Der Klinikarzt 2011; 40(09): 390-392
DOI: 10.1055/s-0031-1287741
Medizin & Management
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eHealth in Europa

Grenzüberschreitende Interoperabilität gefordert
Petra Spielberg
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Petra Spielberg
Fachjournalistin für Gesundheits- und Sozialpolitik Wiesbaden/Brüssel
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Publication Date:
23 September 2011 (online)

 
 

Die Gesundheitssysteme der 27 EU-Staaten sind in wachsendem Maße auf den Einsatz von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) angewiesen. Wesentliche Gründe hierfür sind die zunehmende Überalterung der EU-Bevölkerung, die steigende Zahl chronischer kranker Patienten, der Mangel an Fachpersonal und die in allen EU-Staaten vorherrschende Mittelknappheit. Grenzüberschreitende Ansätze sind bislang eine Seltenheit. Die Europäische Kommission will die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der IKT fördern und Patienten und Gesundheitsdienstleistern somit den Zugang zu Innovationen im Gesundheitswesen erleichtern.

Das elektronische Gesundheitswesen kann die Beziehung zwischen Arzt und Patient nicht ersetzen, aber es stecken phantastische Möglichkeiten darin. Diese Botschaft verkündete Miklós Réthelyi, Ungarns Minister für nationale Ressourcen, auf der internationalen Konferenz "eHealth Week” der 27 EU-Gesundheitsminister Anfang Mai in Budapest. Ungarn hatte im ersten Halbjahr 2011 die europäische Ratspräsidentschaft inne. Einen Schwerpunkt auf der politischen Agenda bildete das Thema elektronische Vernetzung im Gesundheitswesen (eHealth).

eHealth soll Kostenanstieg im Gesundheitswesen bremsen

Das Thema eHealth spielt auf europäischer Ebene bereits seit über 20 Jahren eine wichtige Rolle. Die EU investiert seither zum Beispiel in zahlreiche Forschungsansätze. Derzeit unterstützt die EU-Kommission über 450 Projekte und will dafür in den nächsten 20 Jahren mehr als 1,2 Milliarden Euro aufwenden.

Die Europäische Kommission hat in den zurückliegenden 7 Jahren zudem auch politisch die Initiative ergriffen und Strategiepapiere und Empfehlungen zur Förderung einer breit angelegten, europaweiten Einführung von eHealth-Technologien ausgearbeitet. Zu den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), von denen sich die Brüsseler Behörde Fortschritte bei der medizinischen Versorgung verspricht, zählen vor allem Systeme zur Ferndiagnose oder telemedizinische Überwachung, elektronische Patientenakten und Anwendungen des so genannten Ambient Assisted Living, die kranken und älteren Menschen zu mehr Autonomie und Unabhängigkeit verhelfen sollen.

Derzeit sieht sich die EU vorrangig mit der Herausforderung konfrontiert, wie sich die Interoperabilität der elektronischen Gesundheitsdienste zwischen den 27 Mitgliedstaaten gewährleisten lässt. Ein wesentlicher Grund für die Anstrengungen, die die EU auf diesem Gebiet unternimmt, ist die gestiegene Mobilität von Arbeitnehmern, Rentnern, Studenten und Touristen innerhalb des europäischen Binnenmarkts. Hinzu kommen die zunehmende Überalterung der europäischen Bürger, die steigende Zahl chronisch kranker Menschen und der damit einhergehende Kostenanstieg bei den Systemen der sozialen Sicherung.

"Das elektronische Gesundheitswesen kann auf lange Sicht bei der Lösung der Probleme helfen. Dazu muss jedoch ein entsprechendes Umfeld geschaffen werden", machte John Dalli, EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz, in Budapest deutlich.


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Uneinigkeit der EU-Staaten verhindern Vernetzung

Nach Meinung des Kommissars lohnt es sich, in neue, innovative Technologien zu investieren. Zugleich gelte es, Erfahrungen über Grenzen hinweg auszutauschen. Von der Ende Februar verabschiedeten EU-Richtlinie, die die Rechte der Patienten bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von medizinischen Diensten stärken soll, erhofft sich Dalli einen Schub in diese Richtung. Die Direktive sieht unter anderem die freiwillige Bildung eines eHealth-Gremiums auf der Ebene der EU-Gesundheits- und Sozialminister vor. Auch sollen die Mitgliedstaaten künftig enger zusammenarbeiten, um die Interoperabilität der IKT im Gesundheitswesen voranzutreiben.

Die mangelnden Vernetzungsmöglichkeiten bilden nach wie vor eines der größten Probleme im eHealth-Bereich. Dabei spielen weniger technische Gründe eine Rolle als vielmehr die Tatsache, dass sich einige EU-Staaten unter Verweise auf das Subsidiaritätsprinzip einer Harmonisierung in diesem Bereich kategorisch widersetzen.

Dies hat zur Folge, dass die derzeit erprobten beziehungsweise eingeführten Anwendungen in die unterschiedlichsten Richtungen gehen. Großbritannien beispielsweise lässt Gesundheitsaufzeichnungen über jeden Bürger seit Jahrzehnten in Papierform bei den praktischen Ärzten sammeln und arbeitet derzeit an der Digitalisierung der Daten. In Schweden werden dagegen heute schon 85 % aller Rezepte elektronisch an die Apotheken übermittelt. Österreich und Deutschland wiederum sind gerade dabei E-Card-Systeme einzuführen, um wichtige Patientendaten zu vernetzen.

Gänzlich unterschiedlich handhaben die EU-Staaten auch die Frage, ob die Patienten bei der Einführung von elektronischen Gesundheitsakten über ihre Teilnahme selbst entscheiden dürfen oder ob sie dazu verpflichtet werden sollen. So dürfen die Patienten in Belgien, Italien, Frankreich oder Spanien hierüber mitbestimmen. In Estland, Polen, der Slowakei oder Schweden werden sie automatisch registriert. Andere Länder, wie Österreich, diskutieren zurzeit noch die gesetzlichen Grundlagen.

Ungelöst sind bislang auch zahlreiche Fragen zum Datenschutz sowohl bei der einzelstaatlichen als auch bei der grenzüberschreitenden Anwendung von IKT in der medizinischen Versorgung. Interessenvertretungen aus dem Gesundheitswesen warnen zum Beispiel davor, dass ein steigender Transfer von Gesundheitsdaten bei einer möglichen Zunahme grenzüberschreitender Behandlungen die nicht unwesentliche Gefahr eines Datenmissbrauchs in sich birgt. Denn in den einzelnen EU-Staaten gibt es ein sehr unterschiedliches Bewusstsein für den Umgang mit den Daten.

Der Ständige Ausschuss der Europäischen Ärzte (CPME) fordert daher, dass die Patienten sicher sein müssten, dass ihre vertraulichen Daten nur von medizinischem Personal eingesehen werden können. Für eine erweiterte Verwendung ihrer Daten sollten die Patienten grundsätzlich ihre ausdrückliche Zustimmung erteilen, so der CPME.


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Einführung telemedizinischer Gesundheitsdienste EU-weit geplant

Für Dalli ist eine engere Vernetzung auf dem Gebiet der elektronischen Gesundheitsmedien indes ein Stück gelebtes Europa. "Elektronische Instrumente für das Gesundheitswesen können nach meiner Überzeugung eine bessere, effizientere und nachhaltigere medizinische Versorgung für mehr Menschen ermöglichen. Innovative Instrumente für die systematische Behandlung chronischer Krankheiten und die Nutzung der Telemedizin zur Abfederung des Personalmangels im Gesundheitswesen sind Beispiele für den enormen Zusatznutzen der IKT auf diesem Gebiet." Radiologen aus Spanien könnten beispielsweise den in Schweden vorherrschenden Mangel an Ärzten dieser Fachrichtung durch Telekonsultationen ausgleichen ohne dass sie dafür nach Schweden gehen müssten, macht der Kommissar deutlich.

Dalli weiß zugleich um die Probleme und die Herausforderung, der sich die Beschäftigten im Gesundheitswesen bei einer verstärkten Anwendung von eHealth-Lösungen ausgesetzt sehen, da dies auch eine Umstellung der Arbeitsabläufe mit sich bringt. "Wir wollen mit den neuen Lösungen nicht die Arbeit der Menschen überflüssig machen, sondern sie in die Entwicklungen mit einbeziehen", unterstrich der Kommissar in Budapest.

Die EU-Kommission hegt derweil ehrgeizige Pläne, um eHealth-Technologien möglichst bald möglichst allen zugänglich zu machen. Die für die digitale Agenda zuständige Abteilung, die Generaldirektion Informationsgesellschaft und Medien (GD INFSO), strebt an, dass sich die Mitgliedstaaten alsbald auf einen gemeinsamen Mindestsatz von Patientendaten einigen, um ab 2012 die Interoperabilität beim Zugang und grenzüberschreitenden elektronischen Austausch von Patientenakten sicherstellen zu können. Bis 2015 sollen außerdem alle europäischen Bürger einen sicheren online-Zugang zu ihren Gesundheitsdaten erhalten. Eine breite Einführung telemedizinischer Dienstleistungen in der EU soll bis 2020 erfolgen.

Wesentliche Grundlage für die Maßnahmen wird ein neues Strategiepapier sein, der so genannte eHealth-Aktionsplan, den die GD INFSO noch bis Ende dieses Jahres vorlegen will. Eine hochrangige Beratergruppe, die sich aus Angehörigen der Gesundheitsberufe, Vertretern von Patientenverbänden, der medizinischen, pharmazeutischen und der IKT-Industrie sowie Juristen und politischen Entscheidungsträgern zusammensetzt, soll die EU-Kommission dabei beraten, inwieweit der Gesundheitssektor von einem gezielten Einsatz elektronischer Gesundheitsdienste profitieren kann.


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Erhebliche Kosteneinsparungen durch Telemedizin

In Budapest verwiesen Vertreter der Industrie zudem auf das ökonomische Potenzial der eHealth-Technologien. "Hier bildet sich ein vollständig neuer Markt mit neuen Geschäften und neuen Arbeitsstellen heraus, auf dem Europa wahrhaft weltweit führend sein kann", so Stephen Lieber, Vorsitzender der Healthcare Information and Management Systems Society. Der europäische eHealth-Markt wird derzeit auf etwa 15 Milliarden Euro geschätzt. Die jährliche Wachstumsrate beträgt 2,9 %.

Beispiele wie das dänische eHealth-Netzwerk zeigten ferner, dass IKT zu enormen Kosteneinsparungen führen könnten, so die für digitale Themen zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission, Nellie Kroes. Das seit 2008 existierende Datennetzwerk, an dem Patienten, Allgemeinärzte und Sozialarbeiter teilnehmen, habe dem dänischen Gesundheitswesen bereits Einsparungen von 1,4 Milliarden Euro beschert, berichtete Kroes in Budapest.

Home Telemonitoring Systeme können einer aktuellen Studie für Deutschland, die Niederlande und Großbritannien zufolge überdies die Überlebensrate der Patienten um 15 % steigern und die Zahl der Krankenhauseinweisungen senken. Wie viele Millionen oder Milliarden Euro an Gesundheitskosten derartige Anwendungen letztlich aber tatsächlich einsparen helfen, lässt sich bislang nicht seriös festmachen. Profitieren dürfte davon aber auf jeden Fall die Industrie.


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