physiopraxis 2010; 8(7/08): 22-23
DOI: 10.1055/s-0030-1263265
physiowissenschaft

Wissenschaft kommentiert – Therapievergleiche nicht immer sinnvoll

Elly Hengeveld
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Publikationsdatum:
28. Juli 2010 (online)

Inhaltsübersicht

Patienten mit Nackenschmerzen nützt Verhaltenstherapie ebenso wie Manuelle Therapie. Das belegt eine Studie. Doch kann man diese Interventionen einfach voneinander trennen? Nein, meint Physiotherapeutin Elly Hengeveld. Und beschreibt in ihrem Kommentar, worin die Überschneidungen liegen.

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Elly Hengeveld, MSc, ist Physiotherapeutin, Lehrerin im Maitland-Konzept und Co-Leiterin des interdisziplinären Kursprogramms „Zurzacher Schmerztherapeut”. Die Multidimensionalität des Schmerzes und der Umgang der Physiotherapeuten damit waren die zentralen Themen in ihrer Masterarbeit.

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Fragestellung

Jan Pool und Kollegen untersuchten, ob Patienten mit subakuten Nackenschmerzen mehr von einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programm mit allmählicher Aktivitätssteigerung profitieren oder von Manueller Therapie und Übungen.

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Hintergrund

Unspezifische Nackenschmerzen gibt es häufig, bei 5–10 % der Patienten sind sie chronisch. In der konservativen Therapie kommen unter anderem physiotherapeutische Übungen, Gelenkmanipulationen und -mobilisationen, Massagen, physikalische Applikationen und multidisziplinäre, biopsychosozial ausgerichtete Rehabilitationsprogramme zum Einsatz. In einem Cochrane-Review fanden Gross und Kollegen heraus, dass den Betroffenen die Kombination aus passiven Mobilisationen und aktiven Übungen hilft [1]. Andere Studien ergaben, dass Manuelle Therapie effektiver und kostengünstiger ist als allgemeine Physiotherapie und die Betreuung durch den Hausarzt [2]. Psychosoziale Faktoren können bei der Schmerzchronifizierung eine wichtige Rolle spielen. Deswegen wurden Behandlungsprogramme entwickelt, die auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansätzen basieren und Patienten graduell zur normalen Funktion und Aktivität zurückführen sollten (Behavioural-Graded-Activity-Programme, BGA). Diese Programme wurden bereits bei lumbalen Problemen untersucht, aber nur wenig bei unspezifischen Nackenschmerzen.

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Einschlusskriterien

Patienten, die seit mindestens vier und höchstens zwölf Wochen unter unspezifischen Nackenschmerzen mit oder ohne Kopf-, Schulter- und Armschmerzen sowie Schwindel litten. Patienten mit Beschwerden aufgrund eines Verkehrsunfalls nahmen die Autoren nur auf, wenn sie nicht in ein Versicherungsverfahren verwickelt waren.

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Ausschlusskriterien

Nicht teilnehmen konnten Patienten mit spezifischen Nackenbeschwerden, zum Beispiel Tumoren, Diskushernien und neurologischen Krankheiten.

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Studiendesign

Randomisierte klinische Studie mit pragmatischem Design [3]: Pool et al. beurteilten die Behandlungseffekte, aber nicht die einzelnen Komponenten der Therapie.

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Intervention

146 Patienten zwischen 18 und 70 Jahren wurden auf zwei Gruppen randomisiert. Gruppe 1 erhielt ein BGA-Programm mit folgenden Zielen:

  • Verminderung des Vermeidungsverhaltens und Stimulieren von gesundheitsförderndem Verhalten

  • Funktionsverbesserung; die Verbesserung der Schmerzen war primär nicht wichtig

  • Patient übernimmt eine selbstverantwortliche, aktive Rolle in der Therapie

Die Therapeuten traten als Coach auf und sollten in der Behandlung nur „Hands-off” arbeiten, also keine passiven Behandlungstechniken einsetzen. Die Patienten erhielten maximal 18 Behandlungen à 30 Minuten. Die Behandlungsziele bei Gruppe 2 waren:

  • Beweglichkeitsverbesserung

  • Schmerzreduktion

  • Verbesserung der Alltagsaktivitäten und des Partizipationsniveaus

  • Vorbeugen von Rezidiven

Die Patienten erhielten Gelenkmobilisationen und/oder -manipulationen sowie Übungen und Beratung. Sie bekamen maximal 6 Behandlungen à 30–45 Minuten. Die Details der Therapie sind in einer Vorpublikation beschrieben [3].

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Ergebnisparameter

Ergebnisparameter waren Schmerzintensität, Neck-Disability-Index (NDI) und SF-36-Fragebogen. Außerdem füllten die Teilnehmer mehrere psychometrische Fragebögen aus sowie die Global-Perceived-Effect-Skala (GPE), in der sie den subjektiven Behandlungseffekt beurteilen konnten.

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Ergebnisse

Die Gruppen unterschieden sich nach den Interventionen nicht signifikant. Gruppe 1 hatte leicht bessere Resultate im GPE und NDI und erreichte ihre Verbesserungen etwas früher.

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Schlussfolgerung

Beide Gruppen verbesserten sich, unterschieden sich jedoch nicht relevant voneinander – vor allem hinsichtlich der Entwicklung ihrer Bewegungsangst, ihres Coping-Verhaltens und der anderen psychischen Faktoren. Die Autoren sehen mehrere Gründe dafür, unter anderem:

  • Alle Patienten hatten bereits bei der ersten Messung relativ unauffällige Werte in den psychometrischen Fragebögen.

  • In der BGA-Gruppe hatten manche Therapeuten doch „Hands-on” gearbeitet.

  • Es war für die Therapeuten der BGA-Gruppe schwer, das strikte Studienprotokoll in der täglichen Praxis konsequent einzuhalten.

Als Limitierung sehen die Autoren, dass Gruppe 2 weniger Therapieeinheiten erhalten hatte als Gruppe 1. Außerdem nahmen insgesamt weniger Probanden teil als geplant.

  • Pool JJM, Ostelo RWJG, Knol DL et al. Is a Behavioural Graded Activity Program More Effective Than Manual Therapy in Patients With Subacute Neck Pain? Spine 2010; 35: 1017–1024

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Kommentar

Zunächst scheint es keinen Unterschied zu machen, welche der Interventionen man bei Patienten mit subakuten Nackenschmerzen einsetzt. Bei genauer Betrachtung tauchen jedoch einige Fragen auf, die für die tägliche Arbeit von Therapeuten bedeutsam sind. Dazu gehört vor allem das pragmatische Studiendesign, bei dem sich die Forscher nur mit den Resultaten der Interventionen und nicht mit deren Details beschäftigen.

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Keine strikte Trennung der zwei Methoden möglich

Die Studie trennt zwei Methoden, die möglicherweise sehr viele Übereinstimmung haben: Zu Beginn des BGA-Programms in Gruppe 1 war das Ziel, das Denkmodell der Betroffenen positiv zu verändern. Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die Manualtherapeuten in Gruppe 2 während der Behandlung das Gleiche versuchten – ohne sich dessen jedoch explizit bewusst zu sein. In der Hauptphase des BGA-Programms lag der Schwerpunkt auf einer Aktivitätsverbesserung, nicht auf einer Schmerzreduktion. Doch auch diese Elemente nutzen Physio- und Manualtherapeuten regelmäßig: Sie verwenden alltagsbezogene Übungen, damit die Patienten ihre Alltagsaktivitäten wieder aufnehmen können. Behandlungskonzepte wie das von Robin McKenzie [4] oder das der muskulären Stabilisation während Alltagsaktivitäten von Richardson und Kollegen [5] tragen kognitiv-verhaltenstherapeutische Prinzipien in sich – auch wenn sie nicht explizit ausgewiesen werden. Zudem schienen die Autoren davon auszugehen, dass die Manualtherapeuten in Gruppe 2 mehr mechanistisch auftreten und keiner biopsychosozialen Vorgehensweise folgen. Es gibt jedoch Hinweise, dass Physio- und Manualtherapeuten mit zunehmender Berufserfahrung eine biopsychosoziale Perspektive in ihrer Arbeit entwickeln und mehr und mehr die Rolle eines Coachs einnehmen [6, 7]. Denn Kommunikation, Information und Motivation spielen in einer erfolgreichen Physiotherapie eine große Rolle [8, 9]. Zudem sind die psychosozialen Aspekte von Berührung nicht einfach auszuschließen. Vorsichtiges Bewegen kann das Vertrauen in „bewegt werden” steigern und ein Sprungbrett zu aktiven Bewegungen sein. Passives Bewegen kann also als ein erster Schritt zum graduellen Aufbau von Aktivität betrachtet werden [10].

Aus all diesen Gründen wäre es interessant gewesen, die Inhalte beider Interventionen im Detail zu beobachten und nicht nur deren Ergebnisse.

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Andere Resultate bei anderen Patientengruppen?

Auffällig ist, dass die BGA-Gruppe dreimal so viele Sitzungen durchführen konnte wie die Gruppe, die Manualtherapie erhielt. Die naheliegende Frage nach der Kosteneffektivität stellten die Autoren dieser Studie nicht.

Es ist außerdem vorstellbar, dass die Studie zu anderen Ergebnissen gekommen wäre, wenn die Beschwerden der Patienten schon länger bestanden hätten und deren Schmerzerleben bereits durch eine erfolglose Behandlung geprägt worden wäre. Die psychosozialen Variablen, die die Autoren primär untersuchen wollten, waren bei den Probanden jedoch nur wenig auffällig und hatten sich während der Studie kaum verändert. Der Grund könnte sein, dass in einer subakuten Phase nozizeptive Schmerzmechanismen eine größere Rolle spielen, psychometrische Variablen (zentrale Schmerzmechanismen in Kombination mit psychosozialen Komponenten) dagegen weniger ins Gewicht fallen – vor allem, wenn die Patienten zum ersten Mal wegen ihres Problems zur Therapie kommen.

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Studiendesign anpassen

Ich würde vorschlagen, eine vergleichbare Studie mit derselben Patientengruppe durchzuführen, aber das pragmatische Design auszulassen. Denn die physiologischen und psychologischen Effekte einer Methode können wesentlich davon beeinflusst werden, welche Dinge der Therapeut während einer Therapie wann und wie sagt. Eine solche Studie könnten die Forscher zusätzlich mit qualitativen Methoden ergänzen. Die zentrale Fragestellung dabei wäre, inwiefern sich die Vorgehensweise der Therapeuten in beiden Gruppen unterscheidet und wie die Patienten diese Sitzungen erleben.

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