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DOI: 10.1055/s-0031-1283096
Ästhetik und Psychiatrie
Publication History
Publication Date:
01 July 2011 (online)
"Durch längeres Betrachten eines Kieselsteins, eines Tiers, eines Bildes, spürte ich, wie ich darin eintrat" [1]. Mit diesem Zitat Flauberts (eig. Übersetzung) charakterisierte Ludwig Binswanger einst den Ansatz der Phänomenologie, die er versuchte, für die Psychiatrie nutzbar zu machen. Heute, knapp 100 Jahre später, kann man sich fragen, was von einem solchen Projekt, durch Anschauung in das unmittelbare Erleben des Patienten einzutreten, in der Welt voll von diagnostischen Manualen und Budgetzwängen noch geblieben ist.
"Nicht viel oder zumindest: nicht genug", könnte die Antwort der 2008 gegründeten European Society of Aesthetics and Medicine lauten und so ist nun ein erster bunter Sammelband von Aufsätzen erschienen, der versucht, den Begriff der Ästhetik wieder für die Medizin und im Besonderen für die Psychiatrie fruchtbar zu machen. Dabei heißt Ästhetik (von gr. aísthesis) bekanntlich weit mehr als nur Wahrnehmung/Anschauung – es geht vielmehr um die Wahrnehmung des "Schönen und Guten" und die Frage, wie dieses als tragendes und intersubjektives Element in Therapiekonzepte und schließlich in die Psychiatrie als Ganzes integriert werden kann.
Dabei tut sich dem Leser während der Lektüre ein weiter Themenhorizont auf. Dieser erstreckt sich von so umfassenden Fragen wie jenen nach der Bedeutung der Utopie für unser Menschenbild und Gesellschaftsmodell (Tauss, Poltrum) über institutionelle Reflexionen zur Gastfreundschaft im stationären Milieu (Musalek) hin zu konkret therapeutischen Fragen wie beispielsweise der Ästhetik der Katharsis in der psychoanalytischen Theorie (Gödde), der Bedeutung des Ästhetischen im Rahmen der Schmerztherapie am Beispiel Frida Kahlos oder ganz einfach nur der Frage, warum Lachen eigentlich gesund ist (Thurnher). Hervorzuheben ist dabei insbesondere Martin Poltrums Artikel über utopisches Denken, der gesellschaftlichen Utopismus sehr inspirierend mit psychotherapeutischer Praxis verbindet, die er u.a. im Bezug auf Foucault und Bachelard als Schaffung eines heilsamen und glücklichen ",Gegenraum[s], der sich allen anderen Räumen und Orten widersetzt", versteht.
So lässt der Sammelband den Begriff der Ästhetik in einer Vielzahl von Facetten erscheinen und hat damit doch eine Aussage: Die Frage nach gesund oder krank ist nicht die einzig wichtige, die sich der Psychiatrie stellt, sondern immer auch: Wie können wir dem Patienten wieder zu einem schönen und sinnvollen Leben, ggf. auch mit Krankheit, verhelfen? Für ein solches ästhetisches Fragen legt der Sammelband einen eindrucksvollen Grundstein.
Samuel Thoma, Berlin
E-Mail:samuel.thoma@gmx.net
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Literatur
- 1 Binswanger L (1923). Über Phänomenologie. In: Ausgewählte Werke, Bd. 3. Heidelberg: Asanger; 1994