physiopraxis 2011; 9(7/08): 30-36
DOI: 10.1055/s-0031-1285121
physiotherapie

Ein Fall für Vier: Kopf- und Wangenschmerzen – Der gestresste Unternehmensberater

Roald Luning
Further Information

Publication History

Publication Date:
29 July 2011 (online)

Table of Contents

Stefan Kullmann leidet so stark unter Kopf-, Schläfen- und Wangenschmerzen, dass er regelmäßig Schmerzmittel einnehmen muss. Zeit, sich um sein Problem zu kümmern, nimmt er sich kaum. Ein Zahnarzt und drei Physiotherapeuten, die mit unterschiedlichen Konzepten arbeiten, tun ihr Bestes, um unserem fiktiven Patienten zu helfen.

#

Der Fall

Stefan Kullmann hat ordentlich Stress. Der 30-Jährige arbeitet seit drei Jahren bei einer Unternehmensberatung und springt die Karriereleiter steil nach oben. 15 Stunden Arbeitszeit sind an der Tagesordnung, seinen letzten Urlaub hatte er vor einem Jahr. Seit zwei Monaten plagen ihn Schmerzen: an der Stirn, den Schläfen und in den Wangen. Zudem spürt er seit ein paar Wochen ab und an ein Ziehen im linken Auge. Die Beschwerden bemerkte er anfangs vorwiegend nach dem Aufwachen, seit einiger Zeit gibt es jedoch auch Tage, an denen sie gar nicht mehr verschwinden. Zweimal hatte er zudem ein Zucken („Tic“) an der linken Augenbraue, das einmal fast einen ganzen Tag anhielt. Da er sich zunehmend schlechter konzentrieren kann, nimmt er regelmäßig Aspirin und Ibuprofen 400.

Ob Stefan Kullmann nachts mit den Zähnen knirscht, kann er nicht sagen. Er hat nur bemerkt, dass er in letzter Zeit unruhig schläft und häufiger nachts aufwacht. Einen gravierenden Unfall, Sturz oder Ähnliches hatte er noch nie. Aufgrund der firmeninternen Konkurrenz unter seinen Kollegen kann es sich Stefan Kullmann weder leisten, krank zu sein, noch kann er einen regelmäßigen Therapietermin wahrnehmen.

#

1. CranioMandibular Concept (CMC)

1. CranioMandibular Concept
Zoom Image

Gert Groot Landeweer arbeitet als selbstständiger Physiotherapeut in seiner Privatpraxis in Gundelfingen bei Freiburg. Er ist Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter des Upledger Instituts Deutschland, hat verschiedene Konzepte wie das „CranioMandibular Concept“, das „Fascial Balancing“ und die „Holistic Integration“ entwickelt und zwei Bücher geschrieben.

Das CMC ist ein für Physiotherapeuten, Zahnärzte und Kieferorthopäden geeignetes Konzept zur manuellen Erfassung und Behandlung von Funktions- und Strukturstörungen des Kausystems. Leitlinie ist das muskelmechanische Belastungsmodell, das Gert Groot Landeweer selbst auf biologischer Grundlage entwickelt hat.

#

Spontane Hypothese

Ich ziehe bei Herrn Kullmann muskuläre Probleme im Kopf-, Kiefer- und Gesichtsbereich als Symptomauslöser in Betracht. Der Grund ist seine hohe berufliche Anspannung, in der er kaum beziehungsweise gar nicht zur Ruhe, Gelassenheit und Entspannung findet. Die hohe Muskelspannung wiederum belastet das intramuskuläre Bindegewebe, die Kiefergelenke und die Schädelsuturen. In der Formatio reticularis, die sich im Hirnstamm befindet, werden viele afferente und efferente Informationen zusammengeführt. Übermäßiger Stress kann diesen Bereich und damit auch die Hirnnerven sensibilisieren, wodurch möglicherweise Herrn Kullmanns typische Symptome entstehen. Eine weitere Folge seines Stresses kann ein erhöhter Bedarf an Vitaminen und Mineralien sein, deren Mangel wiederum die Muskelfunktion beeinträchtigt. Dass die Symptome in der Nacht entstehen, weist auf eine Stressverarbeitung durch Muskelaktivitäten wie Pressen und Knirschen hin.

#

Ergänzende Anamnese

Herr Kullmann berichtet über gelegentliche Verspannungen im Nacken-Schulter-Bereich bei langen und konfliktgeladenen Meetings. Lockerungsübungen, die er seit Kurzem durchführt, helfen ihm, diese zu lösen. In der Nacht hat er zunehmend Träume mit existenziellen Bedrohungen, wodurch er häufig aufwacht. Danach dauert es lange, bis er wieder einschlafen kann. Bei behutsamen Nachfragen teilt er mir mit, er leide unter starken Versagensängsten, die er nur - und lediglich kurzfristig - mit beruflichen Erfolgen kompensieren kann. Er wünscht sich eine Partnerin, die seine berufliche Situation versteht, eine eigene Familie kann er sich mit diesem Arbeitspensum nicht vorstellen. Es gibt bei ihm keine Hinweise auf Erkrankungen, die einer differenzialdiagnostischen Abklärung bedürfen.

#

Untersuchung

Mit aktiven Unterkiefer- und Halswirbelsäulenbewegungen und passiven Weiterführungen in die jeweilige Richtung kann ich weder die Schmerzen provozieren, noch das Bewegungsausmaß verändern. Die passive Mundöffnung fühlt sich endgradig etwas teigig an. Bei Kompressions-Distraktions-Techniken, die ich vom Schulter-Nacken-Bereich über den Neuralschädel bis in den Gesichtsschädel durchführe, finde ich bedeutende Befunde: Bei den meisten Distraktionstechniken spüre ich einen erhöhten Gewebewiderstand, der sich von C 3 nach kaudal deutlich bessert, ohne sich jedoch zu normalisieren. Langsam und behutsam durchgeführte Kompressionstechniken derselben Bereiche bewirken bei Herrn Kullmann ein Gefühl der Entspannung, eine Ausnahme bildet die anteroposteriore Kompression des Hirnschädels (frontookzipital), die das Ziehen hinter dem linken Auge auslöst. Seine Schmerzen in Stirn, Schläfen und Wangen kann ich allesamt reproduzieren, indem ich die Kieferschließmuskeln isometrisch anspannen lasse beziehungsweise palpiere. Ihre Spannung ist sehr hoch und gibt nur bei längerem Dauerdruck allmählich nach. Koordinationsstörungen der lateralen Pterygoidealmuskeln und der Lippen-Wangen-Zungenmuskeln hat Stefan Kullmann nicht.

#

Ausgewählte Therapiemaßnahmen

Stefan Kullmanns Ziel ist es, mit möglichst wenigen Terminen zu einem optimalen Ergebnis zu gelangen. Vor allem wichtig ist ihm ein Selbstübungsprogramm. Ich kläre ihn über die Hypothese und die Befunde auf und bespreche mit ihm die Therapie: Als Heimübungsprogramm gebe ich ihm detonisierende, stressabladende und entspannende Maßnahmen mit, wobei deutlich wird, dass er Atemübungen und Techniken aus der progressiven Muskelrelaxation favorisiert. Zudem erarbeite ich mit Herrn Kullmann Selbst-beobachtungs- und Lösungstechniken für Pressaktivitäten des Kiefers am Tage. Um ein gezieltes und variationsreiches Herz-Kreislauf-Trainingsprogramm zum Abbau von Stresshormonen kümmert er sich selbst.

In der Praxis verwende ich Dauerdrucktechniken in Kombination mit der postisometrischen Relaxation und der reziproken Hemmung der angespannten und lädierten Kieferschließmuskeln - so lange, bis deren Spannung deutlich nachlässt. Anschließend nutze ich Kompressions- und nachfolgende Dekompressionstech-niken für die Knochenverbindungen (Gelenke und Suturen), gegebenenfalls im wiederkehrenden Wechsel, bis sich deren Bewe-gungs- und Endgefühl verbessert ([Abb. 1]). Dabei liegt die zu behandelnde Knochenverbindung zwischen meinen Händen, sodass eine einfache Möglichkeit besteht, Zug- und Druckkräfte auf das entsprechende Gebiet auszuüben. Nach der ersten Sitzung fühlt sich Stefan ernst genommen sowie gut untersucht und behandelt. Seine Beschwerden haben spürbar nachgelassen, und er hat Vertrauen in sich und seinen Körper zurückgewonnen.

Zoom Image

Abb. 1 Frontookzipitale Kompression: Dies ist für Gert Groot Landeweer eine Möglichkeit, die Knochenverbindungen des Hirnschädels zu mobilisieren. (Fotos: G. Groot Landeweer)

#

Erwartungen

Herr Kullmann wird sich in den kommenden Wochen und Monaten innerhalb seiner Möglichkeiten mit den Zusammenhängen zwischen der inneren Anspannung und den Muskelanspannungen sowie deren Folgen auseinandersetzen müssen. Es wird eine gute Abstimmung zwischen passiver Hands-on-Therapie und aktiven Übungen nötig sein. Falls sich sein Zustand nicht verbessert, werde ich ihm eventuell eine Aufbissschiene für die Nacht oder tagsüber empfehlen beziehungsweise Nahrungsergänzungsmittel (Mineralien, Vitamine etc.).

Gert Groot Landeweer

#

2. Myofasziale Triggerpunkt-Therapie (IMTT)

2. Myofasziale Triggerpunkt-Therapie (IMTT)
Zoom Image

Alexander Gürtler ist seit 1995 Physiotherapeut und arbeitet seit 1997 in der Hirslanden Klinik Birshof in Münchenstein bei Basel. Er ist Triggerpunkt-Instruktor der Interessengemeinschaft für myofasziale Triggerpunkt-Therapie (IMTT).

Die myofasziale Triggerpunkt-Therapie IMTT setzt die Erkenntnisse von Travell und Simons über myofaszialen Schmerz in eine manualtherapeutische Methode um und ergänzt sie mit dem Ansatz von Dr. Beat Dejung, auch das dazugehörige Bindegewebe mitzubehandeln. Bei dem Konzept werden vier manuelle Behandlungstechniken ergänzt durch Maßnahmen zur Detonisierung / Dehnung und funktionellen Kräftigung der betroffenen Muskulatur. Alexander Gürtler hat sich auf die Therapie von Patienten mit kraniomandibulärer Dysfunktion spezialisiert.

#

Spontane Hypothese

Mein erster Gedanke ist, dass Herr Kullmann wahrscheinlich stressbedingt nachts mit den Zähnen knirscht und auch tagsüber die Zähne unbewusst zusammenpresst. Bei Patienten, die in Stresssituationen nachts mit den Zähnen knirschen (Bruxismus) oder den Kiefer zusammenpressen (Bracing), tritt oftmals ein Schmerz morgens nach dem Aufwachen auf. Durch das Pressen und Zähne-knirschen überlastet Herr Kullmann konstant seine Kaumuskulatur, weiterführend auch seine Nacken- und hyoidale Muskulatur. Dadurch bilden sich myofasziale Triggerpunkte (mTrP), vor allem in den Mm. masseter, temporalis, pterygoideus medialis und lateralis, trapezius pars descendens und sternocleidomastoideus. Ein typisches Symptom von mTrP sind Schmerzausstrahlungen, bei den genannten Muskeln in Stirn, Schläfen und Wangen. Der „Tic“ an Herrn Kullmanns linker Augenbraue kann sehr gut von Triggerpunkten der Mm. sternocleidomastoideus, masseter und tempora-lis kommen, da mTrP neben Schmerzen auch motorische, sensorische oder autonome Dysfunktionen auslösen können. Weil in der Anamnese kein Unfall, Sturz oder Ähnliches zu finden ist, festigt sich die Hypothese, dass Herr Kullmann seinen starken Stress durch Zähneknirschen und Pressen verarbeitet.

#

Ergänzende Anamnese

Primär interessieren mich vier Fragen, die zum Teil schon beantwortet sind: Wo ist der Schmerz lokalisiert? Seit wann besteht er? Was ist seine Ursache? Wodurch wird er verstärkt respektive vermindert? Zudem möchte ich wissen, ob Nackenschmerzen oder Schmerzen in anderen Bereichen des Körpers vorhanden sind. Falls ja: Stehen sie in Zusammenhang mit dem akuten Problem? Weiter interessiert mich, ob Herr Kullmann Sport treibt und welchen anderen Hobbys er nachgeht. Sind Nebendiagnosen bekannt? Nimmt er weitere Medikamente (Antikoagulation mit einem Blutgerinnungswert unter 20 % sind eine Kontraindikation für die Triggerpunkt-Therapie)?

#

Untersuchung

Bei der Inspektion achte ich auf Hyperthrophien des Masseter und des Temporalis, Schlifffacetten und Abrasionen an den Zähnen, Okklusion sowie Zungen- und Wangenimpressionen (Vernarbungen, die durch Knirschen entstehen). Das alles sind Hinweise auf Bruxismus und Bracing. Als Nächstes lasse ich den Patienten den Mund öffnen, um die aktive Beweglichkeit zu testen. Ich schaue, wie koordiniert die Bewegung abläuft, ob es ein Knacken im Kiefergelenk gibt und ob Herr Kullmann bei der Mundöffnung die HWS aktiv stabilisieren kann. Bei der Mundöffnung messe ich die Schneidekantendifferenz (den Abstand zwischen den Schneidekanten der oberen und unteren Zahnreihe) und schaue, ob Asymmetrien oder Abweichungen vorhanden sind. Anschließend teste ich die Laterotrusion des Unterkiefers zu beiden Seiten sowie die Protrusion. Mit isometrischen Widerstandstests untersuche ich die Kraft der Kaumuskulatur, prüfe, ob ich die Schmerzen reproduzieren kann, und teste deren Koordination. Passiv untersuche ich das Jointplay des Kiefergelenks in alle Bewegungsrichtungen. Bei der Gelenkpalpation prüfe ich, ob Herr Kullmann irgendwo druckempfindlich ist und ob das Gelenk symmetrisch steht. Um Einschränkungen und Asymmetrien im Bewegungsablauf zu erkennen, palpiere ich anschließend die Bewegung des Kieferköpfchens bei der aktiven Mundöffnung sowie bei der Latero- und Protrusion. Danach untersuche ich die Muskulatur auf mTrP. Die drei Hauptdiagnosekriterien von mTrP sind:

  • > Hartspannstrang („taut band“)

  • > maximale Druckempfindlichkeit

  • > Reproduktion der Symptome des Patienten

Verschiedene Tests bestätigen meine spontane Hypothese: Durch die Palpation der mTrP der Mm. masseter, temporalis, ptery-goideus medialis und lateralis, trapezius pars descendens und sternocleidomastoideus kann ich die Schmerzen von Herrn Kull-mann reproduzieren. Die Untersuchung des Kiefergelenks ist ohne Befund und untermauert damit, dass keine Gelenkproblematik, sondern primär eine muskuläre Spannungssituation vorliegt.

#

Ausgewählte Therapiemaßnahmen

Ziel der Therapie ist die Schmerzfreiheit. Als Erstes deaktiviere ich die mTrP mithilfe der Triggerpunkt-Therapie. Da diese Technik schmerzhaft ist, kläre ich Herrn Kullmann auf, dass er sie jederzeit stoppen kann. Zudem kann die behandelte Stelle nach der Therapie noch ein bis zwei Tage lang schmerzen. Ich behandle die mTrP mittels vier manueller Techniken: Kompression des Triggerpunkts, Dehnung der Triggerpunkt-Region, Fasziendehnung und Faszien-trennung. An den mTrP der Kaumuskulatur arbeite ich auch enoral, also im Mund ([Abb. 2]).

Zoom Image

Abb. 2 Enorale Behandlung: Alexander Gürtler therapiert einen muskulären Triggerpunkt im M. masseter. (Fotos: A. Gürtler)

Bei Herrn Kullmann ist es wichtig, auch die auslösenden und unterhaltenden Faktoren der Aktivierung der mTrP und der Schmerzen in die Therapie mit einzubeziehen. Da bei ihm der Auslöser wahrscheinlich der Stress und dessen Bewältigung ist, sollte er seine Wahrnehmung auf das Pressen richten und lernen, es zu vermeiden. Er muss sich bewusst werden über die Zusammenhänge von Stress, Pressen, Zähneknirschen, Überlastung der Muskulatur und Schmerzen, damit er seine Triggerpunkte in der Kaumuskulatur nicht erneut aktiviert. Nur wenn es ihm gelingt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, kann die Therapie langfristig erfolgreich sein. Für nachts empfehle ich ihm eine Aufbissschiene, um die Zähne vor Abrasionen und die Kaumuskulatur vor weiteren muskulären Überlastungen zu schützen. Außerdem leite ich ihn an, seine Kaumuskulatur selbst zu behandeln, und zeige ihm Entspannungsübungen.

#

Erwartungen

Die Prognose ist in erster Linie von Herrn Kullmanns Kooperation abhängig. Damit die unterhaltenden Faktoren wie Pressen tagsüber oder Zähneknirschen nachts die mTrP nicht erneut aktivieren und die Schmerzen dadurch wieder auftreten, ist es notwendig, dass er das Heimprogramm konsequent durchführt. Schafft er das, erwarte ich einen sehr guten Verlauf mit einer langfristigen Beschwerdefreiheit.

Alexander Gürtler

#

3. Zahnmedizin

3. Zahnmedizin
Zoom Image

Dr. Elmar Ludwig arbeitet als niedergelassener Zahnarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Ulm. Er ist zudem im überregionalen Schmerzzentrum Ulm aktiv und arbeitet als Konsiliarzahnarzt im dortigen Universitätsklinikum. Von 2000-2008 war er Mitarbeiter der Abteilung für Zahnärztliche Prothetik am Universitätsklinikum Ulm.

Nach dem aktuellen Diagnoseschema der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie steht der Zahnarzt bei der Behandlung von Patienten mit kraniomandibulärer Dysfunktion (CMD) bezüglich der Abklärung der Initialdiagnosen Myo-, Arthro-und Okklusopathie im Zentrum der Therapie. Eine gute Vernetzung mit anderen ärztlichen Disziplinen und die Einbindung physiotherapeutischer Maßnahmen ist bei der Behandlung dieser Patienten unverzichtbar. Einer der Arbeitsschwerpunkte von Dr. Elmar Ludwig ist die Therapie von Patienten mit komplexen Dysfunktionen des Kiefergelenks.

#

Spontane Hypothese

Die Kardinalsymptome einer CMD sind Schmerzen - auch ausstrahlend - im Bereich der Kiefermuskulatur / Kiefergelenke, Gelenkgeräusche und eine eingeschränkte Mundöffnung (weniger als drei Querfinger). Da die Kiefergelenke sogenannte Stressab-leitungsorgane darstellen, ist meine erste Hypothese bei Herrn Kullmann eine stressbedingte Myopathie.

#

Ergänzende Anamnese

Bekam Stefan Kullman vor kurzem Zahnfüllungen oder einen Zahnersatz? Besteht bei aufrechter Kopf-Körper-Haltung rechts und links ein gleichmäßiger Zahnkontakt? War er früher in kieferorthopädischer Behandlung? Gibt es bei ihm einseitige skelettale Belastungsmuster, zum Beispiel durch die Arbeit am PC? Ist seine Sehkraft verringert, schiebt er dadurch den Kopf ständig nach vorne? Schläft er auf dem Bauch und verschiebt dadurch die Kopf-und Kiefergelenke zur Seite? Treibt er Sport? Hat er psychosomatische Belastungsfaktoren? Leidet er wiederkehrend unter Nasennebenhöhlenentzündungen?

#

Untersuchung

Gelenkgeräusche wie Knacken oder Reiben kann ich bei Herrn Kullmann nicht feststellen. Seine Mundöffnung wie auch die Seitwärtsbewegungen des Unterkiefers bei halb geöffnetem Mund sind weder eingeschränkt noch asymmetrisch. Eine Arthropathie, beispielsweise eine anteriore Diskusverlagerung, liegt bei ihm somit nicht vor. Auch Nasennebenhöhlenentzündungen kann ich ausschließen, da die trigeminalen Nervenaustrittspunkte palpato-risch unauffällig sind. Eine Neuralgie ist ebenso unwahrscheinlich, da Herr Kullmann keine Trigger beschreibt und auch die Anfalldauer zu lang ist.

Obwohl keine Frühkontakte im Schlussbiss bestehen und auch die Seitwärtsbewegungen unter Zahnkontakt ungestört möglich sind, ist der M. masseter vor allem links druckschmerzhaft. Zahnfleischrezessionen kann ich nicht erkennen, dafür leichte Schliffflächen an den Zähnen sowie Wangen- und Zungenimpressionen. Dies alles sind Hinweise auf eine gesteigerte funktionelle Aktivität (Parafunktion). Herr Kullmann hat zudem ausgeprägte Schluss-bisskontakte in der Front.

Somit besteht bei ihm aufgrund mehrerer Faktoren eine erhöhte Gefahr für eine Kompression des hinteren Kiefergelenkbereichs und damit für eine Dekompensation des kraniomandibulären Systems. Meine Diagnose: stressausgelöste Myopathie des Kiefergelenks mit okklusalen Risikofaktoren.

#

Ausgewählte Therapiemaßnahmen

Zunächst kläre ich Herrn Kullmann über die multifaktoriellen Ursachen einer CMD auf. Ich gebe ihm den Tipp, zu Hause und bei der Arbeit an verschiedenen Stellen rote Punkte anzubringen. Sieht er einen davon, soll er selbst prüfen, ob er gerade mit den Zähnen knirscht oder die Kiefer aufeinanderpresst - und dann bewusst lockerlassen.

Zur okklusalen Entkopplung bekommt Herr Kullmann eine geteilte Schiene rechts und links nur über die Seitenzähne des Unterkiefers. Damit schaffen wir zugleich Freiraum in der Front. Durch Einschleifen beziehungsweise Aufbaumaßnahmen der Schienen strebe ich einen gleichmäßigen Biss an. Mir ist wichtig, dass Herr Kullmann ein gutes Gefühl mit den Schienen hat und sie nach Bedarf - bis auf die Mahlzeiten - Tag und Nacht tragen kann.

Zusätzlich rezeptiere ich eine physiotherapeutische Begleittherapie mit der Diagnose „Schwere CMD mit HWS-Beteiligung“ (12 x MT, 12 x Wärme), um die Haltung zu überprüfen (aufsteigende und absteigende Ketten) und ein Heimprogramm mit zwei bis drei Entspannungsübungen zu entwickeln. Falls Herr Kullmann nach der Physiotherapie bei aufrechter Kopf-Körper-Haltung subjektiv „anders zusammenbeißt“, soll er jeweils direkt im Anschluss ohne zusammenzubeißen zu mir kommen, damit ich die Schienen entsprechend korrigieren kann. Sind die Verhältnisse stabil, ist zu überlegen, mittels einer instrumentellen Funktionsanalyse (Arti-kulator) ([Abb. 3, S. 33]) den Schlussbiss definitiv einzustellen.

Zoom Image

Abb. 3 Okklusion: Elmar Ludwig kann den Schlussbiss (links) im Modell simulieren (Mitte und rechts) und so die Korrektur vorab überprüfen. (Fotos: E. Ludwig)

Die medikamentöse Begleittherapie mit Ibuprofen ist bei stärkeren Schmerzen durchaus hilfreich. Auch Biofeedback könnte ergänzend noch eingesetzt werden.

#

Erwartungen

Stressbedingte Myopathien sind mit Aufklärung, Physiotherapie, Schienen und der kurzfristigen Gabe von Schmerzmitteln meistens sehr gut zu therapieren. Ihre Lebensverhältnisse zu verändern, ist für die meisten Patienten in der Regel schwer zu realisieren, man sollte sie jedoch darauf hinweisen. Bei anhaltenden Beschwerden sollten augenärztliche oder neurologische Konsile helfen, andere Erkrankungen auszuschließen: paradoxes Tränen, idiopathischer Tic, Magnesiummangel, Verschlechterung der Sehkraft, ein Tumor im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels etc.

Elmar Ludwig

#

4. Cranio Facial Therapy Academy (Crafta)

4. Cranio Facial Therapy Academy (Crafta)
Zoom Image

Roald Luning ist Physiotherapeut und Manualtherapeut (OMT) und arbeitet seit 20 Jahren in einer Praxis in den Niederlanden. Er ist klinischer Supervisor für die Physiotherapie-und Manuelle-Therapie-Ausbildung sowie Dozent der Crafta.

Die Crafta bildet Therapeuten auf der Grundlage von Evidence-based Practice in der Behandlung von Patienten mit kraniomandi-bulären und -fazialen Beschwerden aus. Zu Roald Luning kommen vor allem Patienten mit Kopf-, Hals- und Nackensymptomen.

#

Spontane Hypothese

Stefan Kullmanns Muster lässt im ersten Moment ein stressbezogenes Problem vermuten. Ich überlege mir, welche Regionen seine Beschwerden auslösen könnten:

  • > Die kraniomandibuläre Region: Es könnte eine arthrogene-myogene CMD vorliegen, vielleicht eine okklusale Dysfunktion.

  • > Die kraniofaziale Region: Auch das Kranium kann solche Symptome auslösen.

  • > Die kraniozervikale Region und die kranioneurale Region: Es könnte sich um Projektionsschmerzen aus der HWS handeln. Es gibt eine neurophysiologische Verbindung über die zervikotrige-minalen Kerne mit dem N. trigeminus und N. fazialis, welche die Stirnregion, die Augen und die mimischen Muskeln innervieren („Tic“). Auch eine beginnende sensorische Störung des N. ophthalmicus kann reflektorisch einen motorischen Ast des N. fazialis irritieren und dadurch den Tic im M. orbicularis occuli auslösen.

Zudem sind die Schmerzmechanismen wichtig: Stefans kognitive und emotionale Situation (Leistungsdruck), die bilateralen Symptome und die praktisch konstanten Beschwerden lassen einen Schmerzmechanismus auf der Verarbeitungsebene vermuten. Der Tic, das Ausstrahlungsgebiet und das Ziehen im Auge weisen eventuell auch auf afferente peripher neurogene Faktoren hin, doch Traumata und Systemerkrankungen könnten diesen Symptomen ebenso zugrunde liegen. Auch das efferente System könnte verantwortlich sein: Offenbar leidet Stefan an Parafunktionen wie Bruxismus oder Pressen, der Tic könnte eventuell psychogen sein. Diese Symptome könnten eine neuroendokrinologische Reaktion auf den Stress sein.

Die Ätiologie des Bruxismus ist in der Wissenschaft unklar. Stress wird oft genannt, doch eine Korrelation ist nicht nachgewiesen. Zurzeit wird häufig ein veränderter Schlafrhythmus mit Bru-xismus in Verbindung gebracht [9]. Auch okklusale Dysfunktionen, kraniozervikale, faziale und mandibuläre Dysfunktionen sowie kognitive und emotionale Einflüsse und Umgebungsfaktoren gelten als Ursachen [9, 14]. Die Folge können motorische Dysfunktionen sein, die wiederum morphologische Adaptationen des neuro-muskuloskeletalen Gewebes sowie kraniomandibuläre Dysfunktionen und Schmerzen nach sich ziehen können [9, 12]. Es können sich muskuläre Triggerpunkte bilden [13]. Triggerpunkte in den Mm. masseter, temporalis und sternocleidomastoideus projizieren häufig Schmerzen in den Stirn- und Schläfenbereich.

Stefans Ziehen im linken Auge, der Tic und ein Hartspann der Muskulatur sowie die Kopfschmerzen, die Konzentrationsschwächen und das häufige Aufwachen können aber auch auf Red Flags hinweisen: Tics beispielsweise treten manchmal auch bei intra-kraniellen Tumoren oder vaskulären Fehlbildungen auf [7, 8, 10, 11]. Daher muss ich auch neurologische und neurodynamische Tests wie die aktive und passive Nackenflexion durchführen [12].

#

Ergänzende Anamnese

  • > Kraniomandibuläre Region: Hat Stefan Dysfunktionen im Kiefergelenk, zum Beispiel Blockierungen? Gibt es eine Okklusions-störung, die mit den Symptomen zusammenhängt? Fühlt sich seine Kaumuskulatur angespannt oder ermüdet an?

  • > Kraniofaziale Region: Beeinflussen Druckänderungen auf seinem Schädel die Symptome?

  • > Kraniozervikale / kranioneurale Region: Lösen Kopfhaltungen oder Nackenbewegungen die Symptome aus? Steigern diese sich unabhängig von stressigen Situationen und Zeit? Hat Stefan weitere neurologische Beschwerden? Hat er wirklich nie ein Trauma gehabt? Hatte er eine Systemerkrankung oder Herpes Zoster?

Außerdem interessiert mich - aus psychosozialer Sicht -, ob Stefans Symptome vielleicht mit seiner Arbeit zusammenhängen.

#

Untersuchung

Stefans Schmerzen an Stirn, Schläfen und Wangen treten vorwiegend morgens auf. Dass er außerdem Schlafstörungen hat und sich nicht bewusst ist, dass er knirscht, passt zum klinischen Muster eines Bruxismus. Dass die Beschwerden auch zusehends tagsüber anhalten und zudem beidseits auftreten, deutet aber eher auf Pressverhalten als auf einen Bruxismus hin. Ich gebe Stefan ein Schmerztagebuch, um feststellen zu können, ob Arbeitsstress und Symptome zusammenhängen. Anschließend mache ich eine neurologische Untersuchung (Kieferreflex, Blinkreflex und Kennmuskeltests). Sie ist unauffällig. Danach prüfe ich die einzelnen Regionen:

  • > Kraniomandibuläre Region: Normale Okklusion mit leichten Abrasionen. Das könnte auf Bruxismus hinweisen. Die Mundöffnung ist eingeschränkt und zieht in der Kaumuskulatur. Ich finde Triggerpunkte in den Mm. masseter und temporalis. Durch Druck darauf kann ich die bekannten Schmerzen auslösen, der linke Masseter zuckt leicht nach. Eine solche Exzitation ist möglicherweise ein Zeichen für eine neurologische Problematik oder eine veränderte zentrale Verarbeitung. Die Dehnung der Masseter [12] ist steif und löst Schmerzen in der Stirn aus. Hinweise auf eine intraartikuläre Störung des Kiefergelenks finde ich nicht.

  • > Kraniofaziale Region: Mobilitätstests für das Kranium [12] zeigen einen erhöhten Widerstand und lösen das Ziehen im linken Auge aus. Die Steifigkeit ändert sich beim Test nicht, was für einen intrakraniellen raumfordernden Prozess sprechen könnte [6].

  • > Kraniofaziale / kranioneurale Region: Um die Mechanosensitivität und Beweglichkeit des kranialen Nervensystems und die Reaktionen im Zielgewebe zu testen, beurteile ich zuerst die hochzervikale Nackenflexion (NF) ([Abb. 4, S. 34]) [12]. Dabei bewegt sich der Hirnstamm [2, 3, 4], wodurch die Hirnnerven zusätzlich auf Spannung kommen. Die NF ist steif. Bei einer zusätzlichen Seitneigung nach rechts zuckt Stefans linke Augenbraue.

Zoom Image

Abb. 4 Hochzervikale Nackenflexion: Mit dieser Technik bewegt Roald Luning den Hirnstamm, wodurch die Hirnnerven auf Spannung kommen. (Fotos: R. Luning)

#

Ausgewählte Therapiemaßnahmen

Ich erkläre Stefan die Befunde und betone, dass bei ihm die Selbstbetreuung sehr wichtig ist. Dafür möchte ich unter anderem das verhaltenstherapeutische Habit Reversal Training [1, 5] und Eigenübungen nutzen. Danach behandle ich die Triggerpunkte im Masseter und Temporalis und gebe Stefan entsprechende Dehnungsübungen. Er reagiert positiv. Beim nächsten Mal kommt er mit Kopfschmerzen. Ich mobilisiere Okziput und Sphenoid, wodurch die Kopfschmerzen und das Ziehen im Auge nachlassen. Der Widerstand der Schädelknochen bleibt jedoch gleich. Beim dritten Besuch erzählt Stefan, das Zucken am Auge habe zugenommen. Als ich den Blinkreflex auslöse, merke ich, dass der M. orbicularis oculi eine anhaltende, erhöhte Reaktion gibt. Nackenflexion kombiniert mit Lateralflexion rechts löst direkt seinen Tic aus. Da das alles auf ein neurologisches Muster hinweist, schicke ich Stefan zum Neurologen.

#

Erwartungen

Ich habe den Verdacht, dass Stefan einen erhöhten Druck im Schädel hat, der den N. fazialis in der hinteren Schädelgrube beeinträchtigt. Dieser Druck kann durch einen intrakraniellen, raumfordernden Prozess oder durch eine abnorme Gefäßschlinge entstehen, das Bindegewebe des N. fazialis irritieren und dadurch die Schmerzen auslösen. Auch Systemerkrankungen wie Multiple Sklerose oder Herpes Zoster können diese Folgen haben.

Roald Luning

Zoom Image

Gert Groot Landeweer arbeitet als selbstständiger Physiotherapeut in seiner Privatpraxis in Gundelfingen bei Freiburg. Er ist Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter des Upledger Instituts Deutschland, hat verschiedene Konzepte wie das „CranioMandibular Concept“, das „Fascial Balancing“ und die „Holistic Integration“ entwickelt und zwei Bücher geschrieben.

Zoom Image

Abb. 1 Frontookzipitale Kompression: Dies ist für Gert Groot Landeweer eine Möglichkeit, die Knochenverbindungen des Hirnschädels zu mobilisieren. (Fotos: G. Groot Landeweer)

Zoom Image

Alexander Gürtler ist seit 1995 Physiotherapeut und arbeitet seit 1997 in der Hirslanden Klinik Birshof in Münchenstein bei Basel. Er ist Triggerpunkt-Instruktor der Interessengemeinschaft für myofasziale Triggerpunkt-Therapie (IMTT).

Zoom Image

Abb. 2 Enorale Behandlung: Alexander Gürtler therapiert einen muskulären Triggerpunkt im M. masseter. (Fotos: A. Gürtler)

Zoom Image

Dr. Elmar Ludwig arbeitet als niedergelassener Zahnarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Ulm. Er ist zudem im überregionalen Schmerzzentrum Ulm aktiv und arbeitet als Konsiliarzahnarzt im dortigen Universitätsklinikum. Von 2000-2008 war er Mitarbeiter der Abteilung für Zahnärztliche Prothetik am Universitätsklinikum Ulm.

Zoom Image

Abb. 3 Okklusion: Elmar Ludwig kann den Schlussbiss (links) im Modell simulieren (Mitte und rechts) und so die Korrektur vorab überprüfen. (Fotos: E. Ludwig)

Zoom Image

Roald Luning ist Physiotherapeut und Manualtherapeut (OMT) und arbeitet seit 20 Jahren in einer Praxis in den Niederlanden. Er ist klinischer Supervisor für die Physiotherapie-und Manuelle-Therapie-Ausbildung sowie Dozent der Crafta.

Zoom Image

Abb. 4 Hochzervikale Nackenflexion: Mit dieser Technik bewegt Roald Luning den Hirnstamm, wodurch die Hirnnerven auf Spannung kommen. (Fotos: R. Luning)