Psychiatrie und Psychotherapie up2date 2010; 4(6): 354-356
DOI: 10.1055/s-0030-1268362
Pro/Con-Debatte

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Pro und Contra: Brauchen Psychiater das Neurologiejahr und Neurologen das Psychiatriejahr?

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Publication Date:
09 November 2010 (online)

Pro

Weiterbildung in beiden Fächern ist sinnvoll

Seit es die Fächer Psychiatrie und Neurologie als unabhängige Disziplinen gibt, besteht eine enge wissenschaftliche und klinische Verbindung, die sich auch in der Weiterbildungsordnung wiederfindet. Die gemeinsame Grundlage psychiatrischer und neurologischer Krankheitslehre stellt das Gehirn als Steuerungsorgan emotionaler, kognitiver, motorischer und metabolischer Prozesse und bei Störung dieser Funktionen der entsprechenden Erkrankungen dar. Im Neurologiejahr lernt der Psychiater die klinischen Grundlagen der Neurologie, während der Neurologe im Psychiatriejahr mit den Grundzügen der Psychopathologie psychischer Erkrankungen und psychiatrischen Behandlungsmethoden vertraut wird. In der ambulanten Versorgung waren die meisten Kollegen als "Nervenärzte" niedergelassen, die gleichermaßen Kompetenzen in Psychiatrie und Neurologie erworben haben.

Beide Fächer haben sich gerade in den letzten Jahren enorm gewandelt und sind in Krankheitslehre und Therapiemöglichkeiten sehr viel differenzierter geworden, sodass ein Einzelner beide Fächer heute nicht mehr überblicken und beherrschen kann. Aus diesem Grund wird der "Nervenarzt" in Zukunft eine immer geringere Rolle spielen und spezialisierte Psychiater und Neurologen werden seinen Platz einnehmen mit der entsprechenden Aufteilung des nervenärztlichen Fachgebietes in spezifisch psychiatrische und neurologische Versorgungsbereiche. Dies gilt in ganz besonderem Maße für den klinischen Bereich, der neben der Differenzierung in Psychiatrie und Neurologie auch innerhalb der jeweiligen Fächer eine Subspezialisierung erfordert.

Aus diesem Grund erscheint die Diskus sion, ob in der Weiterbildung das Neurologie- bzw. Psychiatriejahr beibehalten wird, durchaus angebracht. Bei einer Entflechtung beider Fächer muss man jedoch die Konsequenzen für die jeweilige Disziplin bedenken und in die Diskussion einbringen. Was könnte für die Beibehaltung der jetzigen Weiterbildungsregelung sprechen?

1. Bei Abschaffung des Neurologie- bzw. Psychiatriejahres würden Kenntnisse und Erfahrungen im Gegenfach verschwinden. Die Psychiatrie hat sich in den letzten Jahren zu einer hoch differenzierten diagnostischen und therapeutischen Disziplin entwickelt. Die Entwicklung im Bereich der Psychopharmakotherapie und insbesondere der störungsorientierten Psychotherapie hat das Fach vollständig verändert. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein Neurologe, der nicht ein Jahr in der Psychiatrie verbracht hat, den Anschluss an diese Entwicklung auch nur annähernd behält. Dabei erfordert die hohe psychopathologische Komorbidität neurologischer Erkrankungen ein "State-of-the-Art-Wissen" des Neurologen, um seine Patienten in dieser Komplexität adäquat zu behandeln. Hier reicht es nicht mehr, die Pharmakotherapie und die psychotherapeutischen Kenntnisse vergangener Jahre zu erinnern, zumal das derzeitige psychopathologische Wissen und die Kenntnisse und Erfahrungen in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung nur noch von neurologischen Kollegen aufrechterhalten werden, die ihre Weiterbildungszeit in der Psychiatrie absolviert haben. Ich bezweifle sehr, dass junge Neurologen die notwendigen psychiatrischen Kenntnisse in ihrer neurologischen Heimatklinik erwerben. Welche Neurologen sollten diese denn auch vermitteln, wenn kein psychiatrisches Grundwissen mehr vorhanden ist? Dies würde bedeuten, dass psychiatrisches Grundwissen in der Neurologie neu aufgebaut und weitervermittelt werden müsste – was man einfacher durch das Austauschjahr regeln kann. Umgekehrt müsste die Psychiatrie neurologische Grundkenntnisse und Fertigkeiten im eigenen Fach vermitteln, um den neuropsychiatrischen Anteil des Faches in der Weiterbildung adäquat abzubilden. Ob die beiden Fächer dies in der erforderlichen Kompetenz leisten können, muss zumindest diskutiert werden.

2. In vielen Bereichen der Neurologie wie der Psychiatrie sind nach wie vor gründliche Kenntnisse und Fertigkeiten im jeweiligen Nachbarfach Voraussetzung für eine adäquate Patientenversorgung. Dies betrifft v.a. die niedergelassenen Kollegen, aber auch den rehabilitativen Bereich und viele Versorgungskliniken. Die Fokussierung auf Akutneurologie, insbesondere Schlaganfallversorgung in den Stroke Units, ist ein Spezifikum der neurologischen Universitätskliniken und Akutkrankenhäuser. Große Versorgungsbereiche der Neurologie sind weiterhin auf psychiatrische Grundkenntnisse angewiesen, weswegen die Meinung, das Psychiatriejahr abzuschaffen, innerhalb der Neurologen je nach Tätigkeitsfeld durchaus kontrovers diskutiert wird.

3. Im wissenschaftlichen Bereich haben sich die Untersuchungsmethoden in Psychiatrie und Neurologie weitgehend angenähert. Dies gilt v.a. im Bereich der Bildgebung, aber auch der elektrophysiologischen und der genetischen sowie der molekularbiologischen neurowissenschaftlichen Forschung. Auch wenn eine enge Forschungskooperation ohne das gemeinsame Pflichtjahr möglich ist, stellt es doch weiterhin ein Bindeglied zwischen beiden Fächern dar, das die Kommunikation zwischen den Nachbardisziplinen – nicht zuletzt auch auf einer persönlichen Ebene – vertieft. Darüber hinaus schätzen in den letzten Jahren die neurologischen Kollegen angesichts des Nachwuchsmangels in ihrem Fach durchaus den Austausch mit Weiterbildungsassistenten aus der Psychiatrie, die als das größere Fach in der Regel über mehr Weiterbildungskandidaten verfügt.

4. Weiterbildung ist Sache der jeweiligen Staaten. Auch wenn in vielen Ländern die Austauschzeit in Neurologie bzw. Psychiatrie kürzer ist, steht es jedem Land frei, entsprechend den eigenen Vorstellungen die Weiterbildung zu gestalten. Als langjähriger deutscher Delegierter in der europäischen Facharztgesellschaft (Union Européenne des Médecins Spécialistes; UEMS) kann ich sagen, dass die Qualität der hiesigen Weiterbildung zum Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Neurologie in Europa hohes Ansehen genießt und man die Kompetenz deutscher Psychiater und Neurologen äußerst schätzt – was nicht zuletzt die kontinuierlichen Abwerbversuche skandinavischer Länder, Englands und der Schweiz demonstrieren. Wie ich aus vielen Diskussionen mit meinen europäischen Kollegen weiß, sind es nicht zuletzt die umfassenden Kenntnisse in der jeweiligen Nachbardisziplin, die deutsche Psychiater und Neurologen im Ausland so attraktiv machen.

Auch wenn die große Mehrheit der DGPPN-Mitglieder in einer kürzlich durchgeführten Umfrage die Beibehaltung des Neurologie- bzw. Psychiatriejahres wünscht und trotz der oben aufgeführten Argumente für die Beibehaltung des Pflichtjahres im jeweiligen Nachbarfach, ist der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) offen für eine Diskussion über eine Veränderung der Weiterbildungsordnung in diesem Bereich. So könnte eine Flexibilisierung des Austauschjahres den individuellen Weiterbildungsbedürfnissen des jeweiligen Assistenten entgegenkommen und die Weiterbildungserfordernisse von Psychiatrie und Psychotherapie und Neurologie genauer abbilden. Denkbar ist deshalb durchaus ein gestuftes Vorgehen, das vom konventionellen Austauschjahr bis hin zu 6 Monate in der Nachbardisziplin reichen kann. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass keine Engpasskonstellationen entstehen, weil nicht auszuschließen ist, dass es für die Weiterbildungsklinik wenig attraktiv ist, 6 Monate in die Weiterbildung eines Neurologen bzw. Psychiaters zu investieren, der dann der Klinik keinen weiteren Nutzen bringt. Der Aufwand für die Weiterbildung und der Nutzen für die Klinik stehen dann möglicherweise nicht mehr in einem ausgewogenen Verhältnis, sodass theoretisch die Möglichkeit besteht, dass die Austauschzeit zum "Nadelöhr" in der Weiterbildung wird. Hier wird es Aufgabe der Vorstände sein, praktikable Lösungswege zu entwickeln.

Unabhängig von dieser Weiterbildungsdiskussion werden beide wissenschaftlichen Fachgesellschaften auch weiterhin eine enge Kooperation in Fragen der Forschung, der Patientenversorgung und der Weiterbildung gewährleisten, um die Interessen der Neurowissenschaften adäquat zu bündeln.

Prof. Fritz Hohagen, Lübeck