Psychiatrie und Psychotherapie up2date 2011; 5(4): 189
DOI: 10.1055/s-0031-1276845
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Brauchen wir psychiatrische Ratingskalen im klinischen Alltag?

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Publication Date:
30 June 2011 (online)

Seit vielen Jahren werden Leitlinien für die Therapie psychischer Störungen entwickelt, sodass wir inzwischen auf eine – auch im deutschsprachigen Bereich – stattliche Anzahl blicken können. Entsprechende explizite Leitlinien für die Diagnostik psychischer Störungen existieren nicht und Fragen der Diagnostik werden in den allgemeinen Leitlinien für psychische Störungen auch nur am Rande abgehandelt. Dies stimmt mit eigenen Beobachtungen überein, wonach eine qualifizierte Diagnostik im Vergleich zur Therapie (Pharmako- wie Psychotherapie) eher einen geringen Stellenwert hat. So wird oft davon ausgegangen, dass man Diagnostik auch so beherrsche, der klinische Blick ausreiche und man auf spezielle diagnostische Hilfsmittel nicht angewiesen sei. Eine Standardisierung und Formalisierung psychiatrischer Diagnostik ist daher kaum erkennbar (Ausnahme operationalisierte Diagnostik ICD-10 / DSM-IV-R) und wird meist auch nicht als unbedingt notwendig angesehen.

Die Diagnostik hat jedoch in der Psychiatrie eine lange Tradition. Mit der Entwicklung der Psychopharmaka seit ca. 1950 entstand die Notwendigkeit des Nachweises der Effektivität der neu entdeckten Substanzen. Es galt geeignete Instrumente zu entwickeln, um deren Wirksamkeit auch mittels empirischer Ergebnisse zu belegen. In diesem Zusammenhang wurde eine Vielzahl von Instrumenten in Form von Ratingskalen entwickelt. Auf internationaler Ebene zu nennen sind z. B. die Hamilton Depressionsskala (HAMD) für die Depression oder die Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) für die Schizophrenie. Auch im deutschsprachigen Bereich gibt es seit dieser Zeit vor allem mit der Entwicklung des AMDP-Systems eine ähnliche Entwicklung. In der Folgezeit wurde eine Vielzahl von weiteren Instrumenten zu fast allen Störungsgruppen publiziert, sodass man heutzutage über ein breites Repertoire verfügt. Hauptsächlich handelt es sich um sog. Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren. Bei den Selbstbeurteilungsverfahren liegt der gesamte Prozess der Bewertung aufseiten des Patienten, während bei den Fremdbeurteilungsverfahren die Bewertung durch einen erfahrenen Beurteiler erfolgt, der versucht, die Aussagen des Patienten, eigene Beobachtungen oder Beobachtungen Dritter zu bewerten. Beide Verfahrensgruppen dienen meist der Quantifizierung unterschiedlicher psychopathologischer Syndrome. Sie spielen im klinischen Alltag bis zum heutigen Tag eher eine begrenzte Rolle, sind jedoch meist das Kernstück von Studien. Die geringe Nutzung in der Praxis ist insofern verwunderlich, wenn man sich die Möglichkeiten solcher Ratingskalen klar macht. Zu nennen sind u. a. folgende Punkte:

Unterstützung der Diagnosestellung, Quantifizierung des Schweregrads im Querschnitt und im Verlauf oder Nutzung für die Therapieplanung.

Besonders hervorzuheben (und leider viel zu wenig genutzt) ist die Anwendung im Verlauf einer Behandlung. Hier können Ratingskalen der Therapieevaluation, d. h. der Verlaufskontrolle dienen. Mittels Ratingskalen (z. B. zum depressiven Syndrom) lässt sich feststellen, wie die Behandlung verläuft, ob sie stagniert oder ob unter der Behandlung sogar eine Verschlechterung eintritt. Dies dient auch der Selbstreflexion des eigenen therapeutischen Handelns. Bei Stagnation der Behandlung nach wiederholter Messung oder sogar Verschlechterung der Symptomatik unter einer bestimmten Behandlung könnte z. B. eine Veränderung der Therapiestrategie erfolgen. Der Nutzen von Skalen ist somit relativ einfach aus Sicht des Anwenders erkennbar.

Aufgrund dieser vielfältigen Möglichkeiten kann man die Frage „Brauchen wir psychiatrische Ratingskalen im klinischen Alltag?” eindeutig mit „Ja” beantworten. Eingebettet in eine allgemeine Standardisierung der Diagnostik sollte ihre verbindliche Anwendung (zumindest als Empfehlung) expliziter in Leitlinien aufgenommen werden. Die Nutzungsmöglichkeiten und praktische Anwendung sollten weiterhin in Veranstaltungen zur Aus-, Fort- und Weiterbildung stärker gezeigt und trainiert werden.

Rolf-Dieter Stieglitz