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DOI: 10.1055/s-0030-1265236
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Proximale Humerusfrakturen – Schultertotalendoprothese nicht mehr die Nummer 1?
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
17. August 2010 (online)
Die primäre Implantation reverser Schultertotalendoprothesen zur Versorgung komplexer proximaler Humerusfrakturen bei älteren Menschen mit manifester Osteoporose ist ein seit Jahren anerkanntes Verfahren. Das gute funktionelle Outcome im Vergleich zur Therapie mit winkelstabilen Platten, Marknägeln oder Hemiprothesen kennzeichnet dieses Vorgehen. Umso interessanter erscheinen die Langzeitergebnisse der vorliegenden Arbeit. The reverse shoulder prosthesis in the treatment of fractures of the proximal humerus in the elderly. J Bone Joint Surg Br. 2010 Apr; 92(4): 535–539
#Material und Methoden
Im Zeitraum von 1993 – 2009 wurde bei 47 Patienten mit komplexer proximaler Humerusfraktur eine Deltaprothese implantiert. Eingeschlossen wurden 3- und 4-Part-Frakturen und dislozierte Frakturen nach der Neer-Klassifikation bei Patienten mit manifester Osteoporose. Neun Patienten waren zum Untersuchungszeitpunkt bereits verstorben und 2 entfielen aufgrund eines Wohnortwechsels. Die mittlere Nachuntersuchungszeit der verbliebenen 36 Patienten betrug 6,6 Jahre, das mittlere Alter lag bei 75 Jahren. Unter den 36 Patienten befanden sich lediglich 2 Männer. Rotatorenmanschettendefekte waren bei 6 Patienten bekannt. Neben Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen diente ein CT zur Operationsplanung. Verwendet wurde ein anterolateraler Zugang, bei der ansonsten üblichen Operationstechnik. Die Humeruskomponente wurde in 10-20° Retroversion einzementiert.
Die klinischen Ergebnisse wurden unter Verwendung des Constant-Murley-Scores und im Vergleich zur Gegenseite erhoben und ausgewertet. Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen wurden während des ersten Jahres monatlich bzw. vierteljährlich, im Verlauf jährlich angefertigt. Zusätzlich erhob man jährlich die Patientenzufriedenheit.
#Ergebnisse
Neben 2 Patienten mit CRPS und einer Wundinfektion beobachtete man 4 Luxationen. Nach Auffassung der Autoren kann dieser Hauptkomplikation durch eine Verbesserung der chirurgischen Technik vorgebeugt werden.
Der Constant-Murley-Score betrug nach einem Jahr 55 Punkte und bei der letzten Untersuchung 53 Punkte. Dies entsprach 67% der gesunden Seite. Radiologisch beobachtete man eine aseptische Lockerung der Glenosphere nach 12 Jahren und eine septische Lockerung bei asymptomatischem chronischen Infekt.
Ferner fand man bei 10 Probanden ein mechanisches Impingement zwischen der Humeruskomponente und dem unteren Glenoidrand sowie 9 Patienten mit biologischem Impingement durch Polyethylenabnutzung. Bei der ersten Gruppe zeigten sich im Rahmen der Nachuntersuchungen stabile Verhältnisse ohne humeralen Knochenverlust, bei den Patienten mit biologischem Impingement kam es zu einer Befundprogredienz und zu humeralem Knochenverlust. Im Rahmen der letzten Nachuntersuchung fand man bei 14 Patienten humerale Osteophyten ohne funktionelle Bedeutung.
Dr. med. Sebastian Weihrauch
Abt. für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
Chirurgische Klinik und Poliklinik der Universität Rostock
eMail: sebastian.weihrauch@med.uni-rostock.de
#Kommentar
Die Verwendung von Humeruskopfprothesen zur Behandlung komplexer Humeruskopffrakturen des alten Menschen ergibt, bedingt durch Migration, Nonunion und Resorption der Tuberkula, unter Umständen ungünstige Ergebnisse. Die rasche Beschwerdelinderung dieser Patienten geht einher mit einer persistierenden schlechten Schulterfunktion. Die Therapie mit modernen winkelstabilen Platten und Marknägeln verspricht ein hohes Maß an Stabilität und rasche Rehabilitationsmöglichkeiten. Die negative Darstellung zum Outcome mit diesen Implantaten im vorliegenden Artikel kann aus unserer Sicht nicht bestätigt werden. Im eigenen Patientengut und der Literatur sind durchaus gute Behandlungsergebnisse vorweisbar.
Bei der Behandlung mit einer Deltaprothese ist in der Regel ein gutes funktionelles Ergebnis zu erzielen, wobei die präoperartive Funktion meist nicht mehr vollständig zu erreichen ist. Abhilfe können hier additive Verfahren wie beispielsweise ein zusätzlicher M.-latissimus-dorsi-Transfer schaffen. Ein modernes Prothesendesign und spezielle Operationstechniken können zudem das Bewegungsausmaß verbessern. Ferner sind die Autoren der Meinung, dass das "scapular notching" zu einer Glenoidlockerung führen kann, ohne dass die Ursachen dafür endgültig nachgewiesen wären. Bei 52% der Patienten fanden sich in der vorliegenden Arbeit dafür radiologische Zeichen, sodass die mit 63% angegebene hohe Rate der radiologisch nachweisbaren Lockerungszeichen des Glenoids den Leser nicht verwundert. Die Autoren vertreten die Auffassung, dass die vollständige Resektion der Tuberkula und die Vermeidung die Humeruskomponente in Anteversion einzusetzen, wichtig zur Vermeidung späterer Luxationen sind.
Zur abschließenden Beurteilung des Stellenwerts reverser Schultertotalendoprothesen in der Behandlung komplexer Humeruskopffrakturen sind sicher weitere Nachuntersuchungen an großen Patientenkollektiven erforderlich. Zudem erscheinen die Weiterentwicklung der Implantatsysteme und die Perfektionierung der Operationstechnik unabdingbar.
Die Autoren liefern mit der vorliegenden Arbeit Langzeitergebnisse zur Frakturversorgung mit Deltaprothesen, die deutlich auch die Schattenseiten dieses Vorgehens erkennen lassen. So ist das funktionelle Outcome der Patienten unserer Auffassung nach dem modernen Osteosyntheseverfahren ebenbürtig und keinesfalls mehr deutlich überlegen. Zudem werden Langzeitkomplikationen (63% glenoidale Lockerungen) erkennbar, die einmal mehr die Notwendigkeit einer strengen Indikationsstellung und Patientenauswahl unterstreichen, insbesondere vor dem Hintergrund deutlich begrenzter therapeutischer Rückzugsmöglichkeiten bei Patienten mit ausgelockerten Deltaprothesen und ggf. deutlichem Knochenverlust.
Als Kritikpunkte der vorliegenden Arbeit sind die einseitige Geschlechtsverteilung und die "geringe" Fallzahl zu nennen
Dr. med. Sebastian Weihrauch.