Psychiatr Prax 2012; 39(1): 4-6
DOI: 10.1055/s-0031-1276995
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Geschlossene psychiatrische Wohnheime

Closed Psychiatric HomesPro: Christian  Reumschüssel-Wienert Kontra: Wolf  Crefeld
Further Information

Christian Reumschüssel-WienertDipl. Soziologe, Dipl. Sozialwirt

Paritatischer Wohlfahrtsverband Berlin e. V., Referat Psychiatrie/Queere Lebensweisen

Kollwitzstraße 94–96

10435 Berlin

Email: reumschuessel@paritaet-berlin.de

Prof. Dr. Wolf Crefeld

Joachimstraße 4

40545 Düsseldorf

Email: wolf.crefeld@gmx.de

Publication History

Publication Date:
10 January 2012 (online)

Table of Contents #

Pro

Berlin verfügt über ein recht gut ausgebautes Netz an gemeindepsychiatrischen Einrichtungen in der Eingliederungshilfe (EinglH, SGB XII), welches meist ambulant organisiert ist. Im Jahr 2010 wurden ca. 6000 Menschen durch die Dienste des BEW, der Wohngemeinschaften, Beschäftigungstagesstätten und 6 stationäre Einrichtungen versorgt. Das Hilfesystem ist streng regionalisiert: Hilfeplankonferenzen und vor allem Steuerungsgremien sorgen für Hilfen in den Bezirken, in denen die KlientInnen wohnen. „Geschlossene“ Einrichtungen der EinglH gibt es in Berlin nicht, allerdings eine Reihe von Pflegeeinrichtungen, die über geschlossene Bereiche verfügen.

Eine vom Senat durchgeführte Untersuchung ergab, dass im ersten Halbjahr 2010 mindestens 8 Menschen in stationären Einrichtungen der EinglH außerhalb von Berlin geschlossen, d. h. nach § 1906 BGB, untergebracht worden sind, alle an den regionalen Steuerungsgremien vorbei. Nicht bekannt ist nach wie vor, wie viele Menschen in den letzten Jahren außerhalb untergebracht worden sind. Nicht bekannt ist auch, wie viele Menschen als pflegebedürftig i. S. SGB XI „umetikettiert“ wurden und geschlossen in entsprechende Einrichtungen in und außerhalb von Berlin untergebracht worden sind.

Um diesem Problem zu begegnen, ist in Berlin eine Initiative entstanden, deren Ziel es ist, innerhalb von Berlin regionalisierte Einrichtungen zu etablieren, die es ermöglichen sollen, für die von einem Unterbringungsbeschluss betroffenen Menschen eine Möglichkeit der Hilfe zu bieten, die zwar nicht die Unterbringung verhindert, aber ein regional vernetztes Angebot der vergleichsweise gut ausgestatteten EinglH zu ermöglichen – stationär. Hintergrund dieser Überlegungen ist, die regionale Pflichtversorgung auch dieser Personengruppe zu erschließen.

Frick u. Frick [1] benennen unterschiedliche Perspektiven, sich dem Problem zu nähern:

Eine biomedizinische Perspektive stellt die Eigenschaften und Verhaltensweisen (Symptome) der Menschen in den Vordergrund, die sich z. T. so extrem manifestiere, sodass sich eine relevante Selbstgefährdung als Grund für eine geschlossene Unterbringung rechtfertigen kann. Es handelt sich hierbei um Menschen mit schwersten multimorbiden und langanhaltenden Störungen mit rezidivierenden Verläufen, die eine lange und wechselvolle institutionelle Karriere nach sich gezogen hat. Hinsichtlich ihrer Aktivitäten und Teilhabefähigkeiten haben sie äußerst starke Einschränkungen, wie z. B. bei der Selbst- und / oder Fremdwahrnehmung, der Organisation ihrer Selbstsorge, bei der Strukturierung ihrer Zeit und die Entwicklung von (Lebens-)Perspektiven. Sie sind selbstaggressiv, was dauerhaft akute Suizidalität bedeuten kann aber auch exzessiver Drogenkonsum oder Vernachlässigung des eigenen Körpers. Oder sie haben eine kaum vorhandene Impulskontrolle, was sich in verbalen oder körperlichen Attacken, in übergriffigem, angstauslösendem oder aktiv störendem Verhalten – auch mit sexuellen Inhalten – äußert [2].

Eine Public-Health-Perspektive stellt eher das Hilfesystem in den Vordergrund. Gemeindepsychiatrische Hilfesysteme sind nicht in der Lage, diesen Menschen die angemessen Hilfen zukommen zu lassen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein und miteinander verwoben. So z. B. eine mangelnde Ressourcenausstattung (Raum, Zeit, Geld), ein fehlendes angemessenes therapeutisches Milieu oder auch Eingangsschwellen (z. B. Programm, vorausgesetzte Motivation, „Gruppenfähigkeit“) sowie fehlende therapeutische Strategien. Eine Vielzahl von Einrichtungen in Berlin sind – nach meiner Einschätzung – aus unterschiedlichen genannten Gründen nicht in der Lage, mit dem Problem und den Menschen umzugehen.

Eine juristische Perspektive thematisiert die Leistungszuständigkeit. Es stellt sich die Frage, ob z. B. wg. „langanhaltender akuter Behandlungsbedürftigkeit“ die GKV im Rahmen einer Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit zuständig wären (inkl. Psych KG), oder ob es sich um „medizinische Rehabilitation“ (SGB V, VI) handeln könnte, oder ob es sich tatsächlich um eine Leistung der EinglH handelt oder gar der Pflege (SGB XI). Jedoch ist es für Krankenhäuser äußerst schwer, die o. g. Menschen zu versorgen, da sie unter einem enormen Druck der Reduzierung von Verweildauern leiden und die GKV sich für die o. g. Zielgruppe nicht zuständig wähnt. Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation (RPK) gibt es in Berlin nicht. Einrichtungen der Pflege erscheinen unter Teilhabeaspekten inadäquat.

In dieser Trias der Perspektiven stellt sich das Problem in Berlin – verkürzt – wie folgt: Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer Problemlagen und Verhaltensweisen aus ethischen Gründen einer Grenzen setzenden, mithin geschlossenen Unterbringung, fakultativ, bedürfen. Gemeindepsychiatrische Einrichtungen sind zurzeit nicht in der Lage, mit diesen Menschen umzugehen. Sozialrechtliche Interpretationen der Sozialversicherungsträger verhindern eine angemessene Versorgung im Rahmen von Krankenhausversorgung bzw. medizinischer Rehabilitation. Pflegeeinrichtungen erscheinen nicht geeignet.

Die Perspektive ist, unter den gegebenen sozialrechtlichen Bedingungen und ihrer Veränderungsmöglichkeiten, auf den Sozialhilfeträger zu rekurrieren. Aber auch hier gibt es Folgen: Sofern geschlossene Einrichtungen in Hilfesystemen etabliert werden, könnte ein Sog entstehen, dass es nicht nur vereinzelte Einrichtungen gibt, sondern dass ein Markt von Einrichtungen entsteht und sich die regelhaften gemeindepsychiatrischen Einrichtungen und Dienste schwieriger Klienten entledigen. Eine Ghettoisierung der „Letzten“ (Dörner) wäre die Folge, mithin eine Erodierung der regionalen Versorgungsverpflichtung.

Ein „Weiter so“, wie bisher hätte weiter zur Folge, dass eine Vielzahl von Menschen in gemeindeferne Einrichtungen abgeschoben wird – und dort bleibt. Je nachdem, wie man sich entscheidet, scheint mir eine „Loose-Loose-Situation“ vorzuliegen. Hinsichtlich der Menschen, die eine große Herausforderung an therapeutische Hilfen und Hilfesysteme sind, scheint es keine Gewinner geben zu können.

Trotz dieses Dilemmas wird im Folgenden versucht, eine „geschlossene Unterbringung“ zu konzipieren – als eine stationäre Einrichtung der EinglH und als eine „Wunschliste“:

  • Eine stationäre Einrichtung deshalb, weil hier die „institutionellen Bedingungen“ vorliegen für die Sorge basaler Bedürfnisse (i. S. Maslow) sowie eines „Milieus“ sorgen zu können.

  • Sie muss über eine paradoxe Zielstellung verfügen in dem Sinne, dass in ihrer Konzeption die Trias von Problembereichen der Menschen, der „Hilflosigkeit des Hilfesystems“ und der Endlichkeit therapeutischer Möglichkeiten zum Ausdruck kommen. Hier spielt eine ethisch motivierte Grundhaltung eine große Rolle.

  • Sie muss eine extrem personenzentrierte, gemeindeorientierte und offene Konzeption haben. Personenzentriert in dem Sinne, dass auch „Planlosigkeit“ des Klienten zum Programm gemacht werden kann. Gemeindeorientiert in dem Sinne, das viele „rein“ dürfen aber (fakultativ) der Bewohner nicht immer „raus“ darf. Offen in dem Sinne, dass es kein therapeutisches Programm“ gibt, das jeder absolvieren muss. Antiinstitutionalisierung muss institutionalisiert werden.

  • Grenzen werden nur dann gesetzt, wenn es dem Schutz des Bewohners dient. Dies betrifft insbesondere suizidales Verhalten, den möglichen Folgen eigenaggressiven oder fremdaggressiven Verhaltens sowie den Folgen eigener extremer Vernachlässigung.

  • Sie muss extrem therapeutisch sein im Sinne einer sehr sensiblen, emphatischen, jedoch unstrukturierten individuellen, Lebensfeld orientierten Begleitung und Motivierung zur Inanspruchnahme offener Hilfen.

  • Sie muss über ein System von „Paten“ aus zuweisenden Einrichtungen und Diensten verfügen können. Dies mit dem Zweck, dass keiner aus dem gemeindepsychiatrischen Hilfesystem sich seiner Verantwortung entziehen kann (Kontinuität). Darüber hinaus sind informelle Hilfesysteme (Familie, Angehörige) aktiv einzubeziehen.

  • Es muss eine öffentliche Kontrolle von derartigen Einrichtungen etabliert werden. Am besten wären „Trialogische Beiräte“ mit Aufsichtsfunktion

  • Es dürfen nur kurze Unterbringungsbeschlüsse ausgesprochen werden, für die eine Überprüfung inkl. eines Votums von Beiräten vorgesehen ist.

Gibt es Alternativen? Ja!

Angesichts der UN-BRK- und BVerfG-Rechtsprechung sowie den damit verbundenen Diskussionen um Zwangsunterbringung und -medikation könnte sich das Thema erledigen. „Inklusion“ und „Selbstbestimmung“ darf jedoch nicht dazu führen, dass Menschen sich zu Tode bringen oder in den Maßregelvollzug bzw. ins Gefängnis „wandern“. Auch eine Unterbringung in der eigenen Wohnung bzw. einer Wohngemeinschaft käme in Betracht. Hier ist jedoch zu erwägen, inwieweit ein „Stubenarrest“ eine echte Alternative ist – insbesondere hinsichtlich einer Milieugestaltung in Wohngemeinschaften. Mir sind keine Konzepte und Erfahrungen bekannt. Eine Langzeitunterbringung im Krankenhaus (PsychKG) sehe ich auf absehbare Zeit nicht. Eine Alternative scheint zu sein, dass „geschlossene Türen“ durch „enge Begleitung“ ersetzt werden. Aber auch dies setzt ein stationäres Setting voraus.

Der BTG weist durch sein Positionspapier in die richtige Richtung [3]. Er weist auf die Notwendigkeit von Gesetzesänderungen hin, sowie auf erforderliche Umsetzungsregelungen und Qualitätsstandards im Hilfesystem. Mir scheint erforderlich, dass Verfahrensregelungen ergänzt werden, die die Einbeziehung regionaler Hilfesysteme in die Entscheidungen, die Überprüfung und die Berichterstattung und Beaufsichtigung von Unterbringungsbeschlüssen regeln.

Geschlossene Einrichtungen sind eine unzureichende Lösung des Problems von schwierigen Menschen, unzureichenden regionalen Hilfesystemen und unzureichenden rechtlichen Regelungen. Solange noch keine Alternativen gefunden sind, können geschlossene Einrichtungen gewährleisten, dass auch für untergebrachte KlientInnen Einrichtungen der EinglH mit einer regionalen Einbindung in Netzstrukturen eine (vorläufige) Antwort auf ein Problem sind, das bisher nur durch Ausgrenzung geregelt wird. Wenn es derartige Einrichtungen als Teil regionaler Hilfesysteme gibt, ist das schlecht, wenn es sie nicht gibt, noch schlechter.

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Kontra

Es gibt Patienten, die bringen ihre Therapeuten zur Verzweiflung. Allen ihnen zugedachten Bemühungen zum Trotz verhalten sie sich in einer Weise, die über kurz oder lang eine erneute Krisenintervention erwarten lässt. Sie kümmern sich nicht um ihre Gesundheit, auch wenn dies nach allgemeiner Auffassung dringend geboten wäre. Oder sie lassen ihre Wohnung bis zur Unbewohnbarkeit verwahrlosen und provozieren immer neue Zwangsumzüge, weil ihre Nachbarn es nicht mehr mit ihnen aushalten. Manche lassen eine Lebensweise – mit oder ohne Alkohol – erkennen, die derart unstrukturiert ist, dass auch stabilere Gemüter davon krank würden. Fakt ist: Sie vernachlässigen in einer für sie, aber auch für ihre Umgebung durchaus nicht harmlosen Weise ihre Selbstsorge, die Sorge um die eigene Gesundheit, die eigene Wohnung, die Erfordernisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens und / oder ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Man kann sagen, ihre Fähigkeit zur Selbstsorge ist unter dem einen oder anderen Aspekt defizitär, sodass sie dazu Unterstützung – oder wie es in der UN-Behindertenrechtskonvention heißt: Assistenz – benötigen. Das ist keine neue Erkenntnis: Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen benötigen oft Hilfen zur Alltagsbewältigung. Schon vor 30 Jahren beschrieben Bauer u. Drees [4] sie als Sozialtherapie. In dem von ihnen dargestellten Beispielfall erwies sich letztlich die Bestellung einer regelmäßigen Haushalthilfe als Lösung, dank der es nicht mehr zu den schweren psychotischen Krisen kam, die früher ständig neue, oft unfreiwillige Klinikaufnahmen zur Folge gehabt hatten.

Doch wo gibt es einen verfügbaren Dienst in der örtlichen psychiatrischen Infrastruktur, der solches verlässlich leistet und sich nicht auf ausgelesene, weniger schwierige Fälle beschränkt? Ambulante gemeindepsychiatrische Zentren, die im Rahmen einer Versorgungspflicht solches – wenn notwendig auch viele Jahre lang – tatsächlich leisten, sind mangels ausreichender Finanzierung und personeller Ausstattung selten. Die Kassenleistung Soziotherapie ist vielerorts ein Papiertiger, praktisch oft nicht verfügbar. Soziotherapeuten berichten, dass allein der zuvor notwendige administrative Aufwand von entsprechenden Anträgen an den Sozialleistungsträger abschreckt. Betreutes Wohnen ist bundesweit ein bunter Flickenteppich fachlich kompetenter oder auch mancherorts für schwierige Fälle weniger befähigter Hilfen zur mobilen Unterstützung. Mancherorts leichter verfügbar sind rechtliche Betreuer, vom Gesetz her eigentlich nur als Vertreter des Willens und der Interessen ihrer Klienten gedacht, doch nicht selten auch mehr oder weniger als Ersatz für fehlende soziotherapeutische Helfer in Anspruch genommen [5]. Da gibt es dann berufsmäßige Betreuer, die über hervorragende Kompetenzen für ihr als „Zurüstung“ zur Selbstsorge verstandenes Unterstützungsmanagement verfügen [6]. Doch weil die Politik fachliche Qualifikationsnormen für Betreuer verweigert, fällt anderen Betreuern aufgrund mangelnder Qualifikation in ihrer Hilflosigkeit nicht mehr ein, als eine u. U. zwangsweise Heimeinweisung zu veranlassen. Der Klient scheint dann versorgt, und das ohne ein zeitaufwendiges Hilfeplanverfahren.

Die Heimeinweisung stellt immer noch die einfachste Lösung bei Problemen mit Patienten / Klienten mit wesentlichen Selbstsorgedefiziten dar. Die Idee der Asylierung von Menschen mit erheblich störendem Verhalten entstand im 18. Jahrhundert und führte in der folgenden Zeit zur Entstehung psychiatrischer Anstalten [7]. Im Gefolge der Psychiatriereform übernahmen Heime deren mit Fürsorge begründete Funktion des Asylierens, ohne dass sich an der Situation der Betroffenen zunächst Wesentliches änderte, wie die Expertenkommission zum Modellprogramm Psychiatrie 1988 festgestellt hat. Inzwischen hat sich in den Heimen einiges gewandelt, manche leisten – die einen gut und engagiert, aber andere weiterhin skandalös schlecht – die Sorge, der mancher ihrer Bewohner vielleicht wirklich bedarf, während andere Bewohner dort verlernen, was sie bisher noch selbst leisten konnten. Denn Heime haben die Gewohnheit, für alle Bewohner das gleiche einheitliche Sorgepaket zu bieten, ob der einzelne Bewohner dies alles braucht oder nicht. Dafür muss er lernen, sich der Hausordnung anzupassen. Für die betroffenen Bewohner bedeutet Heimaufenthalt nicht selten Minderung ihrer Lebensqualität, Verlust an Selbstbestimmung und je nach Lage des Heims auch Verlust ihres bisher vielleicht noch tragfähigen sozialen Netzwerks. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich mancher Bewohner in diesen Heimen nur unter Zwang aufhält. Doch das aus dem 19. Jahrhundert stammende „Heimparadigma“ [8], wonach chronisch psychisch beeinträchtigte Menschen einen Schutzraum in Gestalt einer u. U. lebenslangen totalen Asylierung fern der Gesellschaft brauchen, wird so lange weitergelten, wie Heime für die Einweisenden die am einfachsten handhabbare Lösung für die Behandlung der Patienten mit chronischen Schwierigkeiten bieten.

Doch auch die schwierigen, manchmal als ,behandlungsresistent‘ bezeichneten Patienten haben ein soziales Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Auch für sie muss es personzentrierte, dem individuellen Bedarf entsprechende Wohn- und Lebensformen geben – passgenaue Hilfen zur Unterstützung ihrer Selbstsorge bzw. der Bewältigung ihres Alltags, die ihren Empfänger nicht auf eine bestimmte Wohnform als Voraussetzung für die Hilfeleistung festlegen, vielmehr als mobile Unterstützung organisiert sind. Solche personzentrierte Hilfen zur Teilhabe sind im Rahmen einer erzwungenen stationären Versorgung nur schwer zu leisten. Sie erfordern kompetente soziotherapeutische Fähigkeiten, die in dem bei diesem Personenkreis erforderlichen Maße bisher noch nicht viele beherrschen.

Das gerade bei den schwierigen Patienten öfter gebotene Abwägen zwischen deren Recht auf Selbstbestimmung und dem verantwortungsbewusst gebotenen Maß an Fürsorge angesichts eines für sie, aber vielleicht auch für ihre Mitmenschen bedrohlich erscheinenden Mangels an Selbstsorge lässt ein Heim immer wieder mal als die einzige vertretbare Lösung erscheinen. Sicher kann sich ein stationärer Hilferahmen zum aktuellen Zeitpunkt als durchaus individuell passgenaue Hilfe erweisen, wie etwa bei Menschen, die früher erhebliche Traumatisierungen erlitten haben oder die vielleicht erstmals Konstanz in ihrem Lebensumfeld erleben sollten. Doch dort soll der Betroffenen nicht lernen, sich dem stationären Reglement als einer Art Subkultur anzupassen, vielmehr muss es dann Aufgabe des Heimes sein, den Menschen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu befähigen. Solche Einrichtungen müssen dann ständig mit ambulanten Alternativangeboten kooperieren. Wobei gerade die über institutionelle Grenzen hinweg konstant zuständige, soziotherapeutisch kompetente Bezugsperson, welche die Entwicklung einer verlässlichen, vertrauensvollen Beziehung ermöglicht, die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg darstellen wird.

Die Rede war bisher von Selbstsorgedefiziten, nicht aber von psychopathologischen Symptomatiken. Das soll hier auch so bleiben, denn Symptome allein können keine Heimeinweisung gegen den Willen der betroffenen Person rechtfertigen. Das ist schon mit der UN-Behindertenrechtskonvention unvereinbar. Aus ihnen lässt sich allenfalls der festgestellte Unterstützungsbedarf erklären. Der Arzt und Philosoph Fritz Hartmann, Gründungsrektor der Med. Hochschule Hannover, hat in Bezug auf chronisch Kranke einen Paradigmenwechsel im ärztlichen Denken und Handeln gefordert. Zur ärztlichen Sozialisation gehört die Haltung, die Krankheit seines Patienten besiegen zu wollen, indem die Krankheitssymptome verschwinden. Doch Symptome allein machen noch nicht eine Krankheit aus. Ärzte müssen sich damit abfinden, dass es „bedingte Gesundheit“ gibt [9], also etwa ein mehr oder weniger gesundes Leben mit Halluzinationen.

Weiteres Material zum Artikel
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Literatur

  • 1 Frick U, Frick H. Basisdaten stationärer psychiatrischer Behandlungen: Vertiefungsstudie „Heavy User“, Literaturanalyse.. Neuchatel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium; 2008. http://www.obsan.ch
  • 2 Roik C, Gärtner A, Heider D et al. Heavy User psychiatrischer Versorgungsdienste. Ein Überblick über den Stand der Forschung.  Psychiat Prax. 2002;  29 334 - 342 (und weitere Aufsätze). Freyberger HJ, Ulrich J, Barnow S et al. Am Rande psychiatrischer Versorgungsstrukturen – eine Untersuchung zur „Systemsprengerproblematik“ in Mecklenburg-Vorpommern. Fortschr Neurol Psychiatr 2008; 76: 106–113. Weig W. Der „schwierige“ Patient in der psychiatrischen Versorgung. Nervenarzt 2009; 80: 847–854. Debatte: Pro & Kontra. Es gibt keinen „schwierigen“ Patienten. Psychiat Prax 2010; 37: 56–58. Franz M, Meyer T, Dubowy M et al. Das Akkumulieren „Neuer Langzeitbewohner“ in klinikassoziierten psychiatrischen Heimen: eine Herausforderung für die psychiatrische Versorgung. Psychiat Prax 2010; 37: 240–247
  • 3 BTG – Betreuungsgerichtstag e. V. .Positionen des Betreuungsgerichtstages zur Unterbringung und Zwangsbehandlung. Hannover; den 12.10.2011 http://www.bgt-ev.de
  • 4 Bauer M, Drees A. Praktische Sozialtherapie in der Psychiatrie.  Psychiat Prax. 1980;  7 1-8
  • 5 Crefeld W, Locher M. Rechtliche Betreuung und fachliche Unterstützung.. In: Rosemann M, Konrad M, Hrsg Handbuch Betreutes Wohnen.. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2011
  • 6 Förter-Vondey K, Freter H. Betreuung als Unterstützungsmanagement – Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung.  Btplus. 2011;  2 3-7
  • 7 Dörner K. Bürger und Irre.. Frankfurt/M: Europäische Verlagsanstalt; 1984
  • 8 Konrad M, Rosemann M. Vom Wohnheim zur mobilen Unterstützung.. In: Rosemann M, Konrad M, Hrsg Handbuch Betreutes Wohnen.. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2011
  • 9 Hartmann F. Chronisch Kranke – ein Paradigmawechsel im ärztlichen Denken und Handeln.. In: Hartmann F Patient, Arzt und Medizin – Beiträge zur ärztlichen Anthropologie.. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 1984

Christian Reumschüssel-WienertDipl. Soziologe, Dipl. Sozialwirt

Paritatischer Wohlfahrtsverband Berlin e. V., Referat Psychiatrie/Queere Lebensweisen

Kollwitzstraße 94–96

10435 Berlin

Email: reumschuessel@paritaet-berlin.de

Prof. Dr. Wolf Crefeld

Joachimstraße 4

40545 Düsseldorf

Email: wolf.crefeld@gmx.de

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Literatur

  • 1 Frick U, Frick H. Basisdaten stationärer psychiatrischer Behandlungen: Vertiefungsstudie „Heavy User“, Literaturanalyse.. Neuchatel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium; 2008. http://www.obsan.ch
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  • 5 Crefeld W, Locher M. Rechtliche Betreuung und fachliche Unterstützung.. In: Rosemann M, Konrad M, Hrsg Handbuch Betreutes Wohnen.. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2011
  • 6 Förter-Vondey K, Freter H. Betreuung als Unterstützungsmanagement – Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung.  Btplus. 2011;  2 3-7
  • 7 Dörner K. Bürger und Irre.. Frankfurt/M: Europäische Verlagsanstalt; 1984
  • 8 Konrad M, Rosemann M. Vom Wohnheim zur mobilen Unterstützung.. In: Rosemann M, Konrad M, Hrsg Handbuch Betreutes Wohnen.. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2011
  • 9 Hartmann F. Chronisch Kranke – ein Paradigmawechsel im ärztlichen Denken und Handeln.. In: Hartmann F Patient, Arzt und Medizin – Beiträge zur ärztlichen Anthropologie.. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 1984

Christian Reumschüssel-WienertDipl. Soziologe, Dipl. Sozialwirt

Paritatischer Wohlfahrtsverband Berlin e. V., Referat Psychiatrie/Queere Lebensweisen

Kollwitzstraße 94–96

10435 Berlin

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