ergopraxis 2010; 3(11/12): 26-27
DOI: 10.1055/s-0030-1268537
ergotherapie

Assessment: McMaster Handwriting Protocol – Handschrift im Fokus

Daniela Rolf
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Publication Date:
11 November 2010 (online)

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Wenn Schulkinder Probleme mit ihrer Handschrift haben, muss das Schreiben im Mittelpunkt der ergotherapeutischen Befunderhebung stehen. Ein neues betätigungsorientiertes Assessment erfasst dies innerhalb nur einer Therapieeinheit.

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Daniela Rolf MSc hat im Rahmen ihrer Masterthesis das vorgestellte Protokoll ins Deutsche übersetzt. Sie organisiert Fortbildungen zur Diagnostik und Therapie von Handschriftproblemen bei Kindern und tritt für ein betätigungsorientiertes evidenzbasiertes Vorgehen in der Ergotherapie ein. Kontakt: ergotherapie-rolf@web.de

Handschriftprobleme sind ein häufiger Überweisungsgrund in die pädiatrische Ergotherapiepraxis [1, 2, 3]. Sie beinträchtigen das Kind beim Ausführen von Betätigungen, die es in seiner Rolle als Schulkind ausübt. Das McMaster Handwriting Protocol rückt das Schreiben in den Fokus der Befunderhebung, nicht die Untersuchung von Performanzkomponenten wie Sensorik, Motorik, Wahrnehmung oder Kognition. Gezielt die Handschrift zu bewerten, ist für die deutsche Ergotherapie nicht neu. Jedoch mangelte es Therapeuten in der Pädiatrie bisher an Assessments, die speziell darauf ausgerichtet sind. Das hat allerdings bald ein Ende: Das McMaster Handwriting Protocol wird diese Lücke schließen.

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Schreibfertigkeit von Grundschülern analysieren

Die kanadischen Ergotherapie-Professorinnen Nancy Pollock und Julia Lockhart von der McMaster University, Toronto, entwickeln das McMaster Handwriting Protocol seit dem Jahr 2006. Es basiert auf jahrelanger ergotherapeutischer Expertise, Forschungsergebnissen und den Lehrplanvorgaben der kanadischen Grundschüler.

Das Protokoll analysiert die Schreibfertigkeit von Kindern ab der ersten bis zur vierten Grundschulklasse. In Kanada kommt es üblicherweise bereits in der Vorschule und im Schulkontext zum Einsatz. Anders in Deutschland: Da dort Ergotherapeuten selten in Schulen angestellt sind, lassen die Anwender die Aussagen über den Schulkontext in Form von Gesprächen, Fragebögen oder bestenfalls durch einen Schulbesuch in ihre Interpretation einfließen.

International gibt es verschiedenste Befunderhebungsinstrumente für Handschriftprobleme [4–7]. Auch wenn diese bereits die Betätigung „Schreiben” in den Mittelpunkt stellen, unterstützt keines die Anwender dabei, ihre Beobachtungen zu interpretieren, oder gibt ihnen eine Richtung für die weiteren Schritte vor. Das McMaster Handwriting Protocol hingegen versteht sich als Rahmenwerk, welches hilft, klinische Entscheidungen zu treffen.

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Ein Assessment zur modernen Befunderhebung

Handschrift ist eine komplexe Fertigkeit, an der viele Leistungskomponenten beteiligt sind. Das McMaster Handwriting Protocol beabsichtigt nicht, alle Leistungskomponenten komplett zu beurteilen, die für ein effektives und erfolgreiches Schreiben mit der Hand nötig sind. Die Beobachtungen der Therapeutin können jedoch den Bedarf an weiterführenden Tests aufzeigen, zum Beispiel einem Test zur Dyslexie. Das Protokoll dient also als Einstieg in den Befunderhebungsprozess bei Kindern mit Handschriftproblemen. Das zugehörige Manual beschreibt ausführlich, wie man mit dem Bewertungsprotokoll und dem zugehörigen Bewertungsformular arbeitet. Es bezieht aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein. Zudem bietet es eine Fülle an Fallbeispielen, welche die Anwenderin für ihre klinische Entscheidungsfindung – also der Analyse und Planung ihrer weiteren Schritte – nutzen kann [8]. Dadurch eignet es sich auch für Berufsanfänger oder Kollegen, die neu in die Pädiatrie wechseln. Vor allem aber eignet es sich für alle Ergotherapeuten, die ihre Vorgehensweise betätigungsorientiert gestalten möchten, allerdings noch nicht so recht wissen, wie. Gerade die Fallbeispiele ermöglichen es, zeitgemäße Ergo therapie zu realisieren. Denn: In deren Fokus steht, zugrunde liegende Performanzkomponenten erst dann zu betrachten, wenn dies notwendig ist [9]. Manchen deutschen Praktiker mag es an einigen Stellen verwirren, dass die Kanadier ein krakeliges, unregelmäßiges Schriftbild nicht standardmäßig mit der Abnahme visueller Wahrnehmungstests verbinden. Dies liegt vermutlich am in Kanada üblichen Top-down-Vorgehen, das funktionsorientierte Tests nicht standardmäßig vorsieht.

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Zehn Beobachtungspunkte

Da das Assessment nicht standardisiert ist, kann es jede Therapeutin auch durch „learning by doing” einsetzen. Es empfiehlt sich jedoch, sich vorab gut theoretisch einzuarbeiten. Ergotherapeuten können das Protokoll innerhalb einer Therapieeinheit von 45 Minuten abnehmen. Es ist in vier übersichtliche Abschnitte gegliedert (Einführung, Entwicklung, Benutzung, klinische Entscheidungsfindung). Man findet Hintergrundinformationen darüber, wie das Protokoll entstand und wie man es anwendet. Außerdem sind alterspezifische Bewertungsaufgaben vorgesehen wie Abschreiben aus der Nähe, aus der Ferne und aus dem Gedächtnis. Insgesamt konzentriert sich die Therapeutin auf zehn Beobachtungspunkte:

  • Vorabinformationen sammeln,

  • Arbeitsplatz im Klassenzimmer beurteilen, Haltung überprüfen,

  • kindliches Verhalten beobachten,

  • Arbeitshefte überprüfen,

  • Stifthaltung beurteilen,

  • Stiftdruck bewerten,

  • Positionierung des Papiers beurteilen,

  • Schreibgeschwindigkeit analysieren,

  • Erscheinungsbild der Schrift bewerten,

  • Inhalt analysieren.

Für die Abnahme benötigt man Materialien, die in jeder Ergotherapieabteilung bereitstehen (zum Beispiel Maßband, Klebeband, Stoppuhr). Das Kind benutzt seine eigenen Schreibutensilien. Die Therapeutin inventarisiert neben ihren Beobachtungen zu den spezifischen Bewertungsaufgaben auch die Belange, Sorgen und Einschätzungen der Eltern und/oder Lehrer und beschreibt das kindliche Verhalten.

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Zahlreiche praktische Hilfestellungen für die Anwenderin

Das Manual untermauert jeden Beobachtungspunkt mit wissenschaftlicher Evidenz. Die Bewertungsformulare geben vor, worauf die Therapeutin achten sollte, zum Beispiel, ob die Tisch- und Stuhlhöhe, die Tischpositionierung und die Umgebung angemessen sind oder nicht. Dabei verlässt sie sich sowohl auf ihr fachliches Knowhow als auch auf das Manual, das für jeden Beobachtungspunkt eine Zusammenfassung relevanter Studien bereithält.

Die Bewertungsformulare bieten ausreichend Platz für Notizen zur Zusammenfassung und Synthese/Analyse des Beobachteten. Außerdem kann die Anwenderin dort Ziele, Empfehlungen und weitere Schritte dokumentieren.

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Prädikat: Praktikabel

Das McMaster Handwriting Protocol versteht sich als Rahmenwerk. Deshalb sucht man bis auf das Erfassen des Schreibtempos vergeblich nach quantitativen Normierungen. Die Entwicklerinnen wählten alle Items vor einem wissenschaftlichen Hintergrund und ihrer klinischen Erfahrung als Ergotherapeutinnen aus. 2007 flossen im Rahmen einer Studie zur Anwendbarkeit des Protokolls subjektive und objektive Bewertungen von vierzehn kanadischen Praktikern in die Weiterentwicklung ein [10]. Die Anwender bewerteten das Protokoll überwiegend positiv. Ob die Schreibbeispiele altersentsprechend sind, beurteilten sie unterschiedlich. Dies mag damit zusammenhängen, dass es auch in kanadischen Grundschulen unterschiedliche Curriculumsstandards gibt.

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Deutsche Version bald frei zugänglich

Um das McMaster Handwriting Protocol nicht unreflektiert auf den deutschen Kontext zu übertragen, wurde es im Rahmen einer Masterthesis übersetzt und die Bewertungsaufgaben zusammen mit der Grundschulpädagogin Silke Ounanian angepasst. Ein 12-köpfiges Expertenpanel überprüfte dessen inhaltliche Validität und bewertete es als sehr befriedigend. Einschätzungen über die praktische Anwendung sowie deutschsprachige Bewertungsbeispiele fehlen bislang.

Um einen betätigungsorientierten Therapieprozess einzuleiten, ist das Protokoll empfehlenswert. Die Anwenderin sollte anschließend jedoch nicht wie gewohnt Performanzkomponenten testen, die Ursachen des Problems suchen und diese in den Fokus ihrer Therapie rücken. Es bleibt der Anwenderin überlassen, zu welcher Therapiemethode sie greift. Denkbar wäre ein Schreibtraining mit dem CO-OP-Ansatz oder dem Programm “Handwriting without Tears” (derzeit nur auf Englisch erhältlich) [11, 12]. Denn eine ergotherapeutische Studie belegt: Direktes Schreibtraining ist einer sensomotorischen Therapie überlegen [13].

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