klinik wurde der Standard entwickelt, dass alle Patienten mit Angioödemen zur weiteren Abklärung an die Angioödem-Sprechstunde am Allergie-Centrum-Charité verwiesen werden. Dies werde bei der Konsiliartätigkeit auch den ärztlichen Kollegen anderer Kliniken vermittelt, hier bestehe jedoch großer Aufklärungsbedarf.
Dr. Matthias Herrmann, Berlin
#Literatur
Literatur


Abb. 1 Angioödem im Kopf-Hals-Bereich.


Abb. 2 Klassifikation der Angioödeme anhand zugrunde liegender Mediatoren.