ergopraxis 2010; 3(11/12): 35
DOI: 10.1055/s-0030-1268540
profession & perspektiven

Jäger-Kolumne – Finger weg vom Alkohol

Silke Jäger
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Publication Date:
11 November 2010 (online)

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    Hausbesuche haben einen gewissen Erlebnisfaktor. Die Verkehrssituation, der fahrbare Untersatz, die häuslichen Gegebenheiten und nicht zuletzt die Klienten. All das erfordert Flexibilität und Erfindergeist. Da kommen ein paar Aufmerksamkeiten gerade recht. Eigentlich dürfen wir sie ja gar nicht annehmen …

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    (c) Herwig Holzmann

    Seit ich meinen Arbeitstag mit einem Hausbesuch beginne, ist die Welt in Ordnung. Ich schätze es sehr, dass ich mich jeden Morgen bei einem anderen Menschen fürs Zuspätkommen entschuldigen kann.

    Donnerstags fahre ich als Erstes zu Frau Schwarz, 82, armbetonte Hemiparese. Als sie mich zehn Minuten zu spät die Treppe hochhechten sieht, sagt sie: „Ach, Frau Jäger, wie Sie das immer machen, so gut gelaunt und fix auf den Beinen. Wenn ich Sie sehe, erinnere ich mich daran, als ich noch ein junges Ding war.” Das sagt sie jeden Donnerstag. Und dann: „Ich habe uns schon einen Kaffee gekocht.” Der Donnerstag ist mein Lieblingstag. „Ich freue mich, dass Sie die Zeit genutzt und schon mit dem ADL-Training begonnen haben. Sie sind halt motiviert”, sage ich. Wir lächeln uns an, ich trinke meinen Kaffee, und Frau Schwarz ist glücklich. Zum Abschied schenkt sie mir eine Flasche Likör: „Weil bald Weihnachten ist.” „Frau Schwarz, ich darf das doch nicht.” „Ist doch selbst gemacht – ADL, Sie wissen schon!” Sie zwinkert verschmitzt, bevor die Tür zugeht. Ich lege die Flasche in den Kofferraum und bin skeptisch, ob sie sich mit den Therapiematerialien und Hilfsmitteln verträgt. Erfolgreich schiebe ich den Gedanken beiseite.

    Mein nächster Weg führt mich zu Hausbesuch Nummer zwei. Um mein Zeitdefizit wieder auszugleichen, müsste ich entweder 140 fahren oder fliegen. Weil ich vor beidem Angst habe, sage ich zu Herrn Blum, dass das Auto wieder nicht anspringen wollte. Er schaut mich mitleidig an. „Kindchen, Sie müssen sich mal ein richtiges Auto kaufen, nicht so eine japanische Reisschüssel.” „Herr Blum, Sie wissen doch, der Herr Rösler will nicht, dass ich mir ein besseres Auto leisten kann.” „Das würde sich aber auszahlen! Allein die ausgefallene Therapiezeit durch Ihre Verspätungen…!” An dieser Stelle frage ich Herrn Blum schnell, wie er mit seinem Trainingsprogramm vorankommt. Zum Abschied schenkt er mir eine Flasche Branntwein: „Weil bald Weihnachten ist.” „Herr Blum, Sie wissen doch, ich darf das nicht.” „Keine Widerrede, Kindchen. Nur nicht im Dienst!” Er schüttelt mir energisch die Hand und macht die Tür zu. Ich lege die Flasche in den Kofferraum. Ein kleines Plätzchen finde ich noch und fahre zum nächsten Hausbesuch.

    Frau Wondlek liegt noch im Bett, als ich klingle. Es ist elf Uhr. Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, sagt sie, und sie sieht verheult aus. Ich weiß, dass ich das eigentlich therapeutisch aufgreifen sollte, meine Gedanken kreisen aber um meine kürzlich absolvierte Bobath-Fortbildung, deren Erkenntnisse ich später im Team vorstellen soll. Vorbereitet fühlt sich anders an. Also frage ich hoffnungsvoll: „Sollen wir die Therapie heute ausfallen lassen? Ich komme dafür nächste Woche zweimal.” Ein Strahlen huscht über Frau Wondleks Gesicht. Sie sagt, ich solle warten, und kommt mit einer Flasche Sekt wieder. „Weil bald Weihnachten ist?”, frage ich und sie sagt: „Ich weiß, Sie dürfen nichts annehmen, aber Sie brauchen es ja niemandem zu erzählen.” Dabei verschließt sie ihren Mund mit einem imaginären Schlüssel.

    Der Kofferraum ist voll. Ich muss in die Höhe stapeln. Egal, denn da ist auch schon wieder diese Bobath-Sache. Wie war das noch mal mit den Schlüsselpunkten? Ob ich ein paar Griffe als praktische Einlage demonstrieren soll? Auf dem Weg zurück zur Praxis höre ich in einer scharfen Rechtskurve ein bedrohliches Kullern, dann einen dumpfen Schlag und schließlich Zischen und Gluckern. Ich muss kurz an Silvester denken, fahre aber weiter und tue so, als hätte ich nichts gehört. Vor der Praxis öffne ich den Kofferraum, die Likörflasche rollt heraus und zerspringt in tausend Scherben. Sie war wohl heil geblieben, was man von den beiden anderen Flaschen leider nicht behaupten kann. Ein Blick auf die Misere und mir kommt ein guter Vorsatz für das neue Jahr: Nimm nichts von Fremden an – schon gar keinen Alkohol. Und wenn doch, dann packe ihn in eine Kiste.

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    (c) Herwig Holzmann